Im Kino

Sein letztes Kleingeld

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Karsten Munt
30.04.2020. Roland Klicks "Supermarkt" von 1974 bietet nicht nur einen unmittelbaren Blick auf das Hamburger Lumpenproletariat, sondern auch auf das kurze Zeitfenster, in dem der deutsche Genrefilm versuchte, das große Publikum für dieses Milieu zu interessieren. Auch Yoon Sung-hyuns Actionfilm "Time to Hunt" erzählt von jungen Menschen ohne Zukunft. Dies aber in allerschönstem Licht und vor anmutig verfallender Kulisse. Kino zum Streamen


Jost Vacanos Bilder haben keinen Horizont. Das Hamburg, das sie zeigen, ist eine schmierig-schöne Hafenstadt. Eine Stadt der Trinkhallen, zugepflastert mit Roth-Händle-Kippen, Holsten-Reklametafeln und nassem Kopfsteinpflaster. Schon die nächste Straßenecke verschwindet im Nebel oder hinter der dicht gedrängten Masse der Lohnarbeit Suchenden. Das Proletariat platzt aus allen Nähten. Auf der Suche nach Arbeit, Alkohol oder irgendeiner Art von Zukunft drängen sie sich in den Bildern von "Supermarkt" zusammen. Roland Klick hält ein Hamburg der 1970er fest, das auf vergleichbare Art wohl nur noch von Klaus Lemke ("Paul", "Rocker") konserviert wurde. Mitten drin, in den dicht gedrängten Kneipen, Polizeirevieren und Pflasterstraßen ist Willi (Charly Wierzejewski). Als wir ihn das erste Mal sehen, steckt er sich ein paar Zuckerwürfel ein, stolpert aus einer Bar und verstreut sein letztes Kleingeld auf dem Gehweg. Kaum hat er die Kinder verscheucht, die sich an seinen Pfennigen bedienen, ist die Polizei zur Stelle, um ihn zu jagen, festzunehmen und auf die Wache zu bringen. Willi hat zwar nichts verbrochen, wird aber trotzdem im überfüllten Flur des Reviers geparkt, zusammen mit den anderen Jugendlichen, die "alle gleich aussehen und alle verdächtig sind".



Willi kommt frei. Vorerst. Er irrt weiter umher, getrieben aber ohne Aussicht. Die Unberechenbarkeit ist die treibende Kraft, wenn Klick das Leben des jungen Erwachsenen von der Gosse ins Revier und wieder in die Gosse zerrt. Im Gegensatz zu Lemkes Paul strahlt dieser Willi die Unberechenbarkeit nicht selbst aus. Er versucht vielmehr ihr zu entfliehen. Irgendwie landet er dabei am Hauptbahnhof, trifft den schlecht rasierten, bis in die Spitzen mit Pomade vollgesogenen Kleinkriminellen Theo (Walter Kohut). Der gibt Willi ein Bier aus, steckt ihn in ein übergroßes Sakko, lässt ihn die Fingernägel mit dem Taschenmesser putzen, tränkt ihn in Eau de Toilette und schickt ihn als Köder für einen Raub auf den Bahnhofsstrich. Der Plan geht schief und Willi bleibt Freiwild für die gut betuchten Pfeffersäcke, die ab und an in Klicks Kosmos auftauchen. Als wollten sie sicherstellen, dass der Pöbel dort bleibt, wo er hingehört. Während Willi seinen Körper schließlich in einer Elbchaussee-Villa verkauft, muss seine Freundin, die Prostituierte Monika (Eva Mattes) sich auf offener Straße begrapschen, küssen und aufs Pflaster schubsen lassen. Mit Ekel schauen die Bonzen auf sie herunter, als sie volltrunken eine Pfütze alter Spaghettireste vom Boden kratzt und sie sich in den Mund schiebt, bevor der Zuhälter sie wieder ins Bordell schleift. Es gibt in diesen Szenen weder Eitelkeit noch Distanz. Das Leben wird nicht weiter gedacht als bis zur nächste Straßenecke und bis zum nächsten Abend. Klick schließt nach und nach alle Fluchtlinien. Nicht nur für Willi und Monika, sondern für eine ganze Generation von Nachkriegsverlierern. Peter, ein Junge, den Willi auf der Polizeiwache trifft, wird ihm später in der U-Bahn halb ohnmächtig in die Arme fallen. Ohne ihn zu erkennen oder sich wachrütteln zu lassen, fragt er Willi nach ein paar Mark und sinkt schließlich in einer Sitzbucht in sich zusammen.

"Supermarkt" bietet nicht nur einen unmittelbaren Blick auf dieses Milieu, sondern auch auf das kurze Zeitfenster, in der sich der deutsche Genrefilm für das große Publikum durch den Dreck wühlte. Einen Ausweg aus dem Dreck der Hansestadt halten dabei weder Lemke noch Klick bereit. Jeder Versuch auszubrechen wird in "Supermarkt" schnell und rabiat unterbunden. In der Autowerkstatt, in der Willi nur einmal kurz zu sehen ist, entbrennt ein Streit um ein Mercedes Cabrio, das Willi frisch lackiert hat. Die Arbeit ist dem Besitzer nicht gut genug, obwohl keine Makel sichtbar sind. Damit Willi trotzdem nochmal ran muss, zerkratzt der Cabrio-Fahrer einfach die eigene Motorhaube: er kann es sich leisten, recht zu behalten. Für Willi schließt sich ein weiteres Fenster, der Blick in die Zukunft bleibt verschlossen.

Einen solchen Blick zeigt der Film überhaupt nur ein einziges Mal - auf dem Gesicht von Eva Mattes. Ihr Lidschatten ist nach den Tränen, die sie bereits geweint hat, schon wieder auf den Wangen angetrocknet. Der Blick in die gemeinsame Zukunft mit Willi trifft nur ins Leere. Seinen letzten Weg wird Willi allein durch den alten Elbtunnel gehen, umgeben von einem Heer aus Anzugträgern, die ihre Taschen zur Arbeit führen. Er ist ganz unten angekommen. Aber wenigstens ist er in diesem Moment der einzig wirklich freie Mann unter der Elbe.

Karsten Munt

Supermarkt - Deutschland 1974 - Regie: Roland Klick - Darsteller: Charly Wierczejewski, Eva Mattes, Michael Degen, Walter Kohut - Laufzeit: 84 Minuten. "Supermarkt" bei MUBI und bei alleskino.

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"Vorsicht mit dem Husten!" Ein lapidarer, beiläufig fallender Satz ganz am Anfang von Yoon Sung-hyuns Actionthriller "Time to Hunt". Man könnte ihn glatt überhören, in Coronazeiten sticht er hervor. Zumal auch das Setting des Films an dystopisch-apokalyptischen Dimensionen wenig missen lässt: Südkorea liegt wirtschaftlich und gesellschaftlich in Trümmern. Die Straßen sind von Verfall und Verwahrlosung gezeichnet. Husten und Apokalypse - steckt Corona dahinter? Natürlich nicht, so schnell reagiert nicht einmal das im Vergleich zum manchmal trägen US-Kino meist deutlich flotter produzierende asiatische Kino. "Time to Hunt" feierte bereits auf der Berlinale, als Corona noch den sanften Grusel des Ungewissen verströmte, Weltpremiere. Natürlich liegt die Misere mal wieder in den Finanzen begründet: Binnen kurzer Zeit hat sich Korea massiv verschuldet, ist Radiomeldungen im Hintergrund zu entnehmen. Und der Husten? Einer aus der Gruppe zwar krimineller, aber im Grunde sympathischer Jungs, mit denen wir in "Time to Hunt" mitfiebern werden, hat schlicht Asthma.

Ein weiterer, Jun-seok (Lee Je-hoon), kommt gerade aus dem Knast und schlägt schwer in dieser neuen, verelendeten Welt auf. Die gebunkerte Beute aus dem krummen Ding, das er mit seinen Kumpels abgezogen hat, ist längst nichts mehr wert. Aus ist damit auch der Traum, sich zu dritt nach Taiwan abzusetzen, das Geld für eine Startinvestition zu nutzen und den Rest des Lebens mit Schwimmen und Fischen am grünen Ozean zuzubringen. Dass seine Freunde kurz davor stehen, ihre Bude zu verlieren, kommt noch hinzu. Kurz: Ein letztes, wirklich allerallerletztes Ding soll die Finanzdecke fürs Erste aufbessern und dann nichts wie weg aus dieser Hölle. Ein illegal betriebenes Casino befindet sich praktischerweise in direkter Sichtnähe, ein Plan ist schnell ausbaldowert und das in solchen Zeiten nötige schwere Geschütz von einem Waffenhändler rasch besorgt.



Geradezu welpenartig naiv nehmen diese Jungs die Abfahrt aus dem kleinkriminellen Dasein hinein ins Schwerverbrechen. Natürlich geht die Sache erst gut, dann schief: Ein skrupelloser Killer, der in Sachen Eiseskälte und stoischer Hartnäckigkeit an Schwarzeneggers beste Terminator-Zeiten denken lässt, heftet sich alsbald an ihre Fersen und macht dem Titel des Films alle Ehre: Die Jagdsaison hat begonnen.

Yoon Sung-hyun, Jahrgang 1982, zählt ohne weiteres zu den meistversprechenden Erben des südkoreanischen Filmwunders, das seit 2000 von sich reden macht. Fürs Actionkino hat er etwas sehr Wesentliches verstanden und verinnerlicht: Nicht hektische Unübersichtlichkeit und Exzess, sondern Klarheit in Form und Struktur, Konzentration auf das Wesentliche machen das Faszinosum des Genre und dessen existenzialistische Poesie aus. Sein "Time to Hunt" bleibt stets orientiert, verzettelt sich nicht, sondern erzählt die Geschichte von ein paar Jungs, die sich tief in Gewalt und Verbrechen verstricken (wir denken an Tsui Harks "Söldner kennen keine Gnade", an John Woos "Bullet in the Head"), mit geradezu meditativem Fokus - konsequenter No-Nonsense.

Dabei sieht der über weite Strecken im Herzen der Nacht vor und in Ruinen spielende Film noch wahnsinnig gut aus: Selten dräute dystopisch-urbanes Licht unguter ins Bild, durch Scheiben, durch diesige Atmosphäre wie hier. Freunde der spezifischen ästhetischen Anmut verfallender Industriekomplexe geraten von einem Freudenfest ins nächste. Noch dazu scheppern die Schüsse, wenn sie nach langen Phasen der konzentrierten Anspannung dann mal fallen, ganz besonders herzfrequenzanregend.

Auf bloßen Ästhetizismus lässt es Yoon Sung-hyun freilich nicht hinauslaufen. "Time to Hunt" erzählt auch eine existenzielle Geschichte: "Was haben wir schon noch zu verlieren", heißt es an einer Stelle kurz vor der Attacke aufs Kasino - ein weiterer lapidar gesagter, vielleicht rasch vergessener Satz, der seine bittere Wahrheit erst ganz am Ende, wenn alles überstanden scheint, preisgibt: eine ganze Menge - einander und das eigene Selbst.

Thomas Groh

Time to Hunt - Südkorea 2020 - OT: Sanyangeui sigan - Regie: Yoon Sung-hyun - Darsteller: Lee Jee-hoon, Ahn Jae-hong, Choi Woo-sik, Park Jung-min, Park Hae-Soo - Laufzeit: 134 Minuten. "Time to Hunt" auf Netflix