Essenzen

Akkorde auf Chyprefond

Die Duftkolumne Von Claus Brunner
18.01.2021. In letzter Zeit begegne ich immer wieder Düften, die ganz bewusst musikalische Bezüge herstellen, indem sie entweder von einem ganz speziellen Song oder einer Arie inspiriert wurden, manche wieder einem musikalischen Genre, oder einer bestimmten Künstlerin huldigen möchten. Ohren und Nase? Es gibt eine Menge Düfte, die die synästhetische Brücke schlagen.
Was verbindet Musik und Duft? Nicht viel, könnte man meinen, sprechen sie doch unterschiedliche Sinne an: die Fähigkeit zu Riechen, und die Fähigkeit zu Hören. Andererseits wissen wir aus leidlicher Erfahrung: Ist der Geruchsinn beeinträchtigt, schmeckt alles fad. Aber Ohren und Nase?

Interessanterweise arbeiten Parfümeurinnen und Parfümeure an einer sogenannten Duftorgel, bedienen sich bestimmter Noten um Parfums zu komponieren. Versuche ich für diese dann passende Worte zu finden, verwende auch ich gerne der Musikwelt entlehnte Begriffe. Schreibe beispielsweise der Tuberose eine Fanfarenhaftigkeit zu, die hell und laut über dem Orchester strahle, so als handle es sich nicht um den Duft einer weißen Blüte, sondern um den triumphierend durchdringenden Klang einer Trompete. Dunklere, balsamische und harzige Noten vergleiche ich dagegen mit dem warmen, verhangenen Klang der Celli, während mir für Hölzer, Patschuli und Moose die tiefen Register der Bläser und Streicher vorschweben.

Mit Hilfe musikalischer Begriffe komme ich sprachlich einem Duft einfacher bei. Auch Farben, oder die Beschaffenheit bestimmter Stoffe, wie Wolle, Seide oder Leinen, eignen sich gut. Um das Noten-Wirrwarr eines Parfums aufzudröseln, Strukturen und Bezüge offenzulegen, Themen zu beschreiben oder Duftverläufe zu charakterisieren, liegen mir Analogien zur Musik jedoch am nächsten.

In letzter Zeit begegne ich immer wieder Düften, die ganz bewusst musikalische Bezüge herstellen, indem sie entweder von einem ganz speziellen Song oder einer Arie inspiriert wurden, manche wieder einem musikalischen Genre, oder einer bestimmten Künstlerin huldigen möchten.

"Tempo Rubato" beispielsweise, ein neuer Duft des Amerikaners Shawn Maher, ist von Billie Holiday, ihrer unnachahmlichen Phrasierungskunst und ihrem musikalischem Timing, dem sogenannten "Laid-back" inspiriert. "Laid Back" bezeichnet das leicht verzögerten Einsetzen der Liedstimme, das dem Vortrag seine typische Lässigkeit und Coolness verleiht (auch Sinatra war darin ein Meister). "Tempo Rubato" - geraubte Zeit - nannte die Klassik ein solches, musikalische Spannung erzeugendes Verfahren. Wolfgang Amadeus Mozart hat es gerne und häufig angewendet. Shawn Maher soll dieses nicht synchrone Einsetzen der Lied- und Begleitstimme auf seinen Duft übertragen, und beim Kalibrieren der Noten angewendet haben. Ich schreibe bewusst "soll", da ich den Duft leider nicht kenne. Noch nicht.

Ich war drauf und dran ihn mir aus den USA schicken zu lassen, da ich zum einen Maher sehr schätze, zum anderen ein großer Fan von Billie Holiday bin, sodass eigentlich nichts schiefgehen sollte. Aber Shipping-Costs von über 70 Dollar haben mich schließlich vom Kauf abgehalten. Nun warte ich lieber, bis ein kleiner spanischer Nischenduft-Versand aus Malaga, der sich "Ecuacion Natural" nennt, und der sich genau dieser raren Schätze verschrieben hat, eines Tages vielleicht Mahers Kreationen führen wird.

Ein anderer Duft aber, der auch vom Jazz inspiriert wurde, ist mir vertraut: Annette Neuffers "Hepster". Hepster, auch Hep-Cats genannt, waren Harlems jazzende Cool-Guys-n-Gals der 40er und 50er Jahre, die nicht nur das "Laid-back" kannten, sondern obendrein einen ganz eigenen Slang entwickelten, den sogenannten "Harlem Jive", den der damals bekannte Sänger und Bandleader Cab Calloway in seinem "Cab Calloway's Catologue: A Hepster's Dictionary" festhielt.

Zur Illustration ihres Duftes "Hepster" wählte die Parfumeurin, die selbst eine erfolgreiche Jazztrompeterin (mehr hier) ist, ein Foto des Jazz-Saxophonisten Dexter Gordon, in lässig-schickem Anzug gekleidet, das Instrument auf den Knien, darauf seine Linke mit einer Zigarette ruhend, effektvoll den Rauch in einen Lichtkegel blasend. Maximal cool, genau wie Frau Neuffers Duft: ein wunderbarer, würzig-floraler, rauchig-aromatischer, grüner und holziger Chypre-Duft, mit schöner Tiefe und kühler Aura. Nicht kühl im Sinne von kalt, nein: cool.

Was Annette Neuffer überzeugend umgesetzt hat, ist Filippo Sorcinelli mit "Quando rapita in estasi" leider misslungen. Inspiriert wurde der Duft von Maria Callas und ihrer berühmten Interpretation von Donizettis "Lucia di Lammermoor". Ich verehre Maria Callas und kenne ihre Lucia recht gut, aber weder vermag mir Sorcinellis Duft geruchlich den typischen Klang ihrer Stimme wiederzugeben, noch entdecke ich in ihm auch nur ein Fünkchen der Leidenschaft und des irrlichternden Furors, die sich in dieser Partie offenbaren. Nichts.

"Quando rapita in estasi" ist ein sonorer (auch ein musikalischer Begriff!), ziemlich eindimensionaler, seifiger Barbershop-Duft, mit einer für den Papstroben-Schneider typischen Überdosis Weihrauch. Er riecht schlicht nach Rasierschaum, angereichert mit dem bekannten Aroma des Räucherharzes. Was das mit Callas und der Wahnsinnsarie aus Donizettis Oper zu tun hat - ich weiß es nicht. "Estasi", also Ekstase, stelle ich mir jedenfalls hitziger, leidenschaftlicher duftend vor. Vermutlich würde Lucia den Flakon an Edgardo weiterreichen.

Kürzlich habe ich allerdings einen Duft mit musikalischem Bezug entdeckt, der mich wieder überzeugt hat: "Fado Jasmim" von Miguel Matos. Matos ist ein junger portugiesischer Parfümeur, der sich auch als Kolumnist für Fragrantica.com einen Namen gemacht hat. Mit seinen Kreationen mischt er seit einiger Zeit die Parfumszene auf. Sein Heimatland, und vor allem seine Heimatstadt Lissabon, sind für ihn immer wieder Quelle der Inspiration. Die Entwicklung von "Fado Jasmim" verfolgte er mit viel Leidenschaft und Herzblut, und ich finde, das riecht man. Ein berauschender Duft, der alles beinhaltet, was diese charaktervolle Musik auszeichnet: Sinnlichkeit, wunderbare Rhythmen und vor allem tief empfundene "Saudade", jene spezifisch portugiesische Form des Weltschmerzes - eine sanfte, alles durchdringende Melancholie.

Amalia Rodrigues, der wohl berühmtesten Fado-Protagonistin, hat Miguel Matos diesen Duft gewidmet. Vielleicht hätte sie ihn mit Freude und Stolz getragen. Vielleicht, denn "Fado Jasmim" ist kein leichtes und gefälliges Werk. Es ist ein typischer Matos-Duft. Seine Vorliebe für weiße Blüten, die reich an delikaten (manche würden sagen: aasigen) Indolen sind, mit reifen, saftigen Früchten zu kombinieren, und diese Akkorde auf einen bitteren Chyprefond zu betten, der nicht selten mit derber Animalik angereichert ist, setzt er hier ungehemmt in Szene.

Das muss man aushalten können, und wer ein empfindliches Näschen hat, kapituliert schnell. Mir aber gefällt dieser wilde Ritt und ich finde, er passt zu dieser wunderbaren Musik. Unbedingt sollte man aber Jasmin mögen, denn der typische Geruch dieser Blüte prägt den gesamten Duftverlauf. Alle weiteren Akteure, selbst die Tuberose, aber auch Früchte, die den brasilianischen Einfluss auf den Fado symbolisieren, wie Passionsfrucht, Banane, Pflaume, Pfirsich, bis hin zur Kokosnuss in den Tiefen des Fonds, sie alle halten sich dezent zurück, akzentuieren lediglich das ohnehin schon reiche Duftspektrum des Jasmins.  

Amalia Rodrigues' Oboen-artig warmes Stimmtimbre findet hier eine überzeugende duftende Entsprechung, während Matos zugleich die moll-getönte Saudade des Fado-Orchesters in einen satten, wehmütig machenden Chypre-Sound transponiert. Wehmütig deshalb, weil man eine solche Mixtur sinnlicher Blüten, lukullischer Früchte und erotischer Animalik in der melancholischen Stimmung eines dunkel-moosigen Chypre-Konzeptes lange nicht mehr gehört, pardon: gerochen hat.

"For me flowers with fruits and animalics represent life, lust, sex, and death", schreibt der Parfümeur, gibt aber auch zu: "this is not an easy scent, I can admit, but it's an impactful one." Oh ja, "impactful" ist er: noch nach Tagen verströmen die Klamotten einen süchtigmachenden, fruchtig-animalischen Jasminakkord.

Vor zwei Jahren hat Bruno Acampora Matos angeheuert, der das Portfolio des neapolitanischen Traditionshauses in Windeseile mit sieben spannenden Düften entstaubt hat, die allesamt vom legendären New-Yorker Club 54 inspiriert wurden. Von "Moschus-Wummern", "Aldehyd-Glitter", "Trockeneis-Weihrauch" ist in den Kommentaren zu "Freak Chic", "Relight my Fire" und "Keep on Dancing" die Rede. Ausgelassener Hedonismus und pulsierender Dancefloor-Groove zu aufregenden Extraits destilliert - das macht Laune, törnt besser an als Koks, und das Tanzbein beginnt zu zucken.

Vor wenigen Wochen erst ließ es sich Miguel Matos nicht nehmen, den neuen Duft seines italienischen Kollegen Antonio Gardoni auf Fragrantica.com zu annoncieren: "LiTA". Kein Duft ist in Sachen Musik-Symbiose bisher so weit gegangen. Gardoni entwickelte ihn mit dem Sänger der britischen Band "The Kooks", Luke Pritchard, und dessen Ehefrau Ellie Rose, um deren neues Album "DUO" olfaktorisch zu begleiten. Schon der Name "LiTA" bezieht sich auf einen der Tracks: "Love in the Afternoon".

"Using Duo's music for inspiration, I wanted to produce something that echoed their dark, smokey, lustful sound", erzählt der Parfümeur aus Brescia. Hats off! - das ist ihm gelungen. Wobei ich sagen muss, dass ich seinen Duft tatsächlich "dark, smokey and lustful" finde, die Musik dagegen eher heiter, mit melancholischen Anflügen. Aber gut, ich habe vermutlich Amalia Rodrigues' Fado noch im Ohr, da klingt von Serge Gainsbourg inspirierter Retro-Chanson-Pop nicht gar so dringlich.

Wer sich die Vinyl-Ausgabe des Albums zulegt, der wird nun tatsächlich von Antonio Gardonis Duft überrascht, denn die Cover wurden zuvor mit "LiTA" parfümiert. Eine Duft-Ouvertüre die auf den eigentlichen Hörgenuss einstimmt - kann man sinnfälliger demonstrieren, dass Hören und Riechen überraschend eng miteinander verflochtene Sinne sind? Dass Töne auch duften, und Düfte auch klingen?

Was uns wohl in dieser Richtung noch erwartet? Ein kleines italienisches Label, das sich bezeichnenderweise "V Canto" nennt, hat 2020 schon mal einen Duft namens "Isotta" lanciert. Fehlt nur noch "Tristano" und wir hätten das wohl berühmteste Wagner-Paar vereint.  Nicht auszudenken, wie pathetisch und salbungsvoll es da wohl duften dürfte...
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