Im Kino

Hervorragende Nase

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
11.06.2015. Ganze 12 Dinosaurierarten mehr als das Original aus den Neunzigern präsentiert Colin Trevorrows "Jurassic World". Ein notwendiger Diskursbeitrag wider Volkes Stimme ist Hubertus Siegerts Dokumentarfilm über drei Strafvollzugskonzepte "Beyond Punishment".


Nach der Pressevorführung von "Jurassic World" kommen R. und ich auf das inzwischen gut zwei Jahrzehnte alte Original, auf "Jurassic Park" zu sprechen. "Extrem gut gealtert" sei Steven Spielbergs Film, meint R. Ich widerspreche zwar erst, weil ich bei einer Wiederbegegnung vor ein paar Jahren nicht unbedingt begeistert war, überlege mir dann aber hinterher: Vielleicht liege ich falsch, vielleicht bin nur ich selbst schlecht gealtert, aber Spielbergs Dinosaurier sind immer noch so awesome, wie sie mir 1993 natürlich durchaus vorgekommen waren. Oder vielleicht liegt es (genau anders herum) auch daran, dass noch zuviel von meinem jugendlichen Selbst in meinem heutigen steckt, und ich mir deshalb auf unangenehme Weise selbst begegne, wenn ich "Jurassic Park" schaue - jedenfalls will mir der nostalgische Blick auf diesen quintessentiellen Blockbuster der frühen 1990er noch nicht gelingen.

Jetzt also "Jurassic World". Die Richtung gibt ein Dialog früh im Film vor: Gerade einmal acht Saurierarten habe es bei der Eröffnung des Parks auf der Insel Nublar gegeben, meint Gray Mitchell zu seinem älteren Bruder Zach auf dem Weg eben dorthin. Heute seien es ganze 20. Später konkretisiert die Parkmanagerin Claire Dearing: Nicht 20 "historische" Saurierarten präsentiere die modernisierte Touristenfalle, sondern 20 "Saurierdesigns" (beziehungsweise: "Saurierprodukte"). Da das Publikum regelmäßig nach neuen Attraktionen verlange, rüste man die prähistorischen Wiedergänger gentechnisch zu "Hybriden" auf. Anders ausgedrückt: Man bastelt an einer Vergangenheit, die nie existiert hat.

Es versteht sich von selbst, dass sich diese Ausführungen nicht nur auf einen fiktionalen Erlebnispark beziehen, sondern auch auf einen millionenschweren Blockbuster, der exakt denselben Namen trägt. Wie schon Spielbergs Original, so ist auch der von Colin Trevorrow inszenierte vierte Beitrag zum Franchise in einer Reflexionsschleife gefangen: Der Park ist wie der Film, der Film ist wie der Park (nur, dass, in den Worten Miriam Hansens, die Zuschauer des Films, anders als die des Parks, Dinosaurier sehen, ohne gefressen zu werden). Hinzu kommt diesmal: Der neue Film ist wie der - andauernd augenzwinkernd herbeizitierte - alte Film. Nicht nur der postmoderne Tonfall, auch das dramaturgische Prinzip von "Jurassic World" kommt mehr als nur vage bekannt vor: Der neueste Star des Parks hört, fährt Dearing fort, auf den zielgruppenoptimierten Namen Indominus Rex (und verfügt, stellt sich später heraus, über einige Spezialfähigkeiten wie zum Beispiel Tarnfarben). Momentan befinde er sich in einem eigens konstruierten Hochsicherheitskäfig. Selbstverständlich bestehe nicht die geringste Gefahr, dass…



Also alles noch einmal: Größenwahnsinnige Wissenschaftler (und neu: Militärs), staunende Kinderaugen, jede Menge weit aufgerissene Sauriermäuler. Die Unterschiede zum Originalfilm betreffen das Personal, aber auch den Rhythmus. Langsamer Spannungsaufbau (man erinnert sich: das Wasserglas, das mit den nahenden Saurierschritten zu vibrieren beginnt) ist Trevorrows Sache offensichtlich nicht, auch für die Erhabenheit der Riesenechsen interessiert er sich kaum - überhaupt sind die Saurier, könnte man sagen, kein Problem der Sichtbarkeit mehr, sie müssen nicht mehr aufwändig versteckt und langsam, Schritt für Schritt enthüllt werden. Eher scheint sich der Freizeitpark in den letzten 23 Jahren in ein überdimensioniertes "Big Brother"-Haus verwandelt zu haben: Wo auch immer die Dinos sich aufhalten mögen, irgendeine Kamera ist immer in der Nähe.

Zu sich selbst kommt "Jurassic World" ausschließlich in den (zahlreichen) Actionszenen. Die sind nicht allzu exzessiv, aber effektbewusst und dynamisch gestaltet (leider trotzdem wieder einmal komplett überflüssig: die 3D-Technik), und enthalten einige schöne Ideen. Die schönste sind durchsichtige, kugelrunde, eher so mittelgut gepanzerte Gefährte, mit denen die Besucher das Saurier-Wildlife fast hautnah besichtigen können. Aus der menschlichen Innenperspektive sind die gläsernen Vehikel ideale Wahrnehmungsdispositive, beziehungsweise regelrechte rollende Allmachtversprechen - aus der saurischen Außenperspektive stellen sie lediglich Nüsse dar, die geknackt werden wollen. Auch die digital simulierte Expressivität der Riesenechsen gefällt. Der Indominus Rex selbst will zwar nie so recht als die überlebensgroße Gefahr erscheinen, als die er aufwändig beworben wird, umso schöner sind dafür eine Gruppe Raptoren, die in bester Spielbergmanier anthropomorphisiert werden. Und der gute, alte T-Rex mischt auch wieder mit.

Der im Großen und Ganzen unauffällige menschliche Cast hat gegen die Echsen einen schweren Stand. Unangenehm sticht Chris Pratt als Dinotrainer Owen Grady heraus: ein humorloses Alphatier, das so verdammt cool ist, dass alle paar Minuten eine andere Figur darauf hinweisen muss, wie verdammt cool er doch jetzt gerade wieder ist. Weil er zum Beispiel so schön Motorrad fährt. Regelrecht spektakulär ist dagegen Bryce Dallas Howard als Dearing. Mit ihrer hervorragenden Nase sieht sie fast selbst aus wie ein prähistorischer Vogel, außerdem ist sie immer hervorragend gekleidet (in einer besonders spektakulären Szene knöpft sie, ihrerseits stets effektbewusst, ihre Bluse auf und krempelt sich die Ärmel hoch) und verkörpert bis in die hellroten Haarspitzen eine äußerst fotogene Form kapitalistischen Wahnwitzes. Von der schon auch wieder allgegenwärtigen Familienideologie hält sie dagegen - zunächst - wenig. "Was, Du weißt nicht, wie alt Deine Neffen sind?", wird sie einmal von Grady gefragt. Einen schlimmeren Vorwurf gibt es nicht in Spielbergland. Ein Spielbergkind to end all Spielbergkinder ist wiederum Ty Simpkins als Gray Mitchell: Ein in fast schon unverschämter manier auf süß gebürsteter Lockenkopf, dem es in Sekundenschnelle gelingt, von Tränen ob der bevorstehenden Scheidung der Eltern auf übers ganze Gesicht strahlende Saurierbegeisterung umzuschalten.

Lukas Foerster

Jurassic World - USA 2015 - Regie: Colin Trevorrow - Darsteller: Chris Pratt, Bryce Dallas Howard, Irrfan Khan, Vincent D"Onofrio, Ty Simpkins, Nick Robinson, Jake Johnson, Omar Sy - Laufzeit: 124 Minuten.

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In der Bronx folgt auf eine Rempelei unter Nachbarsjungen bitteres Blutvergießen. Der als Täter identifizierte junge Mann weist jede Schuld von sich und sitzt unter den drakonischen Haftbedingungen der USA ein. Mutter und Schwester des toten Jungen nehmen am "Restorative Justice"-Programm teil, bei dem Überlebende und Hinterbliebene von Gewaltverbrechen in großen moderierten Gesprächskreisen auf Täter (selbstverständlich aus anderen Zusammenhängen) treffen, um auf diese Weise ein Stück weit mehr Frieden im Leben zu finden. - In Norwegen führt eine jugendliche Eifersüchtelei zum gewaltsamen Tod einer jungen Frau. Der Täter, ein junger Mann, sitzt im liberalsten Vollzug der Welt und kommt nach wenigen Jahren wieder frei. Der Vater der ermordeten Frau fühlt sich vom System zu wenig geschützt und verweigert jede Zusammenkunft mit dem Täter. Da dessen Familie in der Nachbarschaft lebt, zieht er in einen anderen Teil des Landes. - 1986 wird der deutsche Diplomat Gerold von Braunmühl vor seiner Wohnung ermordet. In einem Schreiben bekennt sich die RAF zu der Tat, doch die Mörder wurden nie identifiziert. Bis heute sucht der damals 18-jährige Sohn Patrick von Braunmühl nach einer Antwort auf die Frage, warum sein Vater sterben musste. Er trifft auf Manfred Grashof, einen 1977 wegen Mordes an einem Polizisten zu lebenslanger Haft verurteilten Mitbegründer der ersten Generation der RAF, der in den späten 80ern auf Grund seiner glaubhaften Distanzierung vom Terror begnadigt wurde. "In den USA wäre ich hingerichtet worden", sagt er, der heute offenbar in zwar überschaubaren, aber angenehmen Wohnverhältnissen in Berlin lebt. Im Gespräch zwischen von Braunmühl und Grashof überwiegt jedoch das Unausgesprochene das, was zur Sprache kommt.

Drei Morde in drei Ländern der westlichen Hemisphäre, drei Täter, drei Konzeptionen des Strafvollzugs - dreimal Hinterbliebene, dreimal Strategien zur Traumabewältigung. In seinem ruhigen, fast meditativen Portätfilm "Beyond Punishment" geht der auf essayistische Dokumentarformen spezialisierte Filmemacher Hubertus Siegert der Frage nach, wie mit dem langen Nachspiel von Gewaltverbrechen jenseits rächender Konzeptionen des Strafvollzugs umzugehen sei. Im Fokus stehen Strategien, die über räumliche Trennung hinausgehen: Setzt der gesellschaftliche Umgang mit Gewaltverbrechern bislang auf deren Verwahrung und möglichst langfristige Absonderung aus dem gesellschaftlichen Leben, interessiert sich Siegert für Potenziale, aber auch Beschränkungen der dialogischen Aufarbeitung - sowie die Bedingungen derer (Un-)Möglichkeit.



"Beyond Punishment" ist vor allem ein Beobachtungsfilm. Steile Thesen oder gar eine lautstark vorgetragene Agenda sind Siegerts Sache nicht (auch wenn am Ende des Films via Voiceover das durchaus heikle Fazit in den Raum gestellt wird, dass es für die Überlebenden und Hinterbliebenen darum ginge, aus dem, was ihnen angetan wurde, etwas zu schaffen). Stattdessen gestattet Siegert den Luxus und den diskursiven Freiraum zur Sammlung, Reflexion und Problematisierung - wohlgemerkt: dem Publikum, denn der Film selbst kaut nichts vor, versucht, trotz seinem zuweilen etwas pathetischen ausgestellten Ernsts, nichts einzuflüstern und zu insinuieren. Wenn man sich vor Augen hält, wie das Reizthema "Strafvollzug" im Netz - als einem mittlerweile zentralen Ort gesellschaftlicher Diskussionen - immer wieder hochgekocht wird und wie sich in den teils hysterischen Reaktionen von "Volkes Stimme" die Lust am rächenden Gewaltexzess auslebt (stets unter der Bedingung, ja auf der Seite des Guten zu stehen und deshalb legitimiert zu sein), sind behutsame, auf Komplexität setzende Diskursbeiträge wie dieser notwendig. Gerade und insbesondere auch, weil es um die Überlebenden und Hinterbliebenen und um die Gestaltung ihres Lebens nach der Tat gehen muss - ein Aspekt, den die lautstarken "Rache"-Gröhler im Netz oft geflissentlich außer Acht lassen.

Siegerts behutsamer, aber auch nicht übermutternder Film lässt erst einmal zu. Die Tränen genauso wie das Unbehagen, die Sprachlosigkeit, den langsam fortschreitenden Prozess, die heikle Äußerung, das mulmige Gefühl. Er behauptet nicht, allgemeine Lösungen für etwas gefunden zu haben, zu dem es keine allgemeinen Lösungen geben kann. Die Aufarbeitung eines Gewaltverbrechens ist, auf beiden Seiten, eine Sache der Betroffenen. Ihre Schicksale eignen sich nicht zur Instrumentalisierung einer politischen Agenda. Man kann ihnen lediglich zuhören, ihnen Raum geben, gesellschaftlichen Trost.

Thomas Groh

Beyond Punishment - Deutschland 2015 - Regie: Hubertus Siegert - Laufzeit: 103 Minuten.