Magazinrundschau

Zu groß und zu mächtig

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
01.03.2022. Slate fürchtet, dass nicht mal mehr die russischen Oligarchen Wladimir Putin ins einer paranoiden Isolation erreichen. Der Neue Kalte Krieg ist der neue Realismus, erklärt The Atlantic. Die Atomwaffenbestände sind jedenfalls in allen Lagern modernisiert und gut gefüllt, weiß die LRB. Das Atomzeitalter begreift The Nation bestens im Horrorcomic. Abseits der Ukraine: Im Merkur zweifelt Steffen Mau an der Spaltung der Gesellschaft in Somewheres und Anywheres. In der NYRB warnt Ariel Dorfman davor, den Aufbruch in Chile aufs Spiel zu setzen. Und der New Yorker berichtet vom Haftprüfungstermin für Elefant Happy in der Bronx.

Slate (USA), 28.02.2022

Auch Russland-Experten und Geheimdienste haben nicht geglaubt, dass Putin tatsächlich die gesamte Ukraine besetzen würde, betont Ben Judah. Fast alle westlichen Akteure gingen davon aus, dass die Oligarchen Wladimir Putin von einem Krieg abbringen würden, wenn die Sanktionen nur hart genug ausfielen. Aber im Kreml regiert keine Clique mehr, meint Judah, sondern Putin allein: "Wie konnte es so vielen entgehen, dass sich Putin und seine Herrschaft verändert hatten? Zum einen ist Putin schon so lange an der Macht, dass viele Analysen einfach in der Vergangenheit stecken geblieben sind. Die Vorstellung von einem Russland, das von Oligarchen beherrscht wurde, erstarrte zu einer Legende und hielt nicht Schritt mit ihrer effektiven Liquidierung als Klasse. Es war auch nicht förderlich, dass der Westen viele russische Milliardäre aus Davos kennt, aber nicht die Funktionäre der Staatssicherheit, die sich zunehmend jenem religiösen Nationalismus verschrieben haben, der offenbar auch Putin ergriffen hat. Auch die Pandemie machte es Außenstehenden schwer, Putins offensichtliches Abgleiten in die paranoide Isolation zu bemerken; er hat sich in den letzten Jahren offenbar durch einen ultrastrengen persönlichen Lockdown und soziale Distanzregeln abgeschottet, was sein Urteilsvermögen beeinträchtigt haben könnte. Die absurd langen Tische, an denen Putin bei Treffen sitzt, sind zu einem Symbol seiner Abgeschiedenheit geworden (und zu einem ziemlich guten Meme). Der französische Präsident Emmanuel Macron berichtet, er habe ihn Anfang Februar als einen 'völlig anderen Menschen' empfunden als bei seinem letzten Treffen im Jahr 2019. Und schließlich ist die westliche Russlandanalyse gescheitert, weil sie von der russischen Analyse der eigenen Gesellschaft abhängt, und die ist noch katastrophaler gescheitert. Hier hat eine durch jahrzehntelange Propaganda abgestumpfte Expertenklasse unterschätzt, wie sich die systematische Zerschlagung des russischen Journalismus auf ihre Fähigkeit auswirkt, zu erfahren, was im Kreml vor sich geht."

Fred Kaplan zitiert amerikanische Militärexperten, die sich über die wirre Strategie der russischen Truppen mokieren. Das können sie durch Brutalität schnell wettmachen, weiß Kaplan, betont aber zwei Dinge: Die russsiche Armee besteht in der Hauptsache aus schlecht ausgebildeten, schlecht behandelten und schlecht motivierten Wehrpflichtigen. Und die Kommandierenden mögen keine Kreativität bei Untergebenen.
Archiv: Slate

The Atlantic (USA), 01.03.2022

Zwanzig Jahre dauerten die Kriege, die die USA nach dem 11. September führten, sie endeten in allen politischen Lagern mit ebenso viel Bitterkeit wie Erleichterung, schreibt George Packer: Wem könne dieses politisch korrumpierte, sozial zerrissene und von Covid verheerte Land noch sagen, wo es lang gehen soll? Doch seit dem 24. Februar gelte ein neuer politischer Realismus: "In dieser neuen Zeit realistisch zu sein, bedeutet nicht, amerikanische Interessen so eng zu definieren, dass die Ukraine entbehrlich wird, sondern zu verstehen, dass die Welt in demokratische und autokratische Sphären aufgeteilt ist; dass diese Teilung alles prägt, von Lieferketten und dem Wettbewerb um Ressourcen bis zu staatlicher Korruption und dem Einfluss der Technologie auf die Köpfe und Gesellschaften der Menschen; dass die Autokraten die Oberhand gewonnen haben und es wissen. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, der auf frühere Versuche folgte, Unabhängigkeit und Demokratie dort ebenso wie in Georgien und Weißrussland zu unterdrücken, ist der dramatischste, aber bei weitem nicht der letzte Konfliktpunkt zwischen den beiden Sphären. Wenn es sich bei diesem Konflikt um einen neuen Kalten Krieg handelt, dann ist es einer, den die Autokratien energisch vorantreiben und den die Demokratien nur ungern annehmen."
Archiv: The Atlantic

London Review of Books (UK), 28.02.2022

Tony Wood wirft den USA und der Nato vor, Putins Krieg gegen die Ukraine richtig vorhergesehen, aber nichts unternommen zu haben, um ihn aufzuhalten. Die Waffenlieferungen an Kiew dürften Putin eher noch angespornt haben, meint Stevenson, jetzt drohe ein brutaler Blitzkrieg oder ein brutaler Stellvertreterkrieg: "In beiden Szenarios dürfte der Konflikt für die Ukraine zu einem massiven Verlust an Souveränität führen. Russlands will demonstrieren, dass es das ukrainische Militär neutralisieren kann und sich nach Belieben Stücke ihres Territoriums herausbrechen kann. Sein Gewaltakt soll aber auch die Ukraine unfähig machen, als unabhängiger Staat zu funktionieren. Selbst im Falle einer Waffenruhe oder eines russischen Rückzugs wird die Handlungsfähigkeit der Ukraine drastisch eingeschränkt, ihre Wirtschaft lahmgelegt und ihre Sicherheit kompromittiert. Die Ukraine als Klientelstaat der Nato in einer intensivierten geopolitischen Auseinandersetzung ist keine bessere Aussicht. Das wäre die Souveränität eines Schlachtfelds. Die andere Möglichkeit wäre, die Souveränität der Ukraine von einer Nato-Mitgliedschaft zu entkoppeln. Es gibt keine intrinsische Verbindung zwischen Europa und Nato, wie es die EU-Mitgliedschaft Österreich, Irland und Schweden zeigen - alles neutrale Staaten, keiner davon in der Nato. Am 24. Februar zeigt sich Präsident Selenski bereit, über die Neutralität der Ukraine im Austausch für Frieden zu verhandeln, und die könnte die beste Chance sein zu überleben, für ihn und die Ukraine."

Der atomaren Abschreckung ist seit jeher ein Moment des Wahnsinns eingeschrieben, erinnert Tom Stevenson in einem Text, der vor Russlands Einmarsch in die Ukraine erschien. Ihm zufolge waren es bisher allerdings die USA, die immer wieder mit dem Einsatz ihrer Atomwaffen drohten und für sich auch das Recht auf den atomaren Erstschlag herausnahmen. Vor allem sind sie nicht erst wieder wieder in Mode, seit Donald Trump drohte, Nordkorea 'mit Feuer und Zorn vollständig zu vernichten': "Das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Nuklearstaaten hat geschwankt. Die USA haben zu jeder Zeit die atomare Überlegenheit über andere Staaten angestrebt und in trüber Regelmäßigkeit mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Sie haben kein nachhaltiges Interesse an Rüstungskontrollverträgen und ihre Kriegspläne beinhalteten völkermörderische Erstschläge. Russlands Atomstreitkräfte waren in den 1990er und frühen 2000er Jahren im Niedergang begriffen. Seine atomar bewaffneten U-Boote waren in dieser Zeit größtenteils nicht einmal auf Patrouille. Doch in den letzten zehn Jahren hat Russland den Verfall zum Teil wieder rückgängig gemacht. Es hat viele kleinere taktische Atomwaffen beibehalten, angeblich aus Furcht vor einer Bodeninvasion aus dem Westen (und vielleicht dem Südosten). Seit den 1960er Jahren stützen sich die britischen Atomstreitkräfte auf von U-Booten abgefeuerte ballistische Raketen. Die Raketen werden von den USA geleast. Im März verpflichtete sich das Vereinigte Königreich, seine Atomwaffenbestände um 40 Prozent aufzustocken und damit den vier Jahrzehnte andauernden Abbau rückgängig zu machen."

The Nation (USA), 25.01.2022

Es gab mal eine Zeit, in der die Comicindustrie nicht alleine von Superhelden abhängig war, sondern alle möglichen Themen und Genres beackerte - solange sie in der einen oder anderen Hinsicht reinknallten, schreibt J. Hoberman in einer großen Besprechung von Paul S. Hirschs Buch "Pulp Empire: The Secret History of Comic Book Imperialism". Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg waren Superhelden, die mit Zahnpasta-Grinsen auf Böse-Buben-Hatz gingen, sogar ziemlich abgemeldet - die Zeiten waren zu düster dafür geworden. "Im Hinblick auf Atomwaffen drückten Comics die ganze Bandbreite populärer Ambivalenz aus. Da sie im Verhältnis zu Filmen kaum zensiert wurden, entpuppten sich ironischerweise gerade Horrorcomics als besonders gut dafür geeignet, über die furchterregende Natur der Bombe zu meditieren. Die Darstellungen des Atomzeitalters boten das volle Programm - vom dümmlichem Gespött über fröhliches Verleugnen sowie Fantasien von radioaktiven Superhelden und Träumen einer unter einer Regierung geeinten Welt bis hin zu apokalyptischen Visionen eines in Schutt und Asche gelegten Planeten. ... Wie Hirsch schreibt, befassten sich solche EC Comcs wie Weird Science und Weird Fantasy in so gut wie jeder Ausgabe mit der Bombe. Gängigerweise zeigten sie sie 'als etwas, das zu groß und zu mächtig ist, als dass Menschen sie kontrollierten könnten'. In der Tat griffen EC Comics, wo mit Bernard Kriegsteins 'Master Race' (1955) mindestens eine Geschichte erschien, die sich explizit mit dem Holocaust beschäftigte, Facetten radikaler und dissidenter Kultur aufgriffen. So befassten sich ECs Two-Fisted Tales und Frontline Combat (beide vom späteren MAD-Erfinder Harvey Kurtzman redigiert) in der Hochphase des Koreakriegs mit der Sinnlosigkeit des Krieges und, was noch viel radikaler war, mit der Menschlichkeit des Feindes. Diese Comics waren nicht nur unpatriotisch, sondern sogar subversiv, nicht zuletzt darin, da sie auch ohne weiteres in Kasernen aufschlagen konnten."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Comics, Atomwaffen, Fantasy

Elet es Irodalom (Ungarn), 28.02.2022

János Székely kommentiert die recht deprimierenden Reaktionen in der ungarischen Öffentlichkeit auf die russische Invasion der Ukraine: "Viktor Orbán summierte am Dienstagabend, was der gute, wahre Durchschnittsungar wissen muss: die Sicherheit Ungarns sei das wichtigste, was sicherlich wahr ist. Allerdings heißt das Opfer der kriegerischen Aggression Ukraine, was wiederum in den meisten Ländern der Welt auch erkannt wurde und was die Welt mit Solidarität für die Ukraine beantwortete. Außer die ungarische Regierung. Und nicht nur die Regierung. Undank der sozialen Medien haben wir Einblick in die Gedanken politisierender ungarischer Durchschnittsbürger, die kaum Solidarität mit der Ukraine und den Ukrainern erkennen lassen, wie man das von Vilnius bis Prag sieht, sondern Hass und Verachtung. Ausführungen wie: 'Diese verrückten, elendigen terroristischen Ungarnhasser sollen die Städte Uschhorod (Ungvár) und Berehowe (Beregszász) zurückgeben; man darf den russischen Bären nicht verärgern' sind nicht nur das Produkt der russischen und ungarischen Staatspropaganda. Doch beide Propagandaapparate sind darüber im Klaren, an welche tiefverankerten Denkmustern man in Ungarn appellieren kann: an das aus der Kádár-Ära geerbte falsche Überlegenheitsbewusstsein gegenüber den Nachbarvölkern und an den auf Trianon fokussierten Verletzungsnationalismus. Beide sind ungarische Besonderheiten."

Respekt (Tschechien), 01.03.2022

Unter dem etwas unsubtilen Titel "Das wahre Gesicht Adolf Putins" zieht Chefredakteur Erik Tabery in seinem Editorial Parallelen zwischen Putins Ukraine-Invasion und Hitlers Angriffskriegen und kommt zum Schluss: "Es gilt abermals Václav Havel und anderen Nachwendepolitikern zu danken, dass sie das kurz geöffnete Fenster der Geschichte nutzten und uns in die NATO und die Europäische Union geführt haben. In der Debatte im Jahr 1993 über unsere etwaige Mitgliedschaft in der NATO meinte Havel, die Erfahrung des Münchner Abkommens von 1938 zeige uns, 'wie wichtig es ist, in eigenem und allgemeinem Interesse, dass wir als Land in exponierter Lage fest in ein System kollektiver Verteidigung eingegliedert sind'. In der gleichen Rede erinnerte er den Westen auf visionäre Weise daran, dass es, 'wenn es in der modernen Geschichte um Prag, Warschau oder Budapest geht, niemals nur um sie geht, sondern immer auch um das Schicksal der Freiheit auf diesem Planeten.' Dasselbe gilt nun auch für Kiew, wo Putin unschuldige Menschen ermordet."
Archiv: Respekt

Merkur (Deutschland), 01.03.2022

Der Soziologe Steffen Mau zieht die häufig behauptete Spaltung der Gesellschaft in Modernisierungsgewinner und -verlierer, Globalisten und Kommunitaristen oder Anywheres und Somewheres in Zweifel. Die Empirie habe hier eine "ernstzunehmende Vetoposition", schreibt er, eine subjektive Deklassierung großer Teile der einfachen Schichten sei nicht so klar erkennbar wie oftmals angenommen: "Die Polarisierungsmetapher geht damit womöglich am eigentlichen Thema vorbei und versperrt den Blick auf die politische Soziologie neuer Konfliktkonstellationen. Sie verlegt gesellschaftliche Konflikte fälschlicherweise in die Mitte der Gesellschaft und überhöht sie zugleich, statt von moderaten Differenzen innerhalb der Gesellschaft und eher stärkeren Radikalisierungen am Rand auszugehen. Irrig ist auch die Annahme, in den politischen Konflikten spiegele sich eine vorgelagerte Spaltung der Gesellschaft, in dem Sinn, dass das Soziale ein Apriori des Politischen sei. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Ein soziales Schisma ist vor allem dort zu finden, wo politische Unternehmer, Massenmedien und Parteien Konfliktthemen besonders stark bespielen und akzentuieren - 'Lager' mit konsistenten politischen Glaubenssystemen werden politisch und medial hergestellt. Dann wäre die Politisierung bestimmter gesellschaftlicher Fragen kein Reflex einer vorhandenen und vorpolitischen Polarisierung, sondern erst die Politisierung und Aufladung von Konflikten führte zu Polarisierungen."

Die Zürcher Kulturfunktionärin Barbara Basting beschreibt den Sog der Globalisierung, von dem sich der Kunstbetrieb in ihren Augen durchaus willig hat mitziehen lassen und der junge Künstlerinnen und Künstler immer früher erfasst: "Der frühe Sprung über die Grenzen des eigenen Landes, die Einladung zu einer der immer zahlreicheren, zumeist mit touristischen oder sonst wie merkantilen Hintergedanken gegründeten Biennalen ist für die Karriere von Künstlern und Künstlerinnen heute außerordentlich wichtig. Ihr Bewusstsein für die weltumspannende Konkurrenz wird oft schon in der Akademie geschärft. Manche Künstler zirkulieren danach jahrelang durch Auslandsateliers, unterstützt von einer Kunstförderung, die dem Trend zur Entgrenzung mit der Verschickung an Orte folgt, die wahlweise zu den etablierten Drehscheiben der Kunst gehören oder ein künftiger hot spot zu werden versprechen."
Archiv: Merkur

New York Review of Books (USA), 10.03.2022

Die Philosophin Martha Nussbaum stellt eine Reihe neuer Bücher vor, die uns lehren, die eigene Ignoranz gegenüber der Tierwelt zu überdenken. Nicht nur Menschenaffen, auch andere Säugetiere und sogar Vögel besitzen komplexe Intelligenz, kommunizieren und interagieren, beeherrschen kulturelles Lernen und sie empfinden Angst, Trauer oder Neid. Carl Safina ("Becoming Wild), Frans De Waal ("Mama's Last Hug") oder Janet Mann ("Deep Thinkers") fordern uns auf, meint Nussbaum, kognitive Vorurteile zu überwinden: "Ein Hindernis ist auch, was man als den falschen Reiz der Sprache bezeichnen könnte, der Glaube, dass Menschen die einzigen Lebewesen mit Sprache sind und dass diese uns vom Rest des zu Empfindungen fähigen Lebens trennt. Dies ist ein gleich doppelter Fehlschluss. Zum einen überhöht er die Zentralität der Sprache im menschlichen Leben. Auch wenn uns Schriftsteller etwas anderes erzählen, leben wir den Großteil unseren täglichen Gedankenlebens nicht in Worten. Wir denken in Bildern oder Tönen, und wenn wir in Sprache denken, dann in verkürzten Fragmenten, nicht in der Prosa eines Henry James. Zu anderen übersieht er den immensen Reichtum jenes Systems, mit dem Tiere kommunizieren und das wir bisher noch kaum verstehen. Aber zumindest beginnen wir zu begreifen, wie unglaublich schön und komplex Walgesänge sind, dass sich im vokalen Repertoire von Meisen syntaktische Kombinationen finden, und dass Delfine mit ihrem charakteristischen Pfeiftönen uns in Individualität und Einzigartigkeit der Stimme weit übertreffen."

Eigentlich setzt der chilenisch-amerikanische Autor Ariel Dorfman große Hoffnungen in den demokratischen Aufbruch in Chile und den Konvent, der dem Land eine neue Verfassung geben soll, um die alte noch von Augusto Pinochet eingeführte zu ersetzen. Aber jetzt dringt Dorfman darauf, jetzt nicht vom Kurs abzukommen: "Der Konvent ergeht sich in Streitgkeiten. Eine laute Gruppe radikaler Delegierte besteht auf einer Reihe von Maximalforderungen - sie will den Präsidenten, den Kongress und die Gerichte durch eine vage definierte Nationalversammlung ersetzen - als wäre das Chile das revolutionäre Russland von 1917. Wenn die Delegierten in den grundlegendsten Reformen keinen Konsens erreichen, werden sie den Gegnern der neuen Verfassung Munition für die Abstimmung im Herbst liefern. Der Konvent versagt allerdings auch darin, seine bisher beträchtlichen Fortschritte zu vermitteln, immerhin hat er bereits mehr als tausend Änderungsvorschläge für die Magna Charta abgearbeitet. Das wird verschlimmert durch eine konzertierte Kampagne der Feindseligkeit von Rechtsaußen. Man stelle sich nur vor, die Väter der amerikanischen Verfassung hätten 1787 in Philadelphia ihre Gedanken im Angesicht permanenter und ätzender Desinformation auf Facebook und Twitter entwickeln müssen."

Magyar Narancs (Ungarn), 01.03.2022

Der Dramatiker Csaba Székely moniert, dass ungarische Theater gegenwärtig kaum ungarische Uraufführungen inszenieren: "Ich rede nicht von den unabhängigen Theatern, sondern von jenen, die in einer komfortableren Lage sind. Früher war das nicht so, doch heute tendieren die Anfragen für Originaltexte Richtung Null, wobei es neben finanziellen und sonstigen Gründen auch eine Rolle spielt, dass sich die Theater ihrer kulturellen Verantwortung nicht bewusst sind. Sie müssten das Entstehen von neuen Texten und Inszenierungen mehr unterstützen, die zeitgenössische Probleme reflektieren,  denn damit würden sie das ungarische Theater und die Kultur eher nach vorne bringen, als wenn sie nur zum fünfhundertsten Male einen Klassiker abstauben und mit zwei "Fuckyou" verzieren und etwas aktuell-politischem Augenzwinkern. Ja, Uraufführungen sind riskant, doch ein Ensemble in die Hände eines Hochschulabsolventen zu legen, der bisher zwei gute und drei schwache Inszenierungen hatte, ist es ebenfalls."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Ungarisches Theater

New Yorker (USA), 01.03.2022

Lawrence Wright verfolgt einen erbittert geführten Rechtsstreit, der unter anderem die Frage aufwirft, ob ein Elefant eine Persönlichkeit hat beziehungsweise ist: "Gemäß dem Zivilgesetzbuch des Bundesstaates New York hat jede 'Person', die inhaftiert wurde, ein Recht auf unverzügliche Haftprüfung. In Bronx County kommen die meisten dieser Forderungen im Namen von Gefangenen auf Rikers Island. Habeas-Petitionen werden nicht oft vor Gericht verhandelt, was nur einer der Gründe dafür war, dass der Fall vor der Richterin des Obersten Gerichtshofs von New York, Alison Y. Tuitt - Nonhuman Rights Project gegen James Breheny, et al. - außergewöhnlich war. Gegenstand der Petition war Happy, ein asiatischer Elefant im Bronx Zoo. Das amerikanische Gesetz behandelt alle Tiere als 'Dinge', genau wie Steine oder Rollschuhe. Wenn die Justiz dem Habeas-Antrag stattgeben würde, Happy aus dem Zoo in ein Schutzgebiet zu verlegen, wäre sie in den Augen des Gesetzes eine Person und hätte Rechte … Obwohl die unmittelbare Frage an Richter Tuitt die Zukunft eines einsamen Elefanten betraf, warf der Fall die weitreichendere Frage auf, ob Tiere die neueste Grenzverschiebung im amerikanischen Recht darstellen, eine Entwicklung, die durch das Ende der Sklaverei und die Akzeptanz des Wahlrechts für Frauen und der Ehe Gleichgeschlechtlicher geprägt ist. Diese Meilensteine waren das Ergebnis erbitterter Kämpfe, die sich über Jahre entwickelt haben. Laut einer Gallup-Umfrage im Jahr 2015 war ein Drittel der Amerikaner der Meinung, dass Tiere die gleichen Rechte wie Menschen haben sollten, verglichen mit einem Viertel im Jahr 2008. Aber Tiere auf diese Weise zu schützen, hätte weitreichende Konsequenzen, darunter die Aufgabe der Tierschutzgesetze."

In einem weiteren Beitrag erklärt Peter Schjeldahl, warum es an der Zeit ist, die afroamerikanische Malerin Faith Ringgold zu kanonisieren, deren Gemälde "American People Series #20: Die" das Museum of Modern Art in einem kuratorischen Coup neben Pablo Picasso hängte: "Für ein Museum, das sich seit langem für eine teleologische Darstellung der Entwicklung der Ästhetik des 20. Jahrhunderts einsetzt, ist dies überraschend, insbesondere weil der Ringgold in der Nähe von Picassos 'Les Demoiselles d'Avignon' gezeigt wird, mit dem Picasso das Thema afrikanischer Masken in die europäische Kunst brachte. Die beiden Bilder sind im Abstand von genau sechzig Jahren entstanden: Die 'Demoiselles' 1907, während Picasso in Paris lebte, und 'Die' 1967 in New York, einem Jahr rassistischer und politischer Gewalt in Amerika. Ringgold und Picasso machen sich überraschend gut nebeneinander und erzählen gemeinsam eine komplexe zivilisatorische und stilistische Geschichte. Kontrastierende Energien, geballt in 'Demoiselles', explosiv in 'Die' erzeugen Bedeutungen, die subtiler sind, als der erste Schock nahelegt."
Archiv: New Yorker