Wo wir nicht sind

Gesang der Sehnsucht

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
27.12.2022. Anuk Arudpragasam erzählt in seinem meditativen Roman "Nach Norden" von Liebe und Verlust, Trauer und Schmerz. Der Härte und Grausamkeit des Bürgerkrieges in Sri Lanka setzte er konsequent die Sanftheit der Gedanken und Gefühle entgegen.
In seinem Roman "Nach Norden" zitiert Anuk Arudpragasam ein wunderbares Sanskrit-Gedicht aus dem 5. Jahrhundert über die Sehnsucht: "Der Wolkenbote" erzählt von einem Yaksha, einem Halbgott, der gegenüber dem Gott des Wohlstands seine Pflichten vernachlässigte und deswegen von den Vorläufern des Himalayas nach Süden verbannt wird. Monatelang wandert der Yaksha durch Indiens Landschaften, was im Gedicht nur fünf Verse ausmacht, bis der Monsun von Süden her eine erste Wolke vorausschickt, die der Yaksha bittet, seiner geliebten Frau eine Botschaft zu übermitteln. In den folgenden hundert Strophen erklärt der Yaksha der Wolke den Weg in seine nördliche Heimat. Er beschwört prächtige Städte mit ihren von Lotusblumen überwucherten Tempel, Kraniche an den Ufern des Vetravi-Flusses, Flamingoschwärme auf Rosenapfelwäldern und die mit Mangobäumen bedeckten Hänge des Vindhyagebirges. Auch gibt der Yaksha der Wolke auf, seiner Frau zu überbringen, wie sehr er sich nach ihr verzehre. Doch während die Wolke über das Land nach Norden zieht, verwandeln sich ihre Umrisse nach und nach - "bis sie sich schließlich geräuschlos in das Nichts des Horizonts auflöst wie Verlangen in Sehnsucht".

Arudpragasam vollzieht in seinem Roman eine ähnliche Bewegung, eine Wanderung von Norden nach Süden und voller Sehnsucht zurück, auch er erzählt von Schmerz und Erkenntnis, wenngleich weniger sinnlich und weniger romantisch. Sein Roman ist eher eine elegische Meditation. Er verbindet die Liebesgeschichte des jungen Krishan mit dem Bürgerkrieg, der Sri Lanka jahrzehntelang erschütterte, bis die singhalesische Armee die tamilische Separatistenbewegung durch Flächenbombardements vernichtete. Ein Krieg, der lange Zeit furchtbare Realität war und dann auf einmal aus den Nachrichten verschwand. Konsequent bleibt sein Erzählen dabei sanft und anmutig.

Krishan lebt mit seiner Mutter und seiner Großmutter in Colombo, eine tamilisch-hinduistische Familie inmitten der singhalesisch-buddhistischen Hauptstadt. Dort erreichen ihn zeitgleich zwei Nachrichten, eine von seiner Ex-Freundin Anjum, mit der er während seines Studiums in Delhi liiert war, und eine deutlich bedrückendere, die den Tod der alten Rani verkündet, der Pflegerin der Großmutter. Von Colombo aus macht sich Krishan auf die Reise in den tamilischen Norden, und während die Landschaft aus Reisfeldern und Palmyrapalmen an ihm vorbeigleitet, sinniert er in friedlicher Abgeschiedenheit über seine Liebe zu Anjum, Ranis Schicksal und den Bürgerkrieg in der Herkunftsregion seiner Familie, der so viele Leben kostete und beschädigte. Seine Gedanken gleiten in einem stetigen ruhigen Fluss dahin, sie sind reine Rückschau, ohne Dialoge und ohne szenische Beschreibungen, und nur selten geben Absätze dem Auge Halt.

Rani war eine einfache Frau aus dem Dorf, sie verlor in den letzten Tagen des Bürgerkrieges ihre beiden Söhne, die sie nicht einmal bestatten konnte. Der ältere fiel als Kämpfer der Tamil Tigers, der Jüngere kam bei einem Bombenangriff ums Leben. Mit großer Zärtlichkeit schreibt Arudpragasam über Rani, aber auch über die Großmutter, über das Altern, das ihnen Kraft und Schönheit raubte, über ihren Schmerz und ihre Trauer, "die ihre Sinne Tag und Nacht mit Leere bombardierte". Sie kommen einem deutlich näher als etwa Krishans verlorene Liebe Anjum, die als kühle queerfeministische Aktivistin intellektuelle Schärfe ausstrahlt, aber wenig literarische Tiefe erreicht, auch wenn man sich gern vorstellt, wie die beiden bekifft durchs nächtliche Delhi ziehen. Das Ausgelassene ist aber Arudpragasams Sache nicht.

Der 1988 in Colombo geborene Arudpragasam schreibt in einer feinen, gewählten Prosa, in deren Bedachtheit zuweilen ein recht schrilles Diskursvokabular hineindringt oder das sprachlich etwas spröde Werkzeug der klinischen Psychiatrie. Manches bleibt auch in der Figur des Krishan unerklärlich. Warum etwa wird er erst durch Ranis Tod zum Nachdenken über den Bürgerkrieg und seine traumatischen Folgen gebracht wird, wo doch bereits sein Vater bei einem Anschlag der Tamil Tiger ums Leben gekommen ist und er selbst mehrere Jahre für eine - nicht näher bezeichnete - NGO mit Opfern des Bürgerkriegs gearbeitet hat?

Dennoch folgt man seinen Gedanken gern, die den Horizont in einen ganz anderen Kosmos hinein erweitern und in denen sich tamilische-hinduistische Mythologie paart mit zeitgenössischen Reflexionen über Leid und Verlust, und die Frage, was dem Leben Transzendenz verleiht: Die Liebe oder das politische Engagement?

Besonders stark ist der dritte Teil des Romans "Feuer", in dem Krishans Reise ihren Höhe- und Schlusspunkt erreicht. Krishan ist in Ranis Heimatdorf angekommen, und während die Familie und die Nachbarn die ausgiebigen Riten der Bestattung zelebrieren, erinnert sich Krishan an die Kämpfe der verschiedenen tamilischen Unabhängigkeitsbewegungen: an die kultisch verehrten Separatistenführer Kuttimani, Tangathurai und Jegan, die ihren Kampf mit Überfällen auf Banken und Behörden finanzierten und dafür zum Tode verurteilt wurden, an die marxistischen Splittergruppen und natürlich an die Tamil Tigers, deren Härte und Grausamkeit die politischen Ziele verblassen ließen. Aber auch hier bleibt Arudpragasam diskret und nähert sich der Gewalt nur indirekt: Er schildert Krishans Erschütterung über die Dokumentation "My Daughter the Terrorist", in der die norwegische Filmemacherin Beate Arnestad zwei junge Tamilinnen porträtiert, die von der Spezialeinheit der Black Tigers zu Selbstmordattentäterinnen ausgebildet wurden.

Dabei erreicht der Roman hier neben der enormen Dichte auch eine bis dahin ungeahnte Sinnlichkeit. Unter Wehklagen, Trommeln und Gesängen von Schmerz und Wiedergeburt wird Ranis Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und mit ihm werden auch etliche von Krishans Illusionen zu Asche.

Anuk Arudpragasam: Nach Norden. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin 2022, 320 Seiten, 25 Euro. (Bestellen)