Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2006. Die SZ empfiehlt deutschen Lokalpolitikern eine Reise nach New York, das für die nächsten vier Jahre 865 Millionen Dollar für Kulturbauprojekte einplant. In der FAZ empfiehlt Hans Magnus Enzensberger eine Abschaffung der Gewerkschaften im Kulturbetrieb. Der Perlentaucher fragt, warum sich Wikipedia mit Substanz aus dem Netz vollsaugt, aber nicht das kleinste bisschen Google Juice zurückkgibt. Alle würdigen Nagib Mahfus, der eine arabische Auffassung der Moderne entwickelte. Spiegel Online meldet die Freilassung des iranischen Philophen Ramin Jahanbegloo.

Zeit, 31.08.2006

Es ist ein Jammer! Inzwischen stellt die Zeit nur noch eineinhalb Artikel online. Hier noch einmal eine ausführliche Auswertung:

In der Ausstellung "Entry" in der Essener Zeche Zollverein hat Hanno Rauterberg einen Blick in die Zukunft des Menschen riskiert und berichtet begeistert von Korallenhäusern, Nachrichtenrobotern und menschlichem Bang-Design: "Es ist das Reich der fitzeligen B-its, A-tome, N-euronen, G-ene, hier öffnet sich der Baukasten für die Zukunftsschöpfer. Sie gestalten keine schönen Hüllen, sie bosseln vielmehr am Wesenskern herum - denn nur wer der Welt ein neues Programm einschreibt, wird alle drängenden Probleme lösen." Bilder von Quallenhäusern, organischen Pavillons und elektronischer Roboterhaut gibt es hier.

Dass Venedigs Filmfestival demnächst Konkurrenz aus Rom bekommt, lastet Petra Reski vor allem der Stadt Venedig an: "Die venezianische Stadtverwaltung interessiert sich lieber für lukrative Großprojekte, für die Vergabe millionenschwerer Ausschreibungen an die immergleichen Unternehmen, für das Geschäft mit 20 Millionen Touristen jährlich - nicht aber dafür, in Venedig ein kulturelles Leben zu erhalten. In der Stadt des ältesten Filmfestivals der Welt gibt es nur noch ein Programmkino von der Größe eines Gemeindesaals... Kultur? Ja, wenn man darunter Wasserglasmusik aus Nowosibirsk, Karnevalsmasken und Disney-Filmproduktionen versteht."

Weiteres: Volker Hagedorn berichtet von Handschrift-Funden in Weimar, die ein neues Licht auf die Jugend Johann Sebastian Bachs werfen. Jens Jessen wertet die unpassende Rede von Hermann Schäfer in Buchenwald und den Argwohn gegen die Rückgabe des Kirchner-Gemäldes "Straßenszene" als Folge der "dramatisierten Erinnerung an die deutschen Kriegsopfer". 1200 Jahre nach ihrer Gründung besucht Evelyn Finger die schrumpfende Stadt Halle: "Glasfassade neben Schutthalde." Rolf Hochhuth schreibt zum 75. Geburtstag des Feuilletonisten Fritz J. Raddatz. Thomas Meinecke erklärt, was wir alles dem Pop verdanken.

Besprochen werden Bob Dylans neues Album "Modern Times", Jason Reitmans Satire "Thank you for smoking", die Ausstellung "Das achte Feld" in der Kölner Kunstausstellung, Valeska Grisebachs "wunderbarer" Liebesfilm "Sehnsucht", Hans Werner Henzes überarbeitete Oper "Das verratene Meer", Udo Samels Lesung von Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" und als Moderner Klassiker Krzysztof Pendereckis "Lukas-Passion".

Im Literaturteil spricht Elisabeth von Thadden mit den Autoren Katharina und Sudhir Kakar über indische Identität und Literatur. Im Dossier erzählt Reiner Lueken die Geschichte des palästinensischen Terroristen Samir Kuntar, der 1979 einen israelischen Atomphysiker und dessen beiden kleinen Töchter umgebracht hat. Mit der jetzigen Entführung irsaelischer Soldaten sollte auch er freigepresst werden. Und im Politikteil gewinnt Bernd Ulrich dem Ende der "windstillen Zeiten im deutsch-israelischen Verhältnis" etwas Positives ab: "Es stärkt den Charakter."

FR, 31.08.2006

"Seinen größten Kampf führte Mahfus nach eigenen Aussagen gegen die arabische Sprache", schreibt Hans Thill zum Tod des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers, "Mahfus hatte mit historischen Romanen begonnen, als es unter den ägyptischen Schriftstellern, ausgemacht schien, dass man die Nation mit ihrer großartigen Vergangenheit zu konfrontieren habe. Danach haben ihn, wie er selbst sagt, 'die großen Straßen nicht mehr interessiert'. Wenn er sich im Folgenden den Gassen zuwandte, sowohl gegen den philosophisch-idealisierenden Roman seiner Zeitgenossen und Vorbilder als auch gegen die Historiengemälde eines verklärenden Nationalismus, und für eine 'Literatur des Lebens' entschied, so war dies der Schritt zu einer arabischen Auffassung der Moderne, eine Leistung, die man als europäischer Leser nicht hoch genug bewerten kann."

Weiteres: Ina Hartwig nutzt die heutige Kolumne Times Mager, um die aktuelle Ausgabe der Literaturzeitschrift Die Horen zu empfehlen, die der polnischen Literatur gewidmet ist. Hans-Jürgen Linke blickt auf 25 Jahre wiederaufgebaute Alte Oper Frankfurt zurück. Auf der Medienseite verabschiedet Tanja Kokjoska den "nächtlichen Fürsten der Tagesthemen" Ulrich Wickert, der heute Abend zum letzten Mal die Tagesthemen moderiert. Besprochen wird M. Night Shyamalans Film "Das Mädchen aus dem Wasser".

TAZ, 31.08.2006

Lewis Gropp und Daniel Bax schreiben den Nachruf auf Nagib Mahfus. Dokumentiert wird ein Text aus der Herbst-Ausgabe der Texte zur Kunst, in dem Isabelle Graw die Auswirkungen des internationalen Martin-Kippenberger-Hypes auf die Kölner Kunstszene beschreibt.

Besprochen werden Brian de Palmas Ellroy-Verfilmung "The Black Dahlia", die das Filmfest von Venedig eröffnete, Jason Reitmans Film "Thank You for Smoking", M. Night Shayamalan Fantasy-Film "Das Mädchen aus dem Wasser" und Rosalind B. Penfolds Comic-Roman "Und das soll Liebe sein?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

Spiegel Online, 31.08.2006

Spiegel Online meldet die Freilassung des iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo: "Ein Sprecher des kanadischen Außenministeriums in Ottawa bestätigte heute seine Freilassung." Mehr dazu auch im Weblog von Jörg Lau. In der Magazinrundschau verweisen wir auf ein langes Gespräch mit Jahanbegloo in den Blättern für deutsche und internationale Politik.

NZZ, 31.08.2006

Hartmut Fähndrich schreibt den Nachruf auf den Nobelpreisträger und Begründer der modernen arabischen Prosa Nagib Mahfus und erinnert daran, wie spät Mahfus erst in Europa wahrgenommen wurde - nämlich erst mit der Verleihung des Nobelpreises: "Damals verbargen die westlichen Feuilletonisten nicht selten ihre Ignoranz hinter süffisantem Spott. Inzwischen hat man ihn kennen gelernt, als Schriftsteller, aber auch als moralische Stimme in einer Zeit, in der eine solche angesichts wachsenden Drucks gegen das geäußerte Wort immer nötiger wird."

Besprochen werden die Ausstellung "Entry 2006" in der von Rem Koolhaas umgebauten Zeche Zollverein in Essen, das Album "Game Theory" der HipHop-Band The Roots und Bücher, darunter Chuck Klostermans Reise durch die Popkultur "Eine zu 85 Prozent wahre Geschichte", Christina Viraghs neuer Roman "Im April" (hier eine Leseprobe) und Zoya Pirzads iranischer Frauenroman "Die Lichter lösche ich" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 31.08.2006

Aufmacher ist eine Tischrede Hans Magnus Enzensbergers bei einer Sitzung des Ordens pour le merite. In Anwesenheit des Staatsministers für Kultur sprach der Dichter über Kulturpolitik. Unter anderem fordert er einen Abschied vom Kulturbeamtentum: "Die Tätigkeiten, um die es sich hier handelt, stehen dem Dienstrecht fern; sie kennen keine Pensionsansprüche, keinen Bundesangestelltentarif und keine Garantien. Lassen Sie deshalb in Ihrer ministeriellen Güte Zeitverträge walten, vertreiben Sie die Gewerkschaften aus dem Musentempel, geben Sie den Leuten Autonomie, und verabschieden Sie sich von dem hässlichen Laster des Kameralismus."

Ein neues Gedicht Durs Grünbeins singt von den Flughäfen:

"Der Körper, eh Turbinenkraft ihn wolkenwärts katapultiert,
Vertröstet mit Kosmetik sich, Pralinen, teurem Rum.
Nur Zufall, dass er nicht versiegelt wird, verzollt als Mumie.(...)"

Weitere Artikel: Lorenz Jäger meditiert in der Leitglosse über das welthistorische Jahr 1923, das nicht nur in Zentrum von Ernst Noltes neuem Buch steht, sondern zugleich auch noch sein Geburtsjahr ist. Andreas Rossmann berichtet über die Idee der Stadt Krefeld, ein einst dem Kaiser-Wilhelm-Museum gestiftetes Gemälde von Monet zu verkaufen, um das Museum zu sanieren - ein Tabubruch. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Tenors Leopold Simoneau. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner ("Mohammedanische Versuchungen") wurde mit dem Nachruf auf Nagib Mahfus beauftragt. In der Rubrik "Aus unseren Auslandsbüros" meldet Jürg Altwegg, dass der in Frankreich als gottähnlich verehrte Rocksänger Johnny Hallyday, aber auch der Schauspieler Jean Reno Wahlkampf für Nicolas Sarkozy machen. Auf einer Doppelseite werden Barbara Klemms prächtige Schwarzweißfotos des in diesem Falle also schwarzweißen Gewölbes in Dresden präsentiert.

Auf der Kinoseite schreibt Dirk Schümer über das neue Filmfestival von Rom, das Venedig Konkurrenz machen soll. Michael Althen stellt die filmhistorischen Montagen von Christoph Girardet und Matthias Müller vor. Und Dietmar Dath kommentiert die Vergabe des "Hugos", des bedeutendsten Preises für Science-Fiction-Literatur.

Auf der Medienseite schreibt Michael Hanfeld launig über die Verabschiedung von Anchorman Ulrich Wickert, bei der Fritz Pleitgen androhte, dass man sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen künftig an der Pensionsgrenze des Vatikans orientieren werde. Und Nina Rehfeld berichtet über eine neue Allianz zwischen MTV und Google.

Für die letzte Seite besucht Kerstin Holm ein Weingut im südwestrussischen Kuban-Gebiet, wo für die lebensartbeflissenen neuen Russen ein "edler Tropfen" namens "Le grand Vostock" produziert wird. Katja Gelinsky berichtet über Reformen des Notwehrrechts im Sinne der Waffenlobby in einigen der Vereinigten Staaten. Und Gina Thomas porträtiert die Schriftstellerin Geraldine McCaughrean, die die offizielle Fortsetzung von "Peter Pan" schreibt.

Besprochen werden Bertrand Bliers Film "Wie sehr liebst du mich?" und Ereignisse des Berliner Festivals "Tanz im August".

Welt, 31.08.2006

Heute regiert der Film. "The Black Dahlia", Brian de Palmas Eröffnungsfilm des Filmfestivals in Venedig, ist für den enttäuschten Peter Zander nur "reines Genre-Kino, das zuweilen am eigenen Bombast erstickt". Hanns-Georg Rodek verkündet die gar nicht so schlechten Halbjahreszahlen der Kinobranche. Vorgestellt werden Jason Reitmans Filmsatire "Thank you for smoking", James Bennings "Wunderwerk" von Film "13 Lakes" und Joachim Roennings und Espen Sandbergs "flacher" Regieerstling "Bandidas".

Außerdem wird eine Meldung der Online-Zeitung Faktuell weitergetragen, nach der Günter Grass angeboten hat, auf seinen Internationalen Brückepreis von Görlitz/Zgorzelec zu verzichten. Wolfgang G. Schwanitz schreibt den Nachruf auf den ägyptischen Schriftsteller Nagib Mahfus. Und Gabriela Walde besichtigt eine Ausstellung mit Werken des chinesischen Kunststars Cai Guo-Qiang im Berliner Guggenheim.

Perlentaucher, 31.08.2006

Was weiß die Öffentlichkeit schon von Machtkämpfen im Netz? Wer will wissen, was ein NoFollow-Tag ist? Damit versieht die deutsche Wikipedia sämtliche externe Links und kennzeichnet sie somit für Google als wertlos, berichtet Christoph Mayerl. Und warum tut Wikipedia das? "Glauben die Wikipedianer vielleicht, mit ihrer aufgeräumten und demokratischen Insel in den Weiten des Internets die ultimative Version des WWW geschaffen zu haben, eine real existierende Utopie, die das äußere, defizitäre und chaotische Netz nicht nur nicht mehr nötig hat, sondern nichts mit ihm zu tun haben will? Werden deshalb alle Verbindungen zur Außenwelt als nicht vertrauenswürdig eingestuft, weil dort das Regime der Wikipedianer keinen Einfluss hat und für Ordnung, Wahrheit und Eindeutigkeit, also Sauberkeit sorgen kann?"
Stichwörter: Google, Wikipedia

SZ, 31.08.2006

"Ohne eine vorwärtsgerichtete und breit angelegte Politik der Kulturinvestitionen und mutigen Projekte wird ein Aufstieg von der Großstadt zur Weltstadt in Zukunft aber nicht mehr möglich sein", schreibt Andrian Kreye und empfiehlt Lokalpolitikern eine Reise nach New York, das für die nächsten vier Jahre 865 Millionen Dollar für Kulturbauprojekte verplant hat. "Auch die Wirtschaft erkennt den Wert der Hochkultur... Erstmals seit langer Zeit dürfen auch die großen Architekten und Visionäre die bekannteste Skyline der Welt mitgestalten - Santiago Calatrava, Norman Foster, Renzo Piano und Frank Gehry planten derzeit für Manhattan und Brooklyn gewaltige Projekte." Alles aus purem Eigennutz. Denn: "Die Stadtväter von New York wissen, dass die Konkurrenz nicht schläft. Metropolen wie London, Shanghai, Toronto, Chicago und Los Angeles investieren aggressiv in die Kultur. Nicht zuletzt um New York den Rang als attraktiven Standort für 'kreatives Kapital' abzulaufen." Wissen das auch die Stadtväter von Berlin?

Burkhard Müller schreibt den Nachruf auf den gestern verstorbenen ägyptischen Nobelpreisträger Nagib Mahfus. Zitiert werden außerdem zwei Schriftsteller aus Ägypten, Ahmad Al-Aidi und Salwa Bakr, die schreibt: "Er war der Pionier der arabischen Literatur. Vor den Werken von Nagib Mahfus hatte der arabische Roman keine eigentliche Form. Alle späteren Romanciers haben sich auf ihn bezogen. Er hatte den Mut, den Mangel an Demokratie in Ägypten zu beschreiben und die Korruption."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck zieht Bilanz der zu Ende gehenden Ära Peter Ruzickas als künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele: "Jene freundliche Reserviertheit, die Ruzicka zu eigen ist, seine Abneigung gegen das Laute, Skandalträchtige, Exaltierte und - was der Kunst sonst immer ein wenig not und gut tut - Unseriöse prägten diese fünf Jahre." Christopher Schmidt verabschiedet Martin Kusej als Salzburger Schauspielchef: "Als Schauspieldirektor war Kusej ein Wirt, wie man ihn sich nur wünschen kann: Einer, der selber in der Küche steht und erst die Schürze weglegt, wenn der Letzte satt ist." Für Jens Bisky ist das Problem von Hermann Schäfer nicht seine geschichtspolitische Orientierung, sondern seine Inkompetenz. Ira Mazzoni war auf einer Tagung der Gesellschaft für Konservatoren in München, und Susan Vahabzadeh schickt einen Bericht vom Filmfestival in Venedig. Thomas Bächli schreibt den Nachruf auf den amerikanischen Komponisten James Tenney.

Besprochen werden Jason Reitmans Regiedebüt "Thank You for Smoking" ("Es geht nicht wirklich ums Rauchen in diesem Film", schreibt Fritz Göttler. "Es geht um die Radikalisierung der Kampagnen und die merkwürdigen Exzesse von Fürsorge und Bevormundung, von Diskriminierung und Kontrolle, um den Verlust dessen, was man die Freiheit des Entscheidens nennt"), Anders Thomas Jensens Bekehrungsfilm "Adams Äpfel", (diesen Film verlässt man Rainer Gansera zufolge als ein besserer Mensch, "geläutert von zynischen Anwandlungen jeglicher Art, infiziert mit einer großen, über sich selbst verwunderten Rührung"), Daniele Thompsons Film "Ein perfekter Platz", die Ausstellungsreihe "Wissensspeicher" im Bayrischen Nationalmuseum München und Bücher, darunter Harro Zimmermanns Beziehungschronik "Grass und die Deutschen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).