Magazinrundschau

Kunstwerke sprechen als Individuen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.03.2021. Die NYT versucht zu hören, was die in Amerika gelandeten Kunstschätze aus Afghanistan ihr sagen wollen. Tablet denkt über Bekenntniszwang und Meinungsfreiheit nach. The Atlantic würdigt großartige weibliche Kriegsreporter. Africa is a Country schildert die immer noch existierende Erbsklaverei in Mali. The Point entdeckt die Meteorologen Albert Camus und Adrien Proust. American Prospect schaudert vor den neuen global agierenden privaten Sicherheitsdiensten. Die LA Review of Books taucht ein ins Werk des ukrainisch-sowjetischen Dichter Mykola Baschan.

New York Times (USA), 07.03.2021

In einem Beitrag für das neue Heft überlegt Matthieu Aikins, was mit den oft über dunkle Kanäle in die großen Museen gelangten Kulturschätzen aus Afghanistan geschehen soll, mit 800 Jahre alten Marmortafeln aus Ghazni etwa: "Wenn wir genau hinhören, erzählen die Objekte ihre Geschichte. Sogar unsere Handys könnten von Ozeanreisen und den Händen erzählen, die sie hergestellt haben. Doch Kunstwerke sprechen als Individuen. Die Frage nach ihrer Herkunft zielte ursprünglich auf ihre Authentizität und damit auf ihren Wert. Einen echten Velazquez erkennt man vielleicht am Kaufvertrag, einen antiken Tisch an seiner Erwähnung in einem Testament aus dem 17. Jahrhundert. Neuerdings jedoch wird die Provenienzforschung dazu eingesetzt, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Auch in der Museumswelt geben längst neue Leute den Ton an und stellen heikle Fragen nach Macht und Ungleichheit, nach der Konzentration wertvoller Antiquitäten in den westlichen Museen und ob ein Teil der Objekte nicht restituiert werden sollte … Begegnen wir diesen Schätzen hinter Museumsglas, wissen wir in der Regel nichts über ihre Herkunft und ihre Reise und denken nicht an leere Gräber oder Gebäude in einem fernen Land. Aber weil viele der Marmortafeln aus Ghazni epigrafisch sind, können sie anhand ihrer Schrift identifiziert und mit Fotos von ihrem Ursprungsort in einer Moschee oder einem Palast vor dem Krieg verglichen werden. Wir lernen ihre Vergangenheit kennen, die auch die unsere ist. Der Marmor erzählt von Raub und Gewalt, und er fragt: Wem gehört die Geschichte Afghanistans?"

Außerdem: Joshua Hammer erzählt die Geschichte von Paul Rusesabagina, der als Hotelmanager in Kigali Überlebenden des Genozids an den Tutsi Asyl gewährte, jetzt aber verdächtigt wird, selbst einer der Rebellenführer zu sein.
Archiv: New York Times

Respekt (Tschechien), 07.03.2021

Aus Anlass des tschechischen Filmpreises Český Lev, der soeben an die polnische Regisseurin Agnieszka Holland für ihren Film "Scharlatan" vergeben wurde, schaltet Respekt ein Gespräch frei, das Jindřiška Bláhová im Herbst mit der Filmemacherin geführt hat, die darin unter anderem über die komplizierte polnische Gegenwart und die widersprüchliche Politik der Populisten spricht: "Die aktuelle Regierung ist stark antikommunistisch und antirussisch. Gleichzeitig bewegt sie sich auf einen Autoritarismus zu, in dem Wahlen immer weniger frei sind und die Propaganda immer stärker. Wahlen werden durch Geld und Medien manipuliert. In Wahrheit entspricht es recht getreu den Herrschaftsmodellen, die für den Sozialismus typisch sind", so Holland. "Auch Putinsche Ideen setzt die Regierung um, etwa die Verflechtung von Kirche und Staat oder das Herauspicken und Stigmatisieren von Minderheiten als Feinde. Gegenwärtig ist es die Hetzjagd auf die LGBT-Community, die allmählich an den Antisemitismus vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert." Menschen, die offenbar von einer komplizierten Realität verunsichert seien, biete die populistische Regierung eine Sicherheit an, die sie vor den "Schrecken der Welt" schütze, zu denen Flüchtlinge und in einem gewissen Sinne auch Frauen gehörten. "Vor einigen Jahrhunderten besaß der weiße, meist katholische und heterosexuelle Mann alle Rechte. Dann begann sich seine Torte der Rechte und Privilegien zu verkleinern, und andere erhielten Stücke davon: Kinder, Sklaven, Frauen, farbige Menschen und jetzt auch noch Tiere. Gleichzeitig wandelt sich die Struktur der Zivilisation, in der die physische Kraft des Mannes immer nutzloser wird. Da ist eine gewisse Frustration verständlich."
Archiv: Respekt

Tablet (USA), 08.03.2021

Zwangskurse zur Kurierung von 'unbewusstem Rassismus' sind in Europa noch nicht de rigueur. In Amerika und Britannien werden sie es mehr und mehr - und zwar ganz oben wie ganz unten. Im Februar musste der in London amtierende Vorstandsvorsitzende der internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, Bill Michael, von seinem Posten zurücktreten, weil er seinen gut bezahlten Angestellten, die in der Coronakrise keine Boni verdienen konnten, empfahl, mit dem Jammern aufzuhören und er außerdem die Vorstellung von 'unbewusster Voreingenommenheit' als 'totalen Blödsinn' bezeichnete, berichtete die Daily Mail. Auf der anderen Seite des Atlantiks wehren sich der Zwölftklässler William Clark und seine Mutter gerichtlich gegen eine Schule in Nevada, die droht, dem Jungen den Abschluss zu verweigern, wenn er sich nicht einem obligatorischen "Training für soziale Gerechtigkeit" unterzieht, berichtet Wendy Kaminer in Tablet. "Der Lehrplan erklärt unter dem Titel 'Soziologie des Wandels', dass 'umgekehrter Rassismus nicht existiert', und verlangt von den Schülern, 'Bekenntnisse über ihre geschlechtliche, sexuelle, religiöse und rassische Identität abzulegen'; dann 'werden diese Bekenntnisse einem Verhör, einer Prüfung und einer abfälligen Etikettierung unterzogen', heißt es in Clarks Beschwerde. William, ein hellhäutiger, 'gemischtrassiger' Schüler, ist der einzige offensichtlich weiße Schüler in seiner Klasse, und seine verschiedenen Identitäten, einschließlich sein Christentum, stufen ihn als Unterdrücker ein: Laut Lehrplan hat er einen 'inhärenten Glauben an die Minderwertigkeit' anderer und wird angewiesen, die ihm von seiner Mutter, einer konservativen Christin, eingeflößten Prinzipien zu 'verlernen'. Die Clarks ... berufen sich auf sein Recht nach dem Ersten Verfassungszusatz gegen erzwungene Rede, das von Richter Robert H. Jackson in einem bahnbrechenden Fall eloquent beschrieben wurde, der das Recht der Zeugen Jehovas bestätigte, nicht vor der Flagge salutieren zu müssen."

Weitere Artikel: Fredric Brandfon schreibt über die jüdische Identität in den Werken der italienischen AutorInnen Carlo Levi, Natalia Ginzburg, Giorgio Bassani, Elsa Morante und Silvano Arieti. Raz Greenberg empfiehlt den "brillanten" Comic "Tunnel" des israelischen Zeichners Rutu Modan.
Archiv: Tablet

The Atlantic (USA), 06.03.2021

In den Trump-Jahren ist die Auslandsberichterstattung immer mehr geschrumpft. Auch vor diesem Hintergrund würdigt George Packer zwei Bücher von bzw. über weibliche Kriegsreporter, die einen ganz eigenen Blick auf den Krieg warfen: die Fotografin Catherine Leroy, Kate Webb und Frances FitzGerald waren in ihren Zwanzigern und ohne formale Ausbildung, als sie den Vietnamkrieg begleiteten. Oder Margaret Coker, die in ihrem Buch "The Spymaster of Baghdad" von einer irakischen Spionage-Eliteeinheit namens "die Falken" erzählt, "die aus einfachen Männern besteht, die geholfen haben, ihr Land vor dem Ansturm des IS zu retten. Cokers Berichterstattung über diese Männer, ihre Familien und die Familie einer jungen Frau, die von den Terroristen rekrutiert wurde, ist so akribisch, dass sie unsichtbar in eine geschlossene, manchmal beängstigende Welt eindringt und sie mit filmischen Details schildert. Dies ist eine Geschichte von irakischem Heldentum und Leid, ohne dass ein Amerikaner in Sicht wäre."
Archiv: The Atlantic

Africa is a Country (USA), 05.03.2021

Im September 2020 wurden in Mali vier Anti-Sklaverei-Aktivisten ermordet. Im Westen Malis, muss man dazu wissen, gibt es noch eine Form der Erbsklaverei: Wessen Vorfahren Sklaven waren, der ist auch selbst Sklave, erklären die Wissenschaftler Bakary Camara, Leah Durst-Lee, Lotte Pelckmans und Marie Rodet, die eine Studie zu dem Thema planen, in einem mit vielen Links unterlegten Artikel. "Auch heute noch schließen Armut und Diskriminierung Malier mit zugeschriebenem 'Sklavenstatus' von sozialer Mobilität aus, wie die Benbere-Blog-Kampagne #MaliSansEsclaves deutlich macht. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart haben einige Opfer der auf Abstammung basierenden Sklaverei in der Migration einen Weg gefunden, der Sklaverei zu entkommen. Aber ob sie nun in Frankreich oder in Mali leben, als Einwanderer der ersten, zweiten oder dritten Generation, transnational auferlegte soziale 'Embargos' werden genutzt, um diejenigen zu bestrafen, die versuchen, die soziale Ordnung zu verändern. Wenn beispielsweise Jugendliche in der Diaspora außerhalb der 'richtigen' sozialen Gruppe heiraten wollen, können ihre Verwandten in der Heimat für eine solche Übertretung hart bestraft werden. Sklaverei ist im postkolonialen Mali nie kriminalisiert worden. ... Viele Beamte behaupten, die Opfer seien keine 'Sklaven', sondern Teilnehmer an 'traditionellen' Praktiken."

Weiteres: William Shoki weist auf die Reihe "Afrikanischer Feminismus im Dialog" und weitere Videos zum Thema hin.

New Yorker (USA), 15.03.2021

In einem Artikel der aktuellen Ausgabe erkundet Amanda Petrusich, wie die Streamingdienste herkömmliche Ordnungssysteme für Musik und Genres durcheinanderwirbeln: "Seit Streamingdienste die Plattenläden ersetzen, hat sich auch die Art, Musik zu entdecken, zu kaufen und zu ordnen verändert. Spotify arbeitet mit Playlists, sortiert Musik nach Stimmung, was vielleicht noch vager ist als die Etikettierung mit einem Genre, aber ganz gut dazu passt, wie und warum wir Musik hören … Trotzdem hat das 'Genre' noch nicht ausgedient und ist bedeutsam bei der Vermarktung eines neuen Künstlers. Aaron Bay-Schuck, CEO von Warner Records erklärt, dass die Einordnung in ein Genre ausschlaggebend ist für die Art und Weise, wie ein Künstler von einem Major-Label der Öffentlichkeit vorgestellt wird: 'Wir fragen uns: Wer ist das Publikum für diese Musik, wer die Fans, was ist unser Einstieg? Solche Fragen bestimmen unsere Strategie fürs Radio, die Presse und das Marketing.' Er gibt zu, dass es schwierig sein kann, das Ästhetische und das Musikalische in Einklang zu bringen. 'Bei der Bestimmung des Genres in rein musikalischer Hinsicht geht es um musikalische und lyrische Bedeutungsträger, die Performance, den Produktionssound. Aber vom Marketingstandpunkt gesehen dreht sich alles um die kontextuellen Bedeutungsträger. Gefährlich wird's, wenn beides nicht zusammenpasst.'"

Außerdem: Peter Hessler schaut hinter die Kulissen des Handelskriegs zwischen den USA und China und entdeckt, dass Produkte aus Chinas in den USA gefagter sind denn je, ein Blick auf Amazon genügt. Und Peter Schjeldahl stellt uns den Pop-Art-Künstler Brian Donnelly aka KAWS vor, der sehr erfolgreich nah am Kitsch surft.
Archiv: New Yorker

The Point (USA), 04.03.2021

Wussten Sie, dass Albert Camus kurze Zeit als Meteorologe gearbeitet hat? Laura Marris, die gerade Camus' "Die Pest" übersetzt, stieß darauf bei ihren Recherchen zu den vielen Wetterangaben im Roman. "Fast ein Jahr lang, von 1937-38, trug er einen Laborkittel am Institut für Geophysik in Algier und katalogisierte Messungen des atmosphärischen Drucks von hunderten von Wetterstationen in ganz Nordafrika. Die Daten hatten sich angehäuft, und trotz der Arroganz ihrer imperialen Ambitionen konnten die Männer, die das Institut leiteten, nicht genug Geld auftreiben, um einen Wissenschaftler einzustellen, der für diese 'anspruchsvolle und in der Tat verblüffende Aufgabe' ausgebildet war. Dennoch war Camus' Vorgesetzter, Lucien Petitjean, mit seiner Arbeit zufrieden. Sie muss ihm ein detailliertes Bild des Wetters gegeben haben, das so trocken und klinisch war, dass es im Widerspruch zu seiner Erfahrung der natürlichen Welt stand. 'Wie in allen Wissenschaften der Beschreibung (Statistik - die Fakten sammelt) ist das größte Problem in der Meteorologie ein praktisches Problem: das des Ersetzens fehlender Beobachtungen', schrieb er in sein Notizbuch. 'Die Temperatur schwankt von einer Minute zur nächsten', stellte er klar. 'Dieses Experiment verschiebt sich zu sehr, um in mathematischen Konzepten stabilisiert zu werden. Die Beobachtung stellt hier einen willkürlichen Ausschnitt der Realität dar.' Bald ließ Camus das Geophysikalische Institut hinter sich und arbeitete für die Zeitung Alger Républicain. Aber seine Sensibilität für die Schwankungen des Wetters blieb ihm erhalten, besonders als er beschloss, über eine Seuche zu schreiben. Für seinen Roman griff er auf eine wissenschaftliche Quelle mit literarischen Bezügen zurück - das 1897 erschienene Buch 'La défense de l'Europe contre la peste'. Der Autor war kein Geringerer als Adrien Proust, Epidemiologe und Vater des Schriftstellers Marcel."
Archiv: The Point

Bloomberg Businessweek (USA), 04.03.2021

Es lohnt sich, diesen Artikel über Pfizer und die anderen Pharmakonzerne und die Regierungen in der Coronakrise zu lesen, auch wenn er die Erwartungen gewissermaßen enttäuscht, denn im Grunde erzählt er, dass alle in der Coronakrise mehr oder wenig ihr Mögliches taten, dass sie sich dabei manchmal irrten, dass sie - wie die auch  andere Pharmakonzerne aus Gewinnstreben agieren - aber nebenbei auch, dass noch nie in der Menschheitsgeschichte ein Impfstoff so schnell gefunden und letztlich auch so schnell geliefert wurde. Pfizer ist mit seinem neuen Chef Albert Bourla auch beachtliche Risiken eingegangen, als sich das Unternehmen mit Biontech zusammentat: "Als Bourla im Januar 2019 das Ruder bei Pfizer übernahm, bestand seine Mission darin, sich auf Blockbuster-Medikamente zu konzentrieren und einen möglichen Streit mit der Trump-Regierung über die Preisgestaltung von Medikamenten abzuwehren. Das Coronavirus gab ihm sofort einen neuen Fokus. Die wenig bekannte Partnerschaft mit einem deutschen Biotech-Unternehmen machte ihn zum Helden der Pandemie. Es gab erhebliche Zweifel, dass mRNA-Impfstoffe funktionieren würden, aber Bourlas Bereitschaft, auf die neue Technologie zu setzen, zahlte sich aus." Und doch glauben die Autoren, dass die Welt aus der Krise lernen und in einer nächsten Krise effizienter reagieren wird.

American Prospect (USA), 03.03.2021

Noch so eine Sache, über die man normalerweise nicht nachdenkt: Rund 60 Prozent der weißen (und fünf Prozent der schwarzen) Südafrikaner lassen sich von privaten Sicherheitsdiensten beschützen. Eine Tendenz, die es nicht nur in Südafrika gibt, berichtet Amelia Pollard. Auch in den USA wächst dieser Sektor enorm: Dort gibt es inzwischen fast doppelte so viele private Sicherheitsleute wie Polizisten. "Private Sicherheitsdienste werden zur weltweiten Norm, von Söldnerarmeen bis hin zu bewaffneten Wachen für die Konzerne und Eliten der Welt. Zwei der größten globalen Firmen, Allied Universal und G4S, stehen kurz vor einer Fusion. Sollte sie zustande kommen, würde das neue Unternehmen zu den fünf größten privaten Arbeitgebern der Welt gehören. ... Der Aufstieg der privaten Sicherheitsbranche bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten polizeilichen Aufgaben im Laufe der Jahre immer mehr verwischt wurde. Zum Beispiel ist G4S, ein multinationales Sicherheitsunternehmen mit Sitz in Britannien, für die Überwachung einer Reihe von US-Botschaften auf der ganzen Welt verantwortlich. (G4S ist auch einer der Hauptakteure in Südafrikas privater Polizeiszene.) Und das ist erst der Anfang. Private bewaffnete Wachleute patrouillieren zunehmend in Bundesgebäuden, Banken, Schulen, Supermärkten, Krankenhäusern und neuerdings auch in Impfstellen. Private Polizisten leiten privatisierte Gefängnisse. Söldner übernehmen Kampfaufgaben für das US-Militär."

LA Review of Books (USA), 03.03.2021

Uilleam Blacker stellt den ukrainisch-sowjetischen Dichter Mykola Baschan vor, dessen frühe Gedichte gerade ins Englische übersetzt wurden. Baschan war eine komplexe Figur: In seiner Jugend tendierte der jüdische Dichter zum Westen und musste in den dreißiger Jahren ernsthaft befürchten, von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Der Zufall wollte es, dass ein Gedicht von ihm Stalin so gut gefiel, dass er ihn mit dem Leninorden auszeichnete. Baschan trat in die Partei ein und wurde Teil des sowjetischen Apparats - aber nicht ganz. Immer ist etwas Ambivalentes in seinen Gedichten zu entdecken, schreibt Blacker. "Abweichungen vom offiziellen Diskurs finden sich zum Beispiel in 'Ghetto in Uman' (1929), das die Notlage der alten jüdischen Gemeinde von Baschans Heimatstadt beschreibt. Das Gedicht, das in einer charakteristischen expressionistischen Tonart geschrieben ist, stellt diese Gemeinde als rückständig und abergläubisch dar ('Buckeliges, altes Zion' mit seinen 'dünnen, wütenden Synagogen'), und spiegelt damit eine allgemeine sowjetische Ablehnung traditioneller religiöser Gemeinschaften wider. Doch Baschans Darstellung des düsteren Ghettos ist alles andere als eine Propagandatirade. Die jüdische Gemeinde von Uman erscheint belagert und prekär, geprägt von jahrhundertelanger Isolation und Verfolgung ('erschöpftes, verleumdetes Volk!'), doch würdevoll in ihrem Leiden. Die Kosaken, oft genug das Instrument dieser Verfolgung waren, erscheinen als eine 'verzweifelte Bande'."

Elet es Irodalom (Ungarn), 05.03.2021

Im Interview mit Ádám Galambos erklärt der Maler Ákos Matzon, einer der bedeutendsten Vertreter der abstrakten Kunst in Ungarn, warum er den Begriff der Kunst oder Kultur eher eng fassen möchte: "Wenn wir von der Wurstfüllung bis Beethoven alles zur Kultur zählen, dann verwischen wir die Dinge. Zur Kultur gehören dann die klassischen griechischen Ideale ebenso wie die heutigen populistischen Ideen. Kultur ist in ihrer Gesamtheit die Voraussetzung für die Veredelung des Menschen. Es reicht nicht aus, sie bloß ästhetisch zu definieren, die ethische Annäherung ist ebenfalls sehr wichtig. (…) Jede Ära und jede Ideologie braucht Provokation. Dies ist aber eine sehr heikle Sache. Denn wenn heute etwas im Interesse einer Gruppe steht, wird dies nicht durch durch Argumente untermauert oder konstruktiv kritisch formuliert, sondern mit Geschrei verkündet, so dass andere Gruppen und Interessen direkt verletzt werden. Dies müssten wir irgendwie hinter uns lassen, damit wir unsere Beziehungen normalisieren können. Hier kann nur Kultur helfen, indem sie dem Publikum Normalität bietet."

Boston Review (USA), 05.03.2021

Dass die Franzosen ein Ding mit Amerika laufen haben, ist bekannt. Antiamerikanismus ist in Frankreich in allen politischen Fraktionen endemisch. Aber umgekehrt gilt das auch, und es ist weniger bekannt. Es sind vor allem linke amerikanischen Medien, inklusive New York Times oder New York Review of Books, die wieder und wieder den französischen Begriff der "Laïcité" attackieren und Vorträge darüber halten, wie Frankreich mit dem Problem des Islamismus umgehen sollte (meistens läuft es auf Sozialarbeit und Pädagogik hinaus). Laizismus selbst sehen sie als "Fundamentalismus der Aufklärung", ein Begriff, den ursprünglich Ian Buruma und Timothy Garton Ash von Mohammed Bouyeri übernahmen, der ihn auf einen Zettel schrieb, den er dann Theo van Gogh mit einem Messer in die Brust rammte. Auch die Autorinnen eines großen Artikels in der Boston Review über die neue französischen Gesetzgebung gegen den politischen Islam, Elizabeth Shakman Hurd und Nadia Marzouki, diagnostizieren in Frankreich eine Religion des Säkularismus: "Am 1. Februar hatte der Innenminister Gerald Darmanin im Radio gesagt: 'Wir können nicht mit Leuten reden, die nicht unterschreiben können, dass das Gesetz der Republik über dem Gottes steht'. Olivier Roy bemerkte, dass diese polemische Aussage eine 'überraschende Ignoranz über das Wesen von Religion und die Stellung der Religion gegenüber dem Staat ausdrückt. Kein Gläubiger kann sagen, dass das Gesetz der Republik über dem Gottes steht.' Das Statement des Ministers verkörpert die Tendenz zu einer Sakralisierung des Gesetzes." Hier eine längere Zusammenfassung des Radiogesprächs mit Darmanin.
Archiv: Boston Review