Im Kino

Rasantes Abgleiten

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann, Lukas Foerster
03.08.2022. In Kiyoshi Kurosawas Film "To the Ends of the Earth" bewegt sich die junge Yoko durch Usbekistan, immer nur ein oder zwei Schritte entfernt vom absoluten Off. Sein ontologische Unbehagen zelebriert der Regisseur hier ausgesprochen komisch. In "Les Magnétiques" reproduziert Regisseur Vincent Cardona, Jahrgang 1980, die achtziger Jahre mit einer Archäologie der Medien: Sehr akzeptabel.


Es knirscht der Reis in ihrem Mund, wenn Yoko (Atsuko Maeda) ein unzureichend gegartes traditionelles usbekisches Gericht verkostet; und es knirscht verdächtig im Gewinde einer rabiaten usbekischen Theme-Park-Attraktion (die auch problemlos als mittelalterliches Folterwerkzeug durchgehen könnte), von der die junge Frau, wie nichts Gutes in einem Eisenkäfig rotierend, durch die Luft gewirbelt wird. Der mythisch aufgeladene Fisch, den ihr die Locals versprochen hatten, glänzt derweil mit Abwesenheit, das Fischernetz, das sie neugierig aus einem örtlichen Fluss zieht, bleibt leer. Mehr noch: sie selbst soll Schuld sein an der Abwesenheit des Fischs, weil sie eben eine Frau ist und der Fisch den Geruch von Frauen nicht mag. So etwas in der Art lässt zumindest der unwirsch drauflos polternde Usbeke neben ihr im Wasser durchblicken.

Kurz: Es läuft nicht rund für Yoko in Usbekistan. Im Hotelzimmer sich nach den Strapazen mehr schlecht als recht erholend, kauert sie auf dem Bett, das Kopfkissen umklammernd. In derartige Posen ziehen sich die Figuren in den Filmen des japanischen Regisseurs Kiyoshi Kurosawa, von dem nun endlich einmal eine Arbeit zumindest einige wenige deutsche Kinos erreicht, immer wieder zurück: Eine embryonale Schutzstellung, die freilich, sobald man oder frau den Mutterleib verlassen hat und sich mutterseelenallein den vielschichtigen Zumutungen der Welt und des Sozialen ausgesetzt sieht, etwas Hilfloses und Unangemessenes hat. Aber die Kurosawa-Figuren bleiben nicht bei dieser Pose stehen, sie igeln sich nicht dauerhaft ein, sondern richten sich wieder auf, treten wieder vor die Tür, stellen sich der eigenen Geworfenheit.

Im Fall von Yoko kommt hinzu, dass das sich Öffnen zur Welt ihr Job ist. Oder vielleicht wird sie eher für die Simulation einer solchen Öffnung bezahlt, wenn sie als Mitarbeiterin eines japanischen Fernsehsenders, der einen dokumentarischen Beitrag über die ehemalige Sowjetrepublik Usbekistan in Auftrag gegeben hat, vor der Kamera steht. Tatsächlich muss sie, sobald die Kamera läuft, gute Miene zum bösen Spiel machen, muss das ungekochte Reisgericht nicht nur herunterwürgen, sondern auch noch als ein komplexes, faszinierendes Geschmackserlebnis an die Fernsehzuschauer zu Hause vermitteln, muss die Theme Park Attraction from Hell, die ihr die Tränen in die Augen und die Luft aus der Lunge treibt, zum nostalgischen Spaß für die ganze Familie verklären. Wie toll, sowas gibt es kaum noch in Japan, meint sie tapfer lächelnd. Keine ganze Minute vorher hatte sie sich, off camera, übergeben.



Kurosawa filmt den Übergang: wie Yoko sich, sobald die Kamera läuft, zusammenrauft, wie sie mit einem Schlag ein gewinnendes Lächeln auf ihr vorher abgespanntes Gesicht zaubert, wie sie, die sie sonst mit den Menschen in ihrer Umgebung so wenig wie nur irgend möglich interagiert, Augenkontakt zur Kameralinse sucht und fröhlich zu plaudern beginnt. Sogar das Bildformat ändert sich gelegentlich, wenn die Wirklichkeit für das Fernsehen aufbereitet wird. Es geht Kurosawa dabei freilich nicht um einen satirischen Effekt oder gar um Medienkritik. Über das gnadenlos uninspirierte, dabei freilich weniger bösartig zynische als in einem geistlos-routinierten Alltagstrott gefangene Drehteam, dessen Teil Yoko ist, macht sich der Film zwar keine Illusionen; aber letztlich ist das Fernsehen nur eine unter mehreren defizitären Optionen, sich zur Welt zu verhalten. Die Verfälschung der Wirklichkeit durch das Fernsehen wird von Kurosawa nicht angeklagt, sondern betrauert - als Emblem für das grundsätzlich zerschnittene oder vermutlich eher nie wirklich existent gewesene Band zwischen Ich und Welt.

Ähnliches gilt für den Kontakt zwischen Kulturen. Yoko unternimmt zwischen den Drehs auf eigene Faust Expeditionen durch usbekische Städte, ohne dass man so genau sagen könnte, warum sie das tut. Die Orte, die sie aufsucht, sind nicht besonders spektakulär und werden von ihr denn auch kaum einmal eines zweiten Blickes gewürdigt. Von den Menschen, die ihr dort über den Weg laufen, will sie erst recht nichts wissen. Regelrecht panisch entflieht sie beispielsweise einer Gruppe resoluter, aber zweifellos wohlmeinender Marktfrauen, die ihr lokale Spezialitäten andrehen wollen. Überhaupt sind die meisten Leute, mit denen sie es zu tun bekommt, freundlich bis hilfsbereit. Selbst der Typ beim abwesenden Fisch im Fluss meint es vermutlich nicht so. Dass Yoko kein Verhältnis zu diesen Menschen findet wird vom Film, wiederum, nicht ihrem "touristischen Blick" oder gar ihren Vorurteilen zugeschrieben, sondern wird zum weiteren Zeichen einer radikalen Unbehaustheit, die sie gleichzeitig mit allen Menschen teilt und von allen Menschen trennt. (Und die sie außerdem kompensatorisch zu den Tieren hinzieht, von denen allerdings auch keine Erlösung zu erwarten ist, oder höchstens, in der letzten Szene des Films, eine ganz kleine, eher pointenförmige als ernst gemeinte.)



Der Blick des Films auf Yokos Irrwege durch Usbekistan ist kein polemischer und auch kein kritischer. Sondern ein, ganz unmittelbar, philosophischer. Ein Blick, der einem Subjekt gilt, dem die Verortung abhanden zu kommen droht, einem Innen, das plötzlich bemerkt, dass es in das Außen, als dessen Teil es sich vorher imaginiert hatte, gar nicht hineinpasst. Konkret hat Yoko die Fähigkeit verloren, sich den funktional gedachten modernen urbanen Raum nutzbar zu machen. Immer wieder überquert sie dicht befahrene Straßen halsbrecherisch fernab jeder Verkehrsampel, oder rennt quer über jene Grünstreifen am Straßenrand, die nicht für menschliche Begehung gedacht, sondern bloßes Füllmaterial des Urbanen sind. Selbst wenn sie einmal den richtigen Bus erwischt, fühlt sie sich auf jedem Meter der Fahrt sichtlich fehl am Platz.

Bekannt geworden war Kurosawa als Meister eines Horrorkinos des ontologischen Unbehagens, und auch in "To the Ends of the Earth" setzt er eine Welt ins Bild, der alle Sicherheiten abhanden gekommen sind. Das manifestiert sich insbesondere in einer Bewegung des unwillkürlichen, aber rasanten Abgleitens. Eben noch bewegt sich Yoko durch eine sonnendurchflutete, viel begangene Einkaufsstraße, aber gleich darauf sind die Schatten plötzlich lang, die Abstände zwischen den Menschen gähnen und ob die Unterführung, durch die die zierliche Japanerin sich gerade bewegt überhaupt irgendwo einen Ausgang haben wird - wer weiß das schon. Das größte Problem an der Sache ist freilich, dass sich nicht einmal bestimmen lässt, wo genau Yoko falsch abgebogen sein könnte. Wo auch immer sie sich befindet, ist sie nur ein, zwei Schritte, oder eben ein, zwei filmische Schritte entfernt vom absoluten Off.

Andererseits findet Yoko aus dem Off genauso schnell wieder zurück in das Reich einer freilich immer nur vorbehaltlichen Sicherheit. Anders als in seinen Horrorfilmen ist das Unheimliche diesmal nicht Ziel- und Endpunkt der Kurosawa'schen Bildproduktion. Es ist letztlich auch nur eine audiovisuelle Ordnung neben anderen, ein weiterer zum Scheitern verurteilter Versuch, Sinn in eine Welt einzuschreiben, die sich in "To the Ends of the Earth" auf immer wieder neue, überraschende und nicht zuletzt oft auch ausgesprochen komische Weise als spröde und unlesbar erweist.

Lukas Foerster

To the Ends of the Earth - Japan, Usbekistan 2019 - OT: Tabi no owari sekai no hajimari - Regie: Kiyoshi Kurosawa, Darsteller: Atsuko Maeda, Shôta Sometani, Tokio Emoto, Adiz Rajabov - Laufzeit: 120 Minuten.

***



Am Anfang wird runtergezählt. Einmal vor der Bekanntgabe eines Wahlausgangs (Mitterrand, 1981), einmal vor dem Start einer Radiosendung und beide Male auf exakt dieselbe Weise, was aus dem Zählen eine überdeterminierte Handlung macht. Etwas fängt an, etwas sollte beginnen; aber zugleich weist der Countdown darauf hin, dass dieser Auftakt, auf den in beiden Fällen eine etwas angestrengte Hochstimmung folgt, ebenso als ein Ende zu lesen sein könnte, das sich längst schon anbahnt, selbst wenn alle noch lautstark dagegen anfeiern.

In der bretonischen Kleinstadt, in der "Les Magnétiques" einsetzt, ist Feiern das, was zu tun bleibt, wenn es darum geht, der Langeweile, der Enge, der Malaise angesichts einer allzu gewissen Zukunft etwas entgegen zu setzen. Radio machen sie außerdem, was als ein Akt der Rebellion ("Radio Warsaw!") und als Fortsetzung der Party mit erweiterten Mitteln inszeniert wird. Immer noch viel Musik, immer noch angestrengte Hochstimmung; jetzt aber transferiert in ein Setting, das hier, Anfang der 1980er Jahre, sowohl Mikrofone und Abspielgeräte umfasst als auch unzählige Steckverbindungen, Recorder, Kassetten und Bänder. "Les Magnétiques", dessen Titel sich auf die Figuren ebenso beziehen ließe wie auf die Objektwelt, ist wie nebenbei auch ein Film über eine sehr materiale Medienkultur, eine Bestandsaufnahme, aus der sich später, als die Party vorbei ist, einzelne Tapes und Botschaften herauslösen.



In der einfachen, effektiven Dramaturgie, von der Vincent Cardonas Debütfilm bestimmt ist, scheint die Party für Philippe (Thimotée Robart) zu Ende, als er zur Musterung einbestellt und dort auf sehr französische Weise hereingelegt wird. Der Wehrdienst beginnt nur ein paar Einstellungen später, aber weil dies auch einen Wechsel an den Standort Berlin bedeutet, erweist sich das, was wie ein Ende aussah, bald als der mögliche Anfang einer anderen Geschichte, zu deren ersten Kapiteln eine neue Komplizenschaft (Antoine Pelletier), der Radiosender British Forces Broadcasting Service, ein illegaler Club in Ostberlin und ein paar sehr lange Nächte gehören.

In vieler Hinsicht ist "Les Magnétiques" aus generischen Elementen zusammengebaut. Die Provinz und die Welt. Die Sehnsucht und die Zeit danach. Zwei Brüder, von denen der eine laut und der andere leise ist. Eine Frau, in die sich beide verliebt haben. Ein Vater, dem außer Autoritätsgehabe nicht viel einfällt; eine marode Autowerkstatt und eine Stadt, die immer schon zu klein war. Dass er sie verlassen wird, kündigt der ältere Bruder (Joseph Olivennes) nahezu täglich an, jedoch es ist der jüngere, der schließlich geht; so wie es auch der jüngere sein wird, der darauf besteht, an der Rebellion und an der Sehnsucht festzuhalten, was in diesem Film stets unmittelbar in Musik übersetzt wird.

Musik: gesendet, gehört, in Form von Kassetten getauscht, aber auch bereits: gescratcht, gesampelt, an Pulten und Plattentellern gemischt, ist das zentrale Kommunikationsmedium der Figuren. Sound ist das Mittel ihrer Verbindung in einer vielfach geteilten Welt; und dass daraus, beinahe überraschend, ein sehr akzeptabler Film geworden ist, hat zum einen mit der Musikauswahl zu tun (das Programm von Radio Warsaw ff. ist erlesen) und zum anderen damit, dass Regisseur Cardona, Jahrgang 1980, die Welt, von der er erzählt, als das behandelt, was sie ist: ein Phantasma, das am besten im Modus der Beschwörung evoziert wird. In Cannes lief "Les Magnétiques" 2021 im Programm der Quinzaine des Réalisateurs, wurde als bester Debütfilm ausgezeichnet und erinnert in mehr als einer Hinsicht an das Diktum, dass nur diejenigen sich an die 1980er erinnern können, die sie nicht wirklich erlebt haben.

Stefanie Diekmann

Les Magnétiques - Frankreich 2021 - Regie: Vincent Cardona - Darsteller: Thimotée Robart, Antoine Pelletier, Marie Colomb, Joseph Olivennes, Fabrice Adde, Louise Anselme - Laufzeit: 98 Minuten.