9punkt - Die Debattenrundschau

Wogegen keine Gesichtsmaske hilft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2020. Die amerikanischen Wahlen beschäftigen die Medien immer mehr. Die New York Times hat Zugriff auf Donald Trumps Steuererklärungen bekommen: Er hat in den letzten zwanzig Jahren so gut wie keine bezahlt. Unterdessen nominierte er eine fundamentalistische Christin für den Supreme Court. Timothy Garton Ash gratuliert den Deutschen zu dreißig Jahren Wiedervereinigung - aber Vorsicht: die nächsten dreißig werden härter. Der ehemalige Europaparlamentarier Elmar Brok erinnert in der Welt daran, dass der Einigungsvertrag im Europäischen Parlament mit einer größeren Mehrheit angenommen wurde als im Deutschen Bundestag.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.09.2020 finden Sie hier

Politik

Donald Trump nominiert die Richterin Amy Coney Barrett als Nachfolgerin für die verstorbene Ruth Bader Ginsburg zur obersten Richterin. eine konservative Mehrheit im Gericht soll damit für Jahrzehnte gesichert werden. Barrett ist eine fundamentalistische Christin, gehört laut Observer der Erweckungsbewegung "People of Praise" an, in der sich evangelikale und katholische Elemente zu mischen scheinen. In der taz kommentiert Barbara Junge: "Wenn Barrett sagt, für sie wiege der Wortlaut der US-Verfassung (aus dem Jahr 1787 und im Geist desselben) mehr als Entscheidungen, die der Supreme Court seitdem gefällt hat, könnte das im Zweifel die Aufhebung wegweisender Urteile bedeuten. Die Aufhebung der Rassentrennung von 1954 gehört aller Vernunft nach nicht dazu. Aber die Verfassungsmäßigkeit von Abtreibung, festgeschrieben in der legendären Entscheidung Roe vs. Wade von 1973, dürfte mit einer Verfassungsrichterin Barrett zur Disposition stehen."

Die New York Times hat endlich Zugriff auf Donald Trumps Steuererklärungen bekommen. Und es stellt sich heraus, dass Trump in den letzten zwanzig Jahren wegen angeblicher Verluste und trotz Besitztümern im Wert von Hunderten von Millionen Dollar so gut wie nie Steuern bezahlt hat - zuletzt 750 Dollar in den Jahren 2016 und 17: David Leonhardt analyisiert die Befunde: "Es ist ihm gelungen, Steuern zu vermeiden, während er den Lebensstil eines Milliardärs genoss - der er vorgibt zu sein - während seine Unternehmen die Kosten für das decken, was viele als persönliche Ausgaben betrachten würden. Zwar sind die Steuern für wohlhabende Amerikaner in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen, und viele nutzen Schlupflöcher, um ihre Steuern unter die gesetzlichen Sätze zu senken. Aber die meisten wohlhabenden Menschen zahlen immer noch eine Menge Einkommenssteuer."

New-York-Times-Chefredakteur Dean Baquet erinnert daran, dass anders als Trump "jeder Präsident seit 1970 seine Steuererklärungen veröffentlicht hat. Die Tradition stellt sicher, dass ein Regierender mit der Macht, Märkte zu erschüttern und Politik zu verändern, nicht versucht, finanziell von seinen Taten zu profitieren."

Da Populisten immer behaupten das ganze Volk zu repräsentierten und nur von "liberalen Eliten" gehindert zu werden, sind Wahlniederlagen für sie immer schon ein Anlass für Verschwörungstheorien, schreibt Jan-Werner Müller in der FAZ: "Dies zeigt auch: Sogar wenn sie nicht die Macht erringen, beschädigen Populisten die politische Kultur - nämlich indem sie systematisch das Vertrauen in die bestehenden Verfahren untergraben."

In Israel sind die Coronazahlen katastrophal hoch und offenbaren die Fraktionierung der Gesellschaft, schreibt Richard C. Schneider, ehemals ARD-Korrespondent in Israel, bei libmod.de: "Nein, Israel war im Grunde nie eine einheitliche Gesellschaft. Allein der Status-Quo Brief von David Ben Gurion 1947, der den Ultraorthodoxen viel Macht und vor allem: innere Autonomie zugestand, war der Auslöser für das, was jetzt geschieht. Aus der Sicht der Ultras ist ihr heutiges Verhalten die logische Konsequenz eines Zustands, der einer echten Demokratie spottet: Ein Sektor der Gesellschaft handelt nach eigenen Regeln, hat seine eigenen Schulen und macht, was er für richtig hält, erst recht, seitdem er politisch zum Zünglein an der Waage auf dem Weg zur Macht für säkulare Politiker geworden ist. Da sind Anordnungen der Regierung nur nervig."
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Gesellschaft

Der Tagesspiegel-Redakteur Joachim Huber gehört zu den frühen Corona-Opfern in Deutschland. Ihn hat's so schlimm getroffen, dass er in eine künstliches Koma versetzt wurde. Er erzählt im Interview mit Maris Hubschmid auch von den unheimlicheren Aspekten der Krankheit: "Es gab diese Phase, in der ich nicht genau wusste, was ist Realität und was Alptraum. In der Reha in Heiligendamm gab es eine Coronagruppe, und alle haben von diesen brutalen Träumen berichtet. Ich war zum Beispiel der festen Überzeugung, dass mein Schwiegervater gestorben ist. Der lag in einem Sarg und ich lag in der Kiste daneben und dann wurden wir zusammen begraben. Als ich aufgewacht bin, war ich ja erstaunlicherweise nicht tot, habe aber meiner Frau zum Tod ihres Vaters kondoliert."

In der SZ erklären Benjamin Ansari und Kathleen Hildebrand, was die Generation Millenial von der noch jüngeren Generation Z unterscheidet: "Im Proseminar Soziologie würde man sagen: Während der Millennial bestehende Umstände perpetuiert, dekonstruiert der Zler die Realität. Während der Millennial nach radikaler Selbstverwirklichung strebt, kämpft der Zler für die Vervollkommnung der Gesellschaft. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht."

Weiteres: Alexander Kissler, dreißig Jahre Wiedervereinigung im Blick, schickt der NZZ eine Reportage aus Bebra.
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Europa

Timothy Garton Ash gratuliert den Deutschen zu dreißig Jahren Wiedervereinigung. Die Jahre waren gut, aber die nächsten dreißig Jahre werden schwieriger, prophezeit er. Und hält ein Plädoyer für ein westliches Bündnis: "Emmanuel Macrons Schlachtruf für 'europäische Souveänität' ist mit entsprechendem Enthusiasmus aufgenommen worden. Wenn 'europäische Souveränität' bedeutet, dass 'wir Europäer klarer für unsere Interessen eintreten sollten', dann ist das sicher richtig. Aber wenn es bedeutet, 'Wir kommen auch allein zurecht, Yanks', dann ist es gefährlich falsch. Genau wegen der globalen Herausforderungen, die wir in den nächsten dreißig Jahren zu bestehen haben wie die Klimakrise, Künstliche Intelligenz, Pandemien wie Covid 19 und die aggressive Haltung der leninistisch-kapitalistischen Supermacht China, brauchen wir eine globale Partnerschaft der Demokratien, nicht nur eine regionale."

Auch die EU hat ihren - nicht unerheblichen - Teil zur deutschen Wiedervereinigung beigetragen, erinnert der damalige Europaparlamentarier Elmar Brok in der Welt. Er weiß noch, wie Oskar Lafontaine im Februar 1990 in der sozialistischen EP-Fraktion vor einem schnellen Einigungsprozess warnte: "Der junge britische Labour-Abgeordnete und Gewerkschaftler Alan Donnelly informierte uns sofort und sagte, dass er als Berichterstatter des Sonderausschusses dem Rat nicht folgen werde. Im Laufe der nächsten Monate bekämpfte er alle Verzögerungsversuche mit Erfolg. Schon damals mussten 40 Prozent des Einigungsvertrages EU-Recht entsprechen. Donnelly arbeitete so konstruktiv, dass der Einigungsvertrag im Europäischen Parlament fristgerecht und mit einer größeren Mehrheit angenommen wurde als im Deutschen Bundestag. Der frühere belgische Ministerpräsident Leo Tindemans, der ebenfalls dem Sonderausschuss angehörte, und etliche andere Europaageordnete wie der konservative Brite James Elles kämpften mit uns im Volkskammerwahlkampf." War einer von ihnen eigentlich je zu den Wiedervereinigungsfeierlichkeiten eingeladen, fragt Brok.

Kurz nach der Wiedervereinigung kamen Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, erinnert sich Ines Geipel in der FAZ und dann im uneinig-vereinten Deutschland die Einigkeit eines Mobs im Hass auf Flüchtlinge: "Im neuen Deutschland der Flüchtling-Komplex in seiner ersten Runde. Die Bilder offenbarten, was mit Treibjagd, Archaik, Leere, mit äußerster Brutalität zu tun hatte. Eine Gesellschaft, machten sie klar, konnte auch auseinanderfallen, in Jäger und Gejagte. Das Pogrom-Klima expandierte kurz darauf in den Westen. Saarlouis, Mölln, Solingen. Rassistische Mordanschläge, jetzt auch mit Toten. Die Politik sprach von Staatsnotstand. Im Mai 1993 wurde ein restriktiveres Asylrecht verabschiedet. Es war eines der letzten Gesetze in Bonn."

Auf Zeit online ist Can Dündar entsetzt über die Reise des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Róbert Spanó in die Türkei. Kein Wort kam ihm über die Lippen zu den vielen Verfahren, die gegen den türkischen Staat anhängig sind oder zu den Opfern dieses Staates, während er sich ehren ließ: "Der eigentliche Skandal der Reise, die Le Monde als 'Kriecherei' bezeichnete, ist, dass Spanó die Position des Entscheiders bei Verfahren gegen die Institutionen, die er jetzt besuchte, innehat. Gehen die Wissenschaftler, die per Dekret der Universität Istanbul verwiesen wurden, nach Straßburg, sitzt vor ihnen auf dem Richterstuhl Spanó, der die Ehrendoktorwürde der Universität trägt, gegen die sich ihre Klage richtet. Über die Bürgermeister, die ihres Amtes beraubt wurden, wird der Gerichtspräsident urteilen, der die Zwangsverwalter besuchte, die ihre Plätze okkupiert haben. Richter, die per Anweisung aus dem Amt gejagt wurden, müssen Gerechtigkeit von dem isländischen Gerichtspräsidenten erhoffen, der auf bestem Fuß mit jener Partei steht, die sie des Amtes enthob. Damit werden die Urteile des Gerichts leider fragwürdig sein."
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Ideen

Was können Nationalstaat und Demokratie im 21. Jahrhundert noch bedeuten, fragt sich der spanische Philosoph José Luis Villacañas Berlanga in der NZZ, und wie können sie im Zeitalter der Globalisierung und der neuen pseudodemokratischen Großreiche gerettet werden? Sein Vorschlag: Föderalismus und Dezentralisierung. "Francisco Pi i Margall, ein bedeutender spanischer Denker des 19. Jahrhunderts, der die Schweiz als Ideal der Verfassungswirklichkeit schätzte, schlug etwa vor, nicht von einem, sondern von drei politischen Prinzipien mit je verschiedenen Bereichen des Handels auszugehen. Er wies die Dimension des alltäglichen Lebens der Stadt zu, die Dimension der Geschichte dem Land und die Dimension der Vernunft dem Staat. Die Vernunft des Staats war dabei nicht als Anspruch einer Überlegenheit konzipiert, sondern als Verpflichtung, Gründe zu finden, welche die Städte und Länder dazu brächten, den Staat zu unterstützen. Offensichtlich ging es Pi i Margall hier um mehr als eine bloße Dezentralisierung und eine Delegierung der Politik an die beiden anderen Dimensionen. Im Zentrum der föderalen Strukturen sollte die Energie wirken, durch freien Austausch und Umgang zu gemeinsamem Handeln hinsichtlich der wesentlichen menschlichen Anliegen zu gelangen."

In einem ausgesprochen schwafeligen Interview mit Peter Unfried von der taz träumt der populäre Philosoph Markus Gabriel unter anderem von einem Job in China: "Jetzt nehmen die noch deutsche Philosophen oder französische Sonstetwas, man kriegt tolle Gehälter - aber lange wird das nicht mehr so sein. In fünf oder zehn Jahren werden sie sagen: Europäer, was soll das? Deshalb brauchen wir - Europäer, Chinesen, alle - gemeinsame moralische Werte, auch aus strategischen Gründen. Denn es bringt ja nichts, wenn wir die Ausbeutung nur umkehren. Wenn Ausbeutung schlecht ist, muss das künftig global gelten."

Mit der Corona-Pandemie machen wir gerade "die typisch 'existenzialistische' Erfahrung, dass unser Leben, trotz den Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Moderne, plötzlich dem Ungewissen, Absurden, ja Katastrophalen ausgesetzt ist. Das muss das Vertrauen in die wunderbare, auf Rationalität gegründete Zivilisiertheit unterhöhlen", meint der Philosoph und Physiker Eduard Kaeser in der NZZ. "Wohl nicht wenige Menschen dürften in der gegenwärtigen Situation zumindest den Anhauch dieser Grundbefindlichkeit verspüren - wogegen übrigens keine Gesichtsmaske hilft. Die Befindlichkeit verlockt zu einem neuen Slogan: Existenz vor Identität. Die Brisanz ist offensichtlich", weshalb wir vor allem die "elementare Botschaft der Existenzialisten" beherzigen sollten: "Ungewissheit ist das unauslöschliche Kennzeichen unserer Existenz - und gerade deswegen eine Ressource der Menschlichkeit. Denn sie bringt das universelle Bedürfnis nach Vertrauen und Solidarität hervor."

Weiteres: Im Tagesspiegel erzählt Redakteur Joachim Huber von den Folgen seiner Corona-Erkrankung.
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Gesellschaft

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Stichwörter: Coronakrise, Covid-19