Vom Nachttisch geräumt

Shinrinyoku

Von Arno Widmann
28.10.2019. Senken die Betriebstemperatur: Waldspaziergänge mit Miki Sakamoto.
Miki Sakamoto, geboren 1950 in Kagoshima lebt seit 1975 in Bayern. Hätte das Buch einen japanischen Titel, er lautete "Shinrinyoku", wörtlich übersetzt: "Waldbaden". So nennt man in Japan das Spazierengehen im Wald. Also nicht das Joggen, sondern den von Jugendlichen gehassten sonntäglichen Waldspaziergang. Nicht jeder Spaziergang im Wald ist freilich ein Waldbaden. Zu dem gehört, dass man sich klarmacht, was man da tut. "Atme doch mal richtig ein!", rief mir mein Vater zu: "Diese Waldluft!". Ich wäre lieber zu Hause geblieben, hätte in einem Buch gelesen, statt mit meinen Eltern in Waldbächen nach möglichst weichem Wasser fürs Aquarium zu schauen. Es gab Zeiten in meiner Jugend, in der ich zwei Theaterstücke am Tag las. Oft auch im Chemieunterricht. Natur - das war für mich ein Misthaufen.

Ich sagte das voller Verachtung. Heute ärgere ich mich über diese wortmächtig vorgetragene Arroganz eines Ahnungslosen. Miki Sakamotos Buch ruft mir diese deutlich mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Auseinandersetzungen mit meinem Vater in Erinnerung. Inzwischen glaube ich, ich hätte sein Interesse an Pflanzen- und Tierwelt teilen sollen. Es wäre mir besser bekommen als die Fixierung auf die menschlichen Kulturleistungen. Auch jetzt sitze ich in einem Sessel und lese in Sakamotos Buch, statt ihrer Empfehlung zu folgen, in den Wald zu gehen. Ein Kollege hat mir heute erzählt, dass er seit einem Monat jede Woche einmal Zeichenunterricht nimmt. "Du bist drei Stunden mit nichts anderem beschäftigt als damit, einen Kopf abzuzeichnen. Du denkst an nichts anderes. Das beruhigt."



Sakamotos "Waldbaden" ist eine ähnliche Veranstaltung. Und doch ganz anders. Am Ende steht kein Produkt, sondern die Heimkehr. Aber auch sie schreibt vom Senken der Betriebstemperatur, vom Vergessen der Welt draußen. Wo mein Kollege die Konzentration sucht, sucht Miki Sakamoto die Zerstreuung. Jedenfalls zunächst geht es ihr darum, dass man sich den vielfältigen Eindrücken ausliefert. Dass man wieder lernt zu hören und zu riechen, sich auch mal von Gedanken treiben lässt. Dann aber steht sie vor einem Baum und sucht in dessen Rinde nach einem Schmetterling. Oder sie macht sich, nachdem sie kurz von den einander streichelnden und umarmenden Makaken ihrer japanischen Heimat geträumt hat, klar, dass, was sie berührt, wenn sie einen Baum streichelt, nicht etwa die Rinde ist, sondern die über ihr lagernde Schicht toten Holzes, die Borke. Diese äußerste Schicht ist bei Bäumen - wie bei den Menschen - unterschiedlich dick. Die Buche hat eine ganz dünne Borke. Eichen, Fichten und Kiefern dagegen schützen ihr Inneres mit viel toter Haut.

Das Buch erzählt auf jeder Seite mehrere solcher Geschichten. Sakamoto zitiert, was in den Bestimmungsbüchern steht, die sie mit in den Wald genommen hat. Aber sie fordert uns nicht dazu auf, unsere Schreibtische zu verlassen, jeden Tag in den Wald zu gehen und sich vertraut zu machen mit dem, was uns dort begegnet. Das ist ein späteres Stadium. Zunächst müsse man lernen, im Wald zu baden. Am besten beginne man nicht als einsamer Waldwanderer, sondern gehe auf auch von anderen begangenen Pfaden und vielleicht auch in einer Gruppe. Ich habe das nicht verstanden. Aber vielleicht ist es wie beim Sport. Man fängt ihn am besten auch in einer Gruppe an, weil man ihn sonst schnell ausfallen lässt.

Gleich zu Beginn erzählt uns Sakamoto, dass sie uns, auch wenn uns das so vorkommen mag, keine ostasiatische Lebensphilosophie der Entschleunigung näher bringen möchte. Shinrinyoku stammt aus Deutschland. In den siebziger Jahren - in den Jahren des Waldsterbens also - hielt sich der japanische Forstwissenschaftler Murao Koichi in Deutschland auf. Als er nach Japan zurückkam, regte er das japanische Landwirtschaftsministerium an, den Wald auch als Erholungsgebiet zu entwickeln. Der oberste Forstchef Akiyama Tomohide prägte dann in einer 1982 gestarteten Kampagne den Begriff Shinrinyoku. Hier wird re-reflektiert, eine menschliche Praxis, die wir, einem dummen Identitätswahn folgend, gerne übersehen. Schon darum lohnt es sich, Miki Sakamotos Buch zu lesen.

Auf dem Klappentext steht, sie entstamme einer "alten Satsuma-Familie". Ich verstehe das nicht. Satsuma, lese ich in Wikipedia, sei ein Lehen, "dessen Ausdehnung in etwa der der heutigen Präfektur Kagoshima" entspricht. Heißt das, unsere bayerische Waldgängerin war eine japanische Prinzessin? Vielleicht kann der Verlag, Frau Sakamoto oder eine Leserin mich aufklären.

Miki Sakamoto: Eintauchen in den Wald - Mit Waldgängen gelassen und glücklich werden, hanserblau, München 2019, 208 Seiten, Zeichnungen, 15 Euro.