Essay

Das Gegenteil des Bilderrauschs

Von Thierry Chervel
13.11.2015. Fotobücher feiern eine ungeheure Konjunktur. Sie sind nicht fürs Gucken, was Vinyl fürs Hören ist, kein Retroformat, sondern geradezu eine Folge der Digitalisierung. Und gleichzeitig ein Gegenraum zum Netz. Notizen eines gefährdeten Betrachters.
Leider muss ich gestehen, dass ich ein Sammlergen habe. Man darf sich da nichts vormachen. Sammeln ist Sucht. Die Objekte der Sehnsucht sind austausch-, aber nicht immer stapelbar. Wein kann man austrinken. Aber skandinavisches Glas staubt zu. Und jetzt gefährden Fotobücher mein Budget und meinen Blick.

Damit bin ich auch ein Fashion Victim. Gerade sind Fotobücher ein wichtiger Teil der großen Messe Paris Photo Der Markt für Fotobücher explodiert seit einigen Jahren, und es ist ziemlich faszinierend, darüber nachzudenken, warum das so ist.


1.


Texte zur Kunst, Ausgabe 99: "Photography", Bestellen wohl am besten hier, auf der rudimentärden Website des avantgardistischen Instituts.

Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, der gerade ein Buch "Zur Sache des Buchs" publiziert hat, legt in der 99. Ausgabe der Texte zur Kunst einen sehr lesenswerten Essay zum Phänomen des Fotobuchs vor, eine "kontraintuitiv erscheinende Entwicklung", wie er sagt. Das Buch gehört zu jenen Medien, deren Tod seit einigen Jahren angesagt wird, ohne dass er eintritt. Aber angeknabbert ist das Ding schon: Sehr viel Text liest man heute digital. Sehr viele Bücher mag man zwar lesen wollen, aber man will sie nicht haben. Touristen nehmen sich ihre Lektüre auf dem Kindle mit in den Urlaub, sonst wird bei Easyjet Übergewicht fällig. Auch professionelle Leser lesen lieber Digital.

Aber in Fotobüchern sucht sich dieses Medium des physischen, durchzublätternden und betrachtenden Buchs einen neuen Sinn. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Fotobuch ist nicht Vinyl, nicht die Materialisierung einer Nostalgie nach alten Medien.

Die Konjunktur des Fotobuchs steht nicht im Gegensatz zu Digitalisierung und Internet, sondern ist geradezu eine Folge davon, schreibt Hagner: "Netzkultur, nicht als Konkurrenz, sondern als Ressource verstanden, ist das vielleicht wichtigste Stichwort für Fotobuchkultur." Das Netz ist zumal die Infrastruktur für eine weltweite Szene von Kleinverlagen und von Fotografen, die im Selbstverlag ihre Bücher in kleinsten Auflagen vertreiben. Das Netz ist auch der Ort, an dem sich Produzenten und Käufer verknüpfen. Man bestellt nicht selten beim Fotografen. Fotoblogs wie Kwerfeldein in Deutschland oder Colin Pantall's Blog in Großbritannien halten auf dem laufenden.

Natürlich sind diese Fotobücher nicht selten selbst Reflexionen über Digitalisierung und Bilderflut: "Das Buch stellt einen Gegenraum zum Netz dar, das dessen Elemente aufnimmt, verarbeitet und transformiert, sich gegenüber dem Digitalen öffnet und wieder verschließt, das vermeintlich Unvereinbare zusammenführt", schreibt Hagner.


2.


Go Itami: "This Year's Model". Design: Shin Akiyama und Genki Abe / edition.nord, published by Rondade, first edition 2014, ROND-27.

Auf dieses Buch wäre ich ohne das Netz nie gestoßen. Wie diese Begegnung zustandekam, ist mir nicht mehr erinnerlich, aber ich weiß, welches Bild mich umgehauen hat. Es ist diese großartige Farbschliere fast zu Anfang des Buchs. Wovon ist das ein Bild? Hat der Fotograf Farben mit einem Spachtel verstrichen und dann ein Foto davon gemacht? Oder ist es ein Detail aus einem Gerhard-Richter-Gemälde?

Es ist das erste Ding, das ich je in Japan bestellt habe. Der Versand war teurer als das Buch. Ich war aufgeregt, der Verlag war aufgeregt. Auch dort gehen wahrscheinlich nicht jeden Tag Bestellungen aus Berlin ein. Der Versand hat nicht einmal eine Woche gedauert.

Go Itami scheint zu einer Szene jüngerer japanischer Fotografen zu gehören. Ich habe leider nicht viel über ihn herausgefunden. Hier und dort waren seine Arbeiten auch schon in Europa zu sehen.

Das Buch ähnelt sicher sehr vielen heutigen Fotobüchern. Es ist eine lyrische Reise durch die Wahrnehmung eines Fotografen. Seine Wahrnehmung ist fragmentarisch. Seine Fotos sind zwar Abbilder, keine Fotogramme, aber sie suchen jenen Punkt, an dem ein Ding nicht mehr erkennbar ist. Auch diese Idee ist sicher nicht neu. Verführt hat mich das Buch - durch die kleinen Bilder, die man im Netz davon sehen konnte - durch den Mut zur Farbe und zum Kontrast. Mag sein, dass darin viele lyrische und konstruktive Geheimnisse stecken, denen ich noch gar nicht auf die Spur gekommen bin.

Das Fragmentarische und Zufällige gehört immer schon zur Fotografie und wird von der eigentlichen "teuren" Kunsszene seit je zugleich beneidet und verachtet. Viele Spuren dieses Neids findet man noch im oben besprochenen Band der Texte zur Kunst, deren Autoren sich kaum auf das Thema Fotografie zu konzentrieren vemögen. Immer geht's gleich wieder um Warhol, Duchamp, Benjamin und Videos.

Itamis fragmentarische Abbilder sind eine der Antworten auf die Frage, warum Fotobücher heute nötig sind: Das einzige Gegengift zur Flut der Bilder sind die Bilder selbst. Ein Fotobuch ist ein angehaltenes Stroboskob, dessen Einzelbilder man betrachten kann. Ein Foto ist Stillstand, Festhalten, Kontemplation. Das Gegenteil des Bilderrauschs. Das Bild braucht einen Rätselcharakter und bekommt ihn so erst zurück, das Buch gibt ihm Struktur, eine Stelle in einer Erzählung.

Bei Vimeo ist das Stroboskob in Bewegung - im Internet gibt es schließlich auch neue Bildbetrachter. Eine anonyme Hand durchblättert Itamis Buch. Der Film läuft rückwärts. Und bei Josef Chladek, der eines der schönsten Fotoblogbücher betreibt, kann man das Buch in Ruhe durchblättern.


3.


Michel Vanden Eeckhoudt, "Bittersweet", Gestaltet von Mary van Eupen, 102 Seiten. 46 S/W Abb. Englisch, Edition Kehrer, 34 Euro, Heidelberg 2013.

Diesem Buch bin ich bei der letzten Buchmesse über den Weg gelaufen - einem solchen Blick kann man einfach nicht ausweichen. Michel vanden Eeckhoudt ist generell ein genialer Tierfotograf, aber Hunde erwischt er wie kein anderer in Momenten der Wahrheit.

Dieser Hund kennt die Menschen ja. Auch die katzenhafte Anmut seiner Position mit übereinandergeschlagenen Beinen drückt das aus. Aber Eeckhoudt fotografiert ihn genau in dem Moment, in dem er ihn, den Fotografen, erblickt, und in diesem Blick liegt der existenzielle Schrecken des Tiers, das in seinem Schlummer kurzzeitig vergaß, dass es mit diesen rästelhaften zweibeinigen Wesen in einer Welt lebt. Zugleich zeigt dieser Blick, welch ein höfliches Tier dieser Hund ist. Er wird nicht wie ein Wildtier einfach abhauen oder zubeißen. Er erinnert auch an einen vornehmen Herrn, der sich automatisch inkommodiert und erhebt, wenn eine Frau den Raum betritt.

Diese seltsame Schwebe zwischen Fremd- und Vertrautheit, zwischen Gattungsgrenze und der Möglichkeit einer Kommunikation thematisiert vanden Eeckhoudt in seinen Hundefotos. Gerade weil er diese Gattungsgrenze respektiert, wirken die Tiere manchmal seltsam menschlich.

Die Wahrheit lieg in diesem Augenblick. Vanden Eeckhoudts Hundefoto ist das Abbild eines Hundes in diesem "decisive moment", wie der für Cartier-Bresson geprägte Ausdruck lautet. Kein Künstler, der irgendwie auch mit Fotos arbeitet, ist fähig, diesen "decisive moment" so zu erkennen. Denn Künstlern, die irgendwie auch mit Fotos arbeiten, fehlt das Handwerkliche der Street Photography, die im aktuellen Texte zur Kunst-Band ebenfalls en passant für tot erklärt wird.

Benjamin Buchloh und Isabelle Graw sind sich im oben angezeigten Texte zur Kunst-Band natürlich einig, dass die Behauptung einer indexikalischen Qualität von Fotografie, einer direkt abbildhaften Beziehung zwischen Bild und seinem Gegenstand, schon lange obsolet sei. Darüber muss man gar nicht mehr reden! Und kann gleich weitergehen zu Installationen, Performances, Videos und all den anderen Wegen der Kunst. Aber könnte es nicht sein, dass die Provokation der Fotografie - egal ob digital oder analog - nach wie vor in ihrer automatischen Abbildhaftigkeit liegt? Es gab auch Maler, die Hunde in solchen Momenten der Wahrheit porträtieren konnten, Adoph Menzel zum Beispiel. Aber die Fotografie hat die Malerei wegrationalisiert und die Kunst in die absonderlichsten Ecken getrieben.

Womit wir bei den Bechers wären.

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