Im Kino

Jede Konsonantenhäufung ein Gebirge

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
20.07.2016. In seinem Kinderfilm "BFG: Big Friendly Giant" erkundet Steven Spielberg ein für ihn ungewohntes Terrain: alteuropäische Apfelbutzenhaftigkeit. Mika Kaurismäki wehrt sich in "The Girl King" über die schwedische Königin Christina mit untergründiger Punk-Attitüde gegen den double bind von Kostümfilm und Biopic.


Zwei zentrale Affektästhetiken gibt es im leichteren Werkstrang von Steven Spielbergs Schaffen: Den Moment des awe, des kindlichen Staunens, wenn sich der Bildraum öffnet und die Welt ein bisschen fantastischer, unglaublicher, fremder wird als bislang angenommen. Und den Moment der Turbulenz, wenn die Dinge und Mechanismen dieser fantastischen Welt mit ordentlich Schmackes in Wallung geraten und der Mensch inmitten dieser Turbulenzen hektisch durchgeschüttelt wird. Ein kinetischer Ruhemoment - ein kinetischer Ekstasemoment.

In "BFG - Big Friendly Giant" findet sich eine sehr schöne Sequenz, in der beide Momente einmal zusammenkommen: Das naseweise Leseratten-Waisenkind Sophie (Ruby Barnhill) wurde gerade frisch vom großen freundlichen Riesen (Mark Rylance im Motion-Capture-Verfahren) entführt und ruht jetzt in dessen Handkuhle, sieht also durch die Schlitze zwischen seinen Fingern hindurch eine Welt, die das ihr bis dahin bekannte Bilderbuch-London schnell zurücklässt und zu einer Fabelwelt mittelalterlich-rustikaler Riesen mutiert. Überdies sorgt die gesteigerte Mobilität des Riesen dafür, dass die neuen Eindrücke rasant auf sie niederprasseln, sodass das gesamte Bild in Wallung gerät. Da Spielberg eine Regisseur ist, der stets die Zuschauerposition im Sinn hat, erleben wir dieses Aufreißen der Welt, die eben noch sortiert british war, jetzt aber aus einem Fabelbuch stammt, durch ihre Augen mit: Einmal Mäuschen sein, an den Rockzipfeln eines Riesen hängen, die Welt unter den Eindrücken erratischer Rasanz und Schubkräfte erleben - in Peter Jacksons "King Kong"-Remake vor rund zehn Jahren gab es schon so einen Moment, hier findet sich dessen tricktechnische Aktualisierung. Für solche Erfahrungen werden Blockbuster gemacht.

In dieser Passage turbulenten Kinostaunens ist Spielberg bei sich. Ansonsten mutet "BFG - Big Friendly Giant" fast wie ein Fremdkörper in Spielbergs Schaffen an. Nicht nur, weil er seinen drei Filme umfassenden Zyklus gediegener, historischer Dramen ("Gefährten", "Lincoln", "Bridge of Spies") beendet und zum reinen Kinderfilm zurückwechselt, ein Feld, in dem er schon lange nicht mehr tätig war. Auch die kruspelig-modrige Rustikalität der Erzählwelt, die viel mit der Materialität von altem Holz, fettig-strähnigen Haaren und speckig-abgewetzter Kleidung zu tun hat, ist Spielbergs Sache nicht so recht. Auch wenn "BFG" die erste Zusammenarbeit zwischen Spielberg und der 2015 gestorbenen Drehbuchautorin Melissa Mathison seit "E.T." darstellt und in dem Film, der von der sich allmählich entwickelnden Freundschaft zwischen einem fantastischen Wesen und einem staunenden Kind handelt, einiges an Spielbergs großen Jugendfilmklassiker erinnert, wirkt die altmodische Mützen- und Apfelbutzenhaftigkeit wenig Spielberg-artig.



Das mag mit der Vorlage zu tun haben - Spielberg verfilmt Roald Dahls Kinderbuch "Sophiechen und der Riese" - und mit dessen ausgesuchter Britishness, die Spielberg auskostet. Vielleicht aber auch mit den Interessen von Disney, für die Spielberg erstmals als Regisseur einen Film vorlegt. Tricktechnisch ist auch "BFG" wieder, typisch für Spielberg, ein großer Schritt weiter: Insbesondere faszinierend ist, wie Mark Rylance durch das digitale Kostüm hindurch spielt und sein ins Schlaksige überdehnter Computerkörper dennoch eine intakte Einheit mit diesem Spiel bildet. Aber in der Form des Kinderfilms an sich wirkt "BFG" bis zum gewissen Grad wie an Konventionen entlang inszeniert. Was im Werk eines Meisters wie Steven Spielberg wie ein Rückschritt anmutet.

Davon abgesehen macht "BFG" aber Spaß. Die Geschichte von Sophie, die den wendig durchs nächtliche London tänzelnden und Träume in die Köpfe der Leute pustenden Riesen stellt und deswegen von ihm - weil er Angst davor hat, entdeckt zu werden - kurzerhand ins Riesenreich entführt wird, ist mit Bedacht und Freude am Fabulieren erzählt. Im Riesenreich entpuppt sich der Kauderwelsch sprechende Riese als Zwerg unter viel größeren Riesen, seinen Brüdern, und als Vegetarier, der mit stinkenden Riesengurken vorlieb nimmt. Die großen Riesen halten sich unterdessen an proteinreichere Nahrung, an "Human Beans", so die Bezeichnung für Menschen in der verlotterten Riesensprache im englischsprachigen Originalton des Films. Das heißt nicht nur, dass der große, freundliche Riese - fortan BFG genannt - alle Hände voll zu tun hat, Sophie vor seinen Brüdern zu verstecken. Sondern auch, dass Sophie und BFG gemeinsam einen Plan aushecken, wie man die Brüder zum Vegetarismus zwingen kann. Dabei behilflich sein soll Queen Elizabeth II., die Sophie von der Existenz von Riesen überzeugen muss.

Als Kinderfilm mit sonderbar militaristischer Botschaft - am Ende ist es das königliche Heer, das der Menschenfresserei Einhalt gebietet - ist "BFG" zwar ein etwas merkwürdiger Film, was dem von allerlei Sadismen durchzogenen literarischen Kosmos Roald Dahls geschuldet sein dürfte. Spielberg, hat man den Eindruck, zieht sich für einmal als auteur zurück, erkundet ein für ihn eher ungewohntes Terrain - alteuropäische Fantasy, britisches Monarchentum - und erfreut sich an der exquisiten Fremdheit dieses Materials. Als Spielberg-Film taugt "BFG" nicht viel. Als Kinderfilm und hübscher Zeitvertreib erfüllt er seinen Zweck vorzüglich.

Thomas Groh

BFG: Big Friendly Giant - USA 2016 - OT: The BFG - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: Mark Rylance, Ruby Barnhill, Penelope Wilton, Jemaine Clement, Rebecca Hall, Rafe Spall, Bill Hader - Laufzeit: 117 Minuten.

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Wenn Malin Buska in "The Girl King" in die Rolle der Königin Christina von Schweden schlüpft - einer Herrscherin, die zwischen 1632 und 1654 auf dem Thron saß, in dieser Zeit militärische und diplomatische Erfolge feierte, sich allerdings standhaft weigerte zu heiraten und die Krone schließlich freiwillig abgab -, dann muss sie sich nicht nur an der historischen Figur, sondern auch an einer Königin des Kinos messen: Greta Garbo brillierte 1933 in der Titelrolle von Rouben Mamoulians Hollywood-Biopic "Queen Christina". In einer Szene streift die Garbo, nachdem sie eine Nacht mit ihrem Liebhaber verbracht hat, durchs Schlafzimmer und berührt alle Winkel und Ecken. Als sie gefragt wird, was sie da mache, antwortet sie: "Ich präge mir den Raum ein. Ich werde in Zukunft viel Zeit hier verbringen."

Derart sinnliche Szenen sucht man in "The Girl King" vergebens - dabei ist Mika Kaurismäkis Version ganz dem lesbischen Erwachen Christinas gewidmet. Aber obwohl der Film Buskas Körperlichkeit durchaus einige Freiräume zugesteht, etwa wenn er sie enthemmt im Schloss herumhüpfen oder zu aufpeitschender Musik mit fotogen wehenden Haaren durch Postkartenlandschaften reiten lässt, bleibt der Film enttäuschend unkonkret, wenn es darum geht, zu zeigen, was es tatsächlich bedeutet, dass Christina die Gräfin Ebba Sparre (Sarah Gadon) zur "königlichen Bettgefährtin" auserkoren hat. Die lesbische Liebe erhält, abgesehen von ein, zwei verschämten Softporno-Versuchen, kaum phänomenologische (und schon gar nicht, wie die heterosexuelle bei Mamoulian, psychologisch-transzendentale) Evidenz. Stattdessen ist sie recht ausschließlich etwas, das von Männern beobachtet, kommentiert, kritisiert und gelegentlich aus einer philosophischen Perspektive (Descartes) gutgeheißen wird.

Kurz: Sie wird als Objekt eines (männlich strukturierten) Diskurses präpariert, dessen vielstimmiger Wirkmacht sich Christina irgendwann nur noch durch Machtverzicht, sowie, ein geistesgeschichtlich interessantes Detail, durch den Wechsel vom protestantischen zum katholischen Glauben entziehen kann. Körper werden in einem eher mechanischen Sinne in politische Zusammenhänge eingespannt, Begehren in Macht übersetzt und dadurch handhabbar gemacht. Filmisch folgt daraus: Es geht nicht um emotionale oder erotische Intensitäten, sondern um hierarchische Blickkonstellationen und um Aushandlungen. Was nicht in jeder Hinsicht gegen "The Girl King" sprechen muss: Es geht dann eben darum, eine ansprechende Ästhetik der Aushandlung zu entwickeln. Und Kaurismäki gelingt das zumindest in Ansätzen.





Insbesondere, was die Sprechakte selbst betrifft. Rein thematisch passen die Intrigen und Psychopathologien der zwar über Landesgrenzen hinweg, aber auf die Dauer trotzdem ziemlich inzestuös untereinander herumvögelnden Adelsfamilien tatsächlich ziemlich perfekt zum Produktionsumfeld des transeuropäischen Förderkinos, dem der Film zugehörig ist. "The Girl King" vereinigt finnische, deutsche, französische, schwedische und sogar kanadische Gelder in sich, und da die jeweiligen Förderinstitutionen auf local talent pochen, müssen eben auch SchauspielerInnen aus allen diesen Ländern mitwirken; diese wiederum beherrschen die weitgehend durchgehaltene Produktionssprache Englisch (gelegentlich wird ein wenig auf deutsch gezetert bzw auf französisch herumphilosophiert) unterschiedlich gut.

Kaurismäkis Film stört sich, und das nimmt durchaus für ihn ein, wenig daran, wenn selbst die Hauptdarstellerin mit linguistischer Gewaltanstrengung durch ihre Dialoge stolpert (als wäre jede Konsonantenhäufung ein Gebirge, das mühsam, aber grimmig entschlossen erklommen werden möchte).Tatsächlich kann das sogar als Realismusmoment durchgehen, schließlich steht zu vermuten, dass mit dem Französisch, das einst an den meisten europäischen Königshöfen gesprochen wurde, dort ebenfalls eher rüde umgesprungen wurde. Vor allem aber schreibt sich dadurch eine Laissez-faire-Haltung in den Film ein, die auf nicht unangenehme Weise quer zum Genre steht: Der double bind aus Biopic und Historienfilm, in den Christinas Geschichte zwangsläufig eingebettet ist, könnte den Bildern nur zu leicht alle Luft zum Atmen nehmen.

Da gibt es schließlich filmhistorisch genug Beispiele. Ein französischer Qualitäts-Arthausregisseur wie etwa Benoît Jacquot hätte aus dem Stoff sicherlich einen runderen, dichteren, präziseren Film gemacht; aber vermutlich auch einen hermetischeren, versiegelteren. Kaurismäki gibt seiner Erzählung eine unreine Punk-Attitüde bei, die nie an die Erzähloberfläche durchbricht, aber untergründig rumort (und die vielleicht, aber das macht fürs Ergebnis ja nichts, eher von Unachtsamkeit herrührt als vom Willen zur Subversion). Die Musik zum Beispiel ist zwar klassisch symphonisch, braust aber dauernd etwas zu jäh und hektisch auf, fühlt sich eher nach Daily Soap als nach großem Gefühlskino an.



Und während das zunächst angenehm unbehauene Spiel der Newcomerin Buska im Verlauf der Handlung zunehmend in geläufige Muster der Psychopathologie abgleitet, bleiben zumindest die eklektisch besetzten Nebenrollen ständige Quellen einer Irritation, die sicher nicht durchweg produktiv ist, aber immerhin die Aufmerksamkeit einigermaßen vielseitig moduliert. Martina Gedeck insbesondere hat einen wunderbaren Schreckschraubenauftritt als ultrateutonische Königinnenmutter. Aber auch die langhaarigen, kitschromantisch überzeichneten, teils fast schon "Twilight"-kompatiblen jungen Männer, die die für ihre Reize so gar nicht empfängliche Königin umschwirren, wollen sich nicht so recht in die gut gemeinte emanzipatorische Parabel fügen, auf die der Film freilich trotzdem irgendwie hinaus läuft.

Wo sein jüngerer Bruder Aki sich bereits seit den 1980ern als eine der zentralen Größen im europäischen Arthauskino etabliert hat, ist Mika der große Durchbruch bislang verwehrt geblieben; seine umfangreiche, unübersichtliche Filmografie kann man kaum auf einen Nenner bringen, sie oszilliert schon in geografischer Hinsicht unstet zwischen Europa, den USA und der zeitweiligen Wahlheimat Brasilien, oft spielt Musik eine Rolle, oder auch das Leben on the road. "The Girl King", eine seiner aufwändigsten Produktionen, passt dazu erst einmal gar nicht. Vielleicht liegt in dem vermeintlichen Konsolidierungsprozess eine Chance. Wo Kaurismäkis ältere Filme manchmal etwas unkonzentriert wirken, in Beliebigkeit abzudriften drohen, ermöglicht es diesmal der starre Rahmen, zwischen dem sich gerade keine komplett glattgebügelte Oberfläche aufspannt, das Eigentümliche, Widerständige an seinem Kino besser in den Blick zu bekommen.

Lukas Foerster

The Girl King - Finnland et al 2015 - Regie: Mika Kaurismäki - Darsteller: Malin Buska, Sarah Gadon, Michael Nyqvist, Lucas Bryant, Laura Birn, Hippolyte Girardot, Martina Gedeck - Laufzeit: 106 Minuten.