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Die zweite Realität einer Sache

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
02.12.2016. Sascha Weidner nannte sich selbst einen Romantiker und hatte genug romantische Ironie parat, um bis zur Sentimentalität gehen zu können. Über sein Fotobuch "Intermission II" - eine Zwischenbilanz als Vermächtnis.
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Früher Tod rundet ein Werk. Mozart und Schubert, die mit 36 und 31 Jahren starben, haben ein "Spätwerk". Pochende Todesahnung vernimmt man zumindest beim letzten. Vom Ende her gibt man einem Werk einen Sinn, und auch wenn man davon abstrahieren möchte, kann man von diesem Wissen nicht absehen.

Ich kannte Sascha Weidner ehrlich gesagt nicht. Gefangen genommen hat mich ein zufälliger Blick auf ein Foto von ihm, eine grell rosafarbene Luftmatratze auf grün, die in einen See hineinzugleiten schien (hier). Aber an dem Foto stimmte etwas nicht: Der rosa Widerschein der Luftmatratze auf der Wasserfläche war so nicht möglich - er wirkte ja wie eine Luftspiegelung. Beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass die Matratze an eine weiße Häuserwand stieß: Das ganze Foto stülpte sich um, die Dimensionen gerieten durcheinander, die Horizontale war eine Vertikale.

Wäre Sascha Weidner nicht letztes Jahr im Alter von 39 Jahren an einem Herztod in Norden gestorben, hätte ich ihn gefragt, warum er seinen Fotos in diesem Buch ausschließlich quadratisches Format gegeben hat. Kann es sein, dass er eine Mittelformatkamera benutzt hat, die quadratische Bilder abliefert? Aber ich habe inzwischen genug gestöbert und weiß, dass Weidner einige der Fotos aus diesem Band in früheren Gruppen schon in Porträt- oder Landschaftsformat gezeigt hat.

Weidner hat dieses Buch noch vor seinem Tod selbst konzipiert, sagt der Verlag. Das quadratische Format leuchtet ein in der Abfolge der Bilder in diesem nach Kapiteln gegliedert Band. Es ist das Format einer Zweideutigkeit. Im Porträt- oder Landschaftsformat ist die Schwerkraft klarer hierarchisiert. Eine Quadrat lässt sich leichter drehen.

Das Matratzenfoto ist nur eine Ausprägung einer Idee, die sich durch das ganze Oeuvre Weidners zieht und auch in diesem Band mehrfach manifestiert: Weidner sucht eine Schwebe, eine Aufhebung der Dimensionen oder einen Übertritt von der einen zur anderen. Am berückendsten - bis an die Grenze zum Kitsch - realisiert er die Idee mit der auf dem Wasser liegenden und sich in ihm schattenspiegelnden Hand: Dieses Foto hat Weidner senkrecht gestellt. Die stehende Wasserfläche wird zur Zaubermembran.

Ich kenne dieses Foto aus dem Ausstellungsheft zu "Am Wasser gebaut" (Katalog als pdf-Dokument) auch im Hochformat - aber im altmodisch-quadratischen Format des neuen Bandes funktioniert es noch besser. Die Drehung wirkt weniger gewaltsam. Das Wasser wird Weidner zum orphischen Spiegel wie aus jener Cocteauschen Szene:



Weidner nannte sich selbst einen Romantiker und hatte genug romantische Ironie parat, um bis zur Sentimentalität gehen zu können. Am schönsten, wenn auch ein bisschen kryptisch, sagte er es in einem Interview mit Fridey Mickel vom Exberliner: "Kann sein, dass ich es war, der dieses Bild aufnahm, aber das heißt nicht, dass es mir gehört. Ich war nur der, der fähig war, es zu sehen. Ich muss die Blumen nicht pflücken, die Fotografie lässt sie dort stehen. Das ist fast zu sentimental und geht an die Grenze zum Kitsch, aber viele der Bilder, die ich fotografiere, sind wie Codes."

Ich weiß nicht, ob Weidner irgendwie religiös war, aber das Wasser ist für ihn eine Medium des Übertritts. Es ist eher See- als Meerwasser, ein Medium ohne jede Gewalt, das zum geräuschlosen Hinübergleiten, drüber Schweben, drauf Gehen und damit Verschmelzen dient.



Sascha Weidner "Touché II" 2005 © Estate of Sascha Weidner, Courtesy Galerie Conrads, Düsseldorf

Es gibt auch andere Bilder vom Tod, mehrere Sorten. Im letzten Kapitel des Bandes zeigt der Fotograf des sanften Übertritts auch Bilder vom Crash: Er hatte eine Obsession für Autounfälle, und es ist erstaunlich, dass er so oft an gerade havarierten, manchmal noch brennenden Unfallautos vorbeikam. Am liebsten zeigt er sie hilflos auf dem Rücken liegend wie eine gerade noch mit ihren Beinen zappelnde Schildkröte. Ein solches Auto - Weidners eigener Golf - zierte auch den Eingang seiner Ausstellung im CO Berlin. Im Kassettenrekorder lief die Lieblingsmusik seiner Freunde (mehr dazu hier).

Eine andere Dimension des Todes fand Weidner in Japan. Dort fotografierte er im Wald von Aokigahara unweit von Tokio, unter Japanern als Selbstmordwald bekannt. Die Bilder wurden in der Düsseldorfer Galerie Conrad ausgestellt (Broschüre als pdf-Dokument). Bis zu hundert Japaner nehmen sich dort jährlich das Leben, sagt die Ausstellungsdokumentation und zitiert den Fotografen: "Verlässt man den Hauptwald, wird es immer dunkler und dichter, und eine eigenartige Stille legt sich über alles. Man hört keinen Vogel, kein Tier, nichts."

Aber man findet Nylonschnüre, die die Selbstmordwilligen für den Fall spannen, dass sie doch zurückfinden wollen. Sie hat Weidner fotografiert und Gegenstände, die von den Lebensmüden zurückgelassen werden. "Der Grund dafür, das sich so viele Lebensmüde in freier Natur etwas antun, klingt brutal rational", sagt der Ausstellungstext weiter: "In Japan gelten Wohnungen, in denen sich jemand umgebracht hat, als stigmatisiert. Nachmieter müssen über den Selbstmord informiert werden. Werden Makler die Appartements nicht los, verlangen die Eigentümer nicht selten Millionensummen von den Hinterbliebenen."

Zur Idee der Romantik gehört auch die der Selbstverschwendung. Weidner meinte, wie er oben sagte, dass ihm seine Bilder nicht "gehören". Darum hat er vor sieben Jahren im Museum für Photographie in Braunschweig tausend Bilder an Ausstellungsbesucher verschenkt (mehr hier). Vielleicht auch eine kleine Hommage an die Stadt, in der er studiert hatte, in jenem unspektakulären Land Niedersachsen, aus dem er stammte und über das er zusammen mit Jan Böttcher übrigens einen schönen Bild-und Text-Band herausbrachte.

Die Ausstellungsbesucher durften sich Weidners signierte Bilder aus den Schienen, in denen sie aufgestellt waren, herausnehmen und behalten, sofern sie ihre Auswahl kurz schriftlich begründeten. In einem zweiten Raum standen die gleichen Fotos mit der Bildseite zur Wand und wurden umgedreht, sobald das Pendant in Raum 1 entnommen war. Die Ausstellung war so permanent in Bewegung. Im Fotografie Forum Frankfurt wird diese Aktion in einigen Tagen wiederholt.

Einige der Bilder, die der Künstler damals in Braunschweig verschenkte, sind auch in diesem Fotobuch enthalten - einer Zwischenbilanz, die zum Vermächtnis wurde. Ich glaube, dass manche die Kraft haben, "ikonisch" zu werden - das heißt, ins kollektive Gedächtnis einzuwandern, ohne dass man immer ihren Urheber kennt.

Eines davon ist ein Foto, dessen Pointe ich ebenfalls nur durch Zufall erkannt habe, nicht als ich es im großen Fotobuch betrachtete, sondern als ich mir die Thumbnails aus dem Katalog der Braunschweiger Aktion ansah. Eine gelbe Jacke ist über einen Lampenschirm gebreitet und wird von ihm von innen erleuchtet. Die Kontur des Kragens und der aufspringenden Seiten, zeichnet, wir ich mit Schrecken wahrnahm, ganz genau die Kontur einer Renaissance-Madonna nach. Ich schlug im Fotoindex des großen Fotobuchs nach, wo die Titel der Bilder genannt werden: "Heilige Maria II".


Ausriss aus dem Bulleton zur Braunschweiger Aktion mit der kleinen Madonna auf dem Lampenschirm, auch auf Weidners Website ist das Foto zu sehen.

Der Zufall ist ein Faktor, den die Fotografie der Malerei voraus hat. Ein Fotograf der Schwebe, kein Düstermann, ist Weidner auch, weil in den Bildern oft nicht ganz klar ist, ob sie inszeniert oder "wahrgenommen" sind. Mich hat es fast gewundert, dass Weidner die Marien-Assoziation so deutlich namhaft macht, aber eigentlich nimmt die Benennung auch wieder nichts von der Zweideutigkeit. "Die II" gehört übrigens fast immer zu Weidners Bildtiteln, weil er Aufklärer genug ist, von der Abbildungskraft von Fotografie überzeugt zu bleiben. Das Bild ist für ihn die zweite Realität einer Sache.

Thierry Chervel

Sascha Weidner: Intermission II. Text von Inka Schube, Gestaltung von Ole Truderung. Deutsch, Englisch. Berlin (Hatje Cantz) 2016. 160 Seiten, 89 Abb. 28,50 x 28,50 cm, gebunden, 39,80 Euro. ISBN 978-3-7757-4191-0. (Bestellen bei buecher.de)


Einige schwer zu findende Links zu Sascha Weidner:

Sascha Weidner hatte eine eigene Internetadresse. Nach dem Tod Weidners wurde auch ein "Sascha-Weidner-Estate" gegründet, das sich um den Nachlass kümmert. Hier sind auch einige Fotos zu sehen, und man kann einen Newsletter abonnieren. Die Düsseldorfer Galerie Conrads bietet viele Informationen. Im Mönchehaus Goslar sind noch einige Ausstellungshefte und ein Plakat von Weidner zu beziehen.

Von Weidner ist mir nur ein weiteres Buch bekannt - eine Hommage auf Niedersachen, für die er mit Jan Böttcher zusammenarbeitete, mehr dazu hier: "Des Sascha Weidners und des Jan Böttchers einzig wahre Erlebnisse zu Wasser und zu Land, zu Pferd und zu Fuß, im Krieg und in Frieden, in der Luft sowie in den niedersächsischen Ländern und Bremen in diesem Jahr ganz neu verfasst und fotografiert von ihnen selbst." Zum 30. Jahrestag der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und zum 15. Jahrestag der VGH-Stiftung. (ISBN 978-3-00-049834-3)  Das Buch ist nicht im Handel zu beziehen.
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