Im Kino

Ende eines Zusammenlebens

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Fabian Tietke
13.11.2019. Lucio Castros Debütfilm "End of the Century" erzählt in einer doppelten Schleife mit zwanzig Jahren Abstand von der Unmöglichkeit einer Liebe. Matthias Lintners "Träume von Räumen" ist ein melancholischer, aber nicht larmoyanter Dokumentarfilm über das Ende eines Wohnprojekts.
Szenenbild aus "Endo fo the Century"

Das spontane Date zwischen den beiden Männern läuft verdächtig widerstandlos ab. Zuvor sind wir dem Dichter Ocho (Juan Barberini) dabei gefolgt, wie er als Tourist durch Barcelona schweift, Sehenswürdigkeiten abklappert, Baden geht und vor dem Schlafengehen wichst. Den knuffig kernigen Rothaarigen mit dem Kiss-Shirt hat er dabei schon mehrmals aus der Ferne gesehen. Doch jetzt beordert er Javi (Ramon Pujol) vom Balkon seines AirBnB-Appartments aus zu sich nach oben - ein Angebot, das so ungewöhnlich schnell ausgesprochen wie angenommen wird. Das einzige Hindernis für den spontanen Sex ist recht banal und schnell überwunden: Ocho ist zwar auf (der HIV-Prophylaxe) Prep, aber Javi besteht auf einem Kondom, das noch schnell aus der Apotheke geholt werden muss.

Lucio Castros Debütfilm "End of the Century" beginnt ein bisschen wie Richard Linklaters "Before Sunrise" oder Andrew Haighs "Weekend": Zwei Männer - ein in New York lebender Argentinier und ein in Berlin lebender Spanier - lernen sich kennen und verbringen gemeinsam den Tag. Sie kaufen Brot und Käse auf dem Markt und unterhalten sich auf einer Terrasse mit Stadtblick über ihre recht unterschiedlichen Lebensentwürfe, die sich schon bei der Uneinigkeit über das Verhütungsmittel angedeutet haben: Während Ocho nach zwanzigjähriger Beziehung seinem Freiheitsdrang nachgeht, hat sich Javi bereits mit Mann und Tochter häuslich niedergelassen.

Nach etwa einer halben Stunde passiert etwas Ungewöhnliches: Als die Männer herausfinden, dass sie sich schon einmal begegnet sind, springt der Film zwanzig Jahre zurück und fängt nochmal von vorne an. Wieder kommt Ocho als Tourist nach Barcelona, diesmal aber nicht nur wegen der Sehenswürdigkeiten, sondern auch, um seine gute Freundin Sonia (Mía Maestro) zu besuchen, deren neuer Freund wiederum Javi ist. Nachdem Ocho ein paar Tage wegen einer Magenverstimmung im Bett liegt - er denkt er habe Aids, weil er im Park einen Blow Job bekommen hat -, lernen sich die offiziell noch heterosexuellen Männer ein weiteres Mal kennen.

Der Realismus, den "End of the Century" zunächst mit seinen ausgiebigen, betont banalen Gesprächen etabliert hat, wird mit dem Zeitsprung plötzlich brüchig, weil dieselben Darsteller mit nur minimal veränderten Frisuren ihre jüngeren Ichs spielen. Anders ist dagegen die Art der Annäherung: nicht angespannter, aber doch mehr freundschaftlich als romantisch, weil etwa der Blickkontakt nie zu lange gehalten wird und die Körpersprache distanzierter ist. Die Rahmung unterscheidet sich. Als Sonia die Stadt verlassen muss, gibt sich der Film erneut dem ziellosen Flanieren hin: Die Männer schlendern durch die Stadt, gehen ins Museum, tanzen später betrunken im Wohnzimmer und küssen sich dann.

Blick von der Terrasse: Szenebild aus "End of the Century"



"End of the Century" ist eine sonderbare, aber durchaus faszinierende Mischung aus einer recht klassischen, aber immer wieder verhinderten Liebesgeschichte und einer Metaerzählung über den Einklang (oder Missklang) zwischen persönlichem Begehren und den zahllosen Möglichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Nie entwickelt sich dabei das Verhältnis zwischen den Protagonisten wirklich weiter. Als es, zurück in der Gegenwart, ein bisschen emotionaler wird, nimmt Javi gleich wieder Reißaus. Er hätte da mit seinem Mann so eine Abmachung.

Einmal liest Javi aus "Close to the Knives", der Autobiografie des an Aids verstorbenen Künstlers David Wojnarowicz, und die Sätze fahren in großen Lettern durchs Bild. Sinngemäß geht es dabei um eine Schiffspassage, bei der die Fahrt den eigentlichen Reiz darstellt, während das Ankommen den Autor ängstigt. Wenig später nimmt die Beziehung der Männer noch eine dritte Form an, diesmal als Tagtraum mit den beiden als Ehepaar und Eltern. Die bürgerliche Idylle ist nicht unbedingt schrecklich, der Sex sieht sogar ganz gut aus, aber irgendwie fühlt sich trotzdem alles falsch an. Wenn Ocho Javi am Ende noch einmal vom Balkon aus hinterherschaut, dann wird der Schmerz über die unmögliche Liebe durch die Erkenntnis gelindert, dass manche Dinge eben nur in der Vergänglichkeit schön sind.

Michael Kienzl

"End of the Century" - Argentinien 2019 - Regie: Lucio Castro - Darsteller: Juan Barberini, Ramon Pujol, Mía Maestro - Laufzeit: 84 Minuten.

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Szene aus Träume von Räumen"



In einer virtuosen Bewegung zieht sich die Kamera aus der Gemeinschaft der Mülltonnen zurück. Durch den Hausflur, über die Fassade, einen Baum herunter und an leeren Bierflaschen entlang gleitet die Kamera zu Beginn von Matthias Lintners "Träume von Räumen" in den Innenhof eines Wohnblocks hinein. Wenig später dreht eine Gruppe Touristen auf einer Radtour eine Runde durch den Hof. Schreddeligkeit hat unterdessen Seltenheitswert in Berlin-Mitte.

"Heißt 'einen Ort bewohnen' ihn sich aneignen?" sinniert Regisseur Lintner beim Blick aus dem Fenster seiner Wohnung in den Innenhof der Wohnanlage "Kleine Bremer Höhe" während er einer Gruppe Hausbesetzer dabei zuschaut, wie sie ihre Matrazen durch das Fenster einer leerstehenden Wohnung im Erdgeschoss schieben. Über einen Zeitraum von mehreren Jahre hat Lintner das Leben in der Wohnanlage dokumentiert. Ein Wohnen auf Abruf. Schon lange war klar, dass die Insel der Zeitlosigkeit früher oder später durch eine Sanierung in die Tristesse der Gegenwart zurückkatapultiert würde. Eben deshalb ist "Träume sind Räume" ein Film über bereits erlittene Verluste.

Szene aus "Träume von Räumen"



Der Innenhof der Wohnanlage bildet das Zentrum des Films. Die Begegnungen beginnen auf dem neutralen Terrain des Hofes, setzen sich in die Wohnungen fort oder auch nicht und kehren in den Hof zurück. Rafael, Mittvierziger, Wuschelkopf, Bierflasche in der Hand, erzählt von seinem Projekt, die Türen zu bemalen und der Strom der Erzählung wabert bierselig vor sich hin. Herr Pieper wird hinzugebeten. Der alte Herr nimmt neben Rafael auf der Bank Platz und beginnt an Rafaels Malerei herumzumäkeln. Etwas später driftet das Gespräch zu Herrn Piepers Teddybärensammlung.

Es wird eine Weile dauern, bis Regisseur und Kamera sich in der Wohnung einfinden. Die Teddybärensammlung ist allgegenwärtig in der Wohnung und im Film doch nur zu erahnen. Der Fokus der Kamera bleibt auf Herrn Pieper, und diese Entscheidung ist bezeichnend für "Träume von Räumen". Der Film konzentriert sich respektvoll auf die Bewohner des Hauses und entscheidet sich durchgängig gegen mögliche Schauwerte. Lintner zelebriert nicht die Nischen, die sich in der Wohnanlage herausgebildet haben, sondern erfreut sich am Glück der Bewohner, das sich aus deren je eigener Nische speist.

Im Spannungsfeld zwischen Momenten lyrischer Gestaltung wie in der Eingangssequenz und stromerndem Gefilme, mäandert der Film vor sich hin. Möglich war das, weil der Regisseur über mehrere Jahre mit in der Wohnanlage lebte, den Lebensraum teilte und dabei immer wieder auch selbst filmte, um nicht erst das Drehteam herbeirufen zu müssen. Dieses Vorgehen schlägt sich in der Intimität der Gespräche nieder. Zwei der schönsten Szenen sind so entstanden. Drei Bewohner auf dem Dachboden, am Boden eine tote Taube, allseitige Ratlosigkeit, die dazu führt, dass die Taube zunächst liegen bleibt. An einem anderen Abend auf einer Party sitzt der Regisseur zwischen zwei Diskutierenden, in einem Zustand zwischen müde und betrunken, während die Diskussion darum kreist, ob sich die Gefilmten den Zwang verspüren, sich vor der Kamera zu inszenieren. "Das ist doch pure Eitelkeit, zu denken, das man nicht interessant genug ist."

"Träume von Räumen" ist ein melancholischer Film, ein "Dokument der Sehnsucht" (Lintner). Das hat nicht nur mit dem letztlichen Ende eines Zusammenlebens zu tun, damit, dass man über alle Genervtheiten hinweg die Schrullen der Anderen schätzen gelernt hat; es hängt auch zusammen mit den unwiederbringlichen Verlusten, die der Film dokumentiert. Der ältere bulgarisch Herr, der zur Begrüßung Wein aus eigener Produktion einschenkt und sich wünscht, den fertigen Film noch zu erleben, wird noch vor Beginn der Sanierung im Sarg aus seiner Wohnung getragen.

Lintners Verdienst ist es, das Verschwinden von Freiräumen nicht thesenhaft auf der Leinwand auszubreiten, sondern als persönlichen Verlust sichtbar zu machen. Zugleich bietet der Film genügend Form, um nicht in Larmoyanz zu versumpfen. "Träume von Räumen" ist ein filmisches Geschenk an die Gegenwart. Nicht alle werden es annehmen wollen.

Fabian Tietke

"Träume von Räumen" - Deutschland 2019 - Regie: Matthias Lintner. Dokumentarfilm - Laufzeit 85 Minuten.

"Träume von Räumen" hatte seine deutsche Erstaufführung auf der Duisburger Filmwoche und ist aktuell auf der Suche nach einem Verleih.