Vom Nachttisch geräumt

In Deutschland sind alle Zustände erfreulich und angenehm

Von Arno Widmann
18.12.2017. Erfreulich und angenehm, diese Deutschen. Rainer Wieland hat aus zwei Jahrtausenden Reiseberichte aus Deutschland gesammelt, von Cäsar über William DuBois bis Andy Warhol.
Es geht die Legende, niemand stelle sich so sehr die Frage nach sich selbst wie die Deutschen. Meist behaupten das Deutsche. Es ist eine Frage, die sich vor allem "verspätete Nationen" stellen. Betrachtet man aber die Reiseliteratur, dann stellt sich heraus, dass Deutschland oder die deutschen Staaten, obwohl doch jeder, der Europa durchquerte, immer durch sie hindurch musste, einen deutlich geringeren Ausstoß hervorgebracht haben als die Nachbarländer. Gerade ist bei Propyläen ein prächtiges Buch erschienen, das auf 512 Seiten Auszüge aus - wenn ich mich nicht verzählt habe - 56 Reiseberichten von Caesar "Bei den Germanen am Rhein" (55 v. Chr.) bis zu Christoph Rehages "Mit zwölf Chinesen in Neuschwanstein" im Jahre 2015. Natürlich kann man nicht in Extenso aus den mehr als 2000 Jahren Deutschland, das es ja erst seit 150 Jahren gibt, berichten. Aber der Band ist sehr, sehr anregend. Die frühen Berichte von Cäsar und Tacitus leben davon, dass die römischen Patrizier ihrer in ihren Augen degenerierten Heimat die Bilder einer tugendhaften Kultur der Stärke entgegenhielten, in denen Männer noch Männer waren.

Aufregend fand ich die Lektüre von Enea Silvio Piccolomini, des späteren Papstes Pius II. (1405-1464). Der Italiener lieferte in seiner "Germania" einen Lobgesang auf deutsche Städte, deutsche Landschaften. Er kulminierte in dem Satz: "Es gibt in Europa kein Volk, dessen Städte so sauber sind und einen so erfreulichen Anblick bieten wie die deutschen". Über Lübeck schreibt er: "Die Macht und der Reichtum dieser Stadt sind so groß, dass drei große Reiche, nämlich Dänemark, Schweden und Norwegen auf ihren Wink Könige ein- und abzusetzen pflegten." Und dann Sätze wie diese: "In Deutschland sind alle Zustände erfreulich und angenehm. Niemandem wird sein Eigentum geraubt, jeder ist im sicheren Besitz seines Erbes; nur den schädigen die Behörden, der andere schädigt. Hier wüten auch nicht Parteien gegen einander wie in den italienischen Städten. Es gibt über hundert Städte, die sich dieser Freiheit erfreuen." Erst dieser Blick auf Deutschland aus dem Italien der Renaissance zeigt einem, was der Dreißigjährige Krieg bedeutete. Wer denkt, er habe ein armes Land noch ärmer gemacht, der täuscht sich. Er hat die reichsten, fruchtbarsten Gegenden Europas zerstört. Ein Furor, der Landschaften, die - wohl nicht nur in den Augen Piccolominis - zu den schönsten Europas zählten, für Jahrhunderte in staubige Ödnis verwandelte. Das Buch erinnert so daran, dass kein Wohlstand, keine Weltkenntnis, keine Schönheit auch nur die geringste Aussicht auf Dauer hat. Sie mögen den Zeitgenossen noch so unerschütterlich scheinen.


Norderney, Leben am Strand. Photochrom, um 1900

Einer der wichtigsten Männer der Schwarzenbewegung in den USA, William Edward Burghardt Du Bois (1868-1963), war, nachdem er sein Studium in Harvard abgeschlossen hatte, 1892 bis 1894 in Deutschland. Er hörte Vorlesungen beim Max Weber, Gustav von Schmoller und Heinrich von Treitschke Vorlesungen. Er schrieb Seminararbeiten. Über seine Erfahrungen in Deutschland bemerkte er: "Als ich 1892 nach Deutschland kam, befand ich mich außerhalb der amerikanischen Welt und konnte sie von außen betrachten. Neben mir lebten Weiße - Studenten, Bekannte, Dozenten -, die ebenso empfanden wie ich. Sie blieben nicht immer wieder stehen, um mich als Kuriosum oder als eine Art 'Untermenschen' zu bestaunen. Für sie war ich einfach ein Mensch, der der in mancher Hinsicht privilegierten Studentenschaft angehörte, ein Mensch, mit dem sie sich gerne trafen und über das Geschehen in der Welt unterhielten…" Das ist die eine Seite, die andere, nicht minder wichtige Seite beschrieb W.E.B. Du Bois so: "Im Gebirge und im Flachland, in der Wohnung und an der Universität begegnete ich Männern und Frauen, wie ich ihnen nie zuvor begegnet war. Langsam wurden sie für mich Menschen, waren sie nicht mehr nur 'Weiße'."

Rainer Wieland, dem wir u.a. die prächtige Ausgabe von Humboldts Kosmos in der Anderen Bibliothek, "Das Buch des Reisens", "Das Buch der Tagebücher" verdanken, hat mit dem Buch der Deutschland-Reisen ein weiteres seiner Wunderwerke vorgelegt. Wieland gehört zu jenen Menschen, die in ihren Werken verschwinden. Jedenfalls für die meisten von uns. Er ist freier Lektor. Wir Leser verdanken ihnen so viel und bedanken uns so selten dafür. 1000 Dank hochverehrter Rainer Wieland! Er führt uns mit Casanova zu Friedrich dem Großen, mit Karamsin nach Königsberg, mit Mary Shelley nach Bad Kissingen, mit Frau Dostojewski nach Baden-Baden, mit Mark Twain an den Neckar, mit Virginia Woolf nach Bayreuth, mit Simone de Beauvoir nach Oberammergau, mit Frederick Forsyth nach Ost-Berlin, mit Andy Warhol zur Herta-Wurstfabrik usw. usw.


William Turner, Der Rhein bei Schaffhausen, 1842

Ein Wort noch über die Abbildungen. Sie zeigen nicht nur die Autoren und Autorinnen, sondern auch Städte und Landschaften, Straßenszenen und immer wieder auch Deutsche. Zum Beispiel in Prinz Asfa-Wossen Asserates Beitrag über sein Studium in Tübingen sieht man ein Foto aus dem Jahre 1969: Uschi Obermaier baut einen Joint. Mit Nasreddin Schah von Persien werfen wir 1873 einen Blick in Krupps Gußstahlfabrik in Essen. Über James Boswells Besuch in der Bibliothek von Wolfenbüttel sieht man ein Aquarell, das ihren Kuppelsaal in all seiner barocken Pracht zeigt. Das Aquarell stammt aus dem Jahre 1886. James Fenimore Cooper schrieb nicht nur den Lederstrumpf, sondern auch mehr als zweitausend Seiten über seinen sieben Jahre langen Aufenthalt in Europa (1826-1833). "Einer ihrer Höhepunkte ist zweifelsohne Coopers Schilderung einer Übernachtung auf der Rheininsel Nonnenwerth", schreibt Rainer Wieland in der kurzen Einführung, die er jedem Text beigegeben hat. Die beiden Rheinbilder von William Turner illustrieren nicht nur den Text, sie zeigen auch die Wandlung Turners. Das Gemälde von 1817 zeigt Rolandseck, Nonnenwerth und Drachenfels, eine sehr schöne, aber doch noch sehr konventionelle Arbeit. Das Aquarell von 1832 "Burgen am Rhein" ist schon eines jener Traumbilder, in denen Wasser und Himmel sich in einander auflösen.

Rainer Wieland: Das Buch der Deutschlandreisen. Von den alten Römern zu den Weltenbummlern unserer Zeit, Propyläen, Berlin 2017, 512 Seiten mit mehr als zweihundert sw und farbigen Abbildungen, 48 Euro