Vom Nachttisch geräumt

Beiseln auf der Seidenstraße

Von Arno Widmann
10.09.2018. Die von Hubert Christian Ehalt veranstalteten Wiener Vorlesungen 1987-2017 bilden viel vom Universum ihrer Zeit ab.
Am 6. Mai 1987 begann die Stadt Wien mit einer Reihe, die sie die "Wiener Vorlesungen" nannte. Die Reihe gibt es immer noch. Jetzt ist ein dicker Band erschienen, der die 1500 Vorträge und Diskussionen seit 1987 aufzählt. Den ersten Vortrag hielt Rudolf Kirchschläger (1915-2000). Er war von 1974 bis 1986 Präsident der Bundesrepublik Österreich gewesen. Thema: "Was ist das Gemeinsame? Möglichkeiten und Grenzen des Miteinander." Mir ist es noch nicht gelungen, diese alte Rede mit dem aktuellen Titel aufzutreiben. Ein Vergleich zwischen den Problemen von damals und denen von heute würde sicher ein erhellendes Licht auf uns werfen. Aus seiner Sicht tat das bereits der amtierende Österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen am 9. Oktober 2017, als er den Festvortrag anlässlich "30 Jahre Wiener Vorlesungen" hielt: "Gemeinsamkeit in einer unübersichtlichen Zeit". Diesen Vortrag kann und sollte man im Internet nachlesen.

Also zunächst einfach nur ein paar Hinweise auf das riesige Angebot, das der Planer und Koordinator der Veranstaltungen, Hubert Christian Ehalt, den Wienern in den vergangenen Jahrzehnten bot. Ehalt, geboren 1949 in Wien, war von 1984 bis 2017 Wissenschaftsreferent seiner Heimatstadt. Die Wiener Vorlesungen waren nicht sein einziges Werk. Daneben die "Wiener Vierteltouren", ein Veranstaltungsprojekt der Stadt Wien zur historisch-ethnografisch-literarischen Erkundung Wiens gegen den Strich der Mythen und Klischees und die "Stadtwerkstatt" der Verwaltungsakademie der Stadt Wien - Veranstaltungen zur Vernetzung von Wissenschaft und Verwaltung. Soweit Wikipedia. Daneben ist Ehalt Privatdozent für Sozialgeschichte der Neuzeit und Leiter des Instituts für historische Anthropologie. Außerdem hat er mehr als ein halbes Dutzend Bücher geschrieben. Ein umtriebiger Mann. Wohl noch vor seinem Amtsantritt entstand ein Buch über "Wiener Beiseln".

Aber für diesmal weg von Ehalt. Werfen wir einen Blick auf die Wiener Vorlesungen. Kein Thema, ist man versucht zu sagen, das nicht vorkommt. "Aus der Geschichte lernen? Der Sonderweg und die Krise der EU" (Aleida Assmann), "Weltrisikogesellschaft - Chance für eine Weltbürgergesellschaft" (Ulrich Beck), "Die psychologische Bedeutung der Märchen" (Bruno Bettelheim), "Preußen in Europa. Vom Erhabenen zum Lächerlichen" (Marion Dönhoff), "Die Welt der Vorurteile" (Agnes Heller), "Biologie und Kultur der Erinnerung" (Eric Kandel), "'Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding'. Freuds Ödipus im androgynen Rosenkavalier" (Ruth Klüger), "Parlament und Schura: Ratsversammlungen und Demokratieentwicklung in Europa und im islamischen Raum" (Michael Mitterauer), "Atommacht Indien. Von der Bündnisfreiheit zur amerikanischen Allianz" (Dietmar Rothermund), "Verständigung im Alltag: typische Situationen und Probleme" (Paul Watzlawick), "Die Zukunft des Internet zwischen Wissensnetz und globaler Müllhalde" (Joseph Weitzenbaum), "Chemie und Lebensqualität im 21. Jahrhundert" (Kurt Wüthrich). Das sind nur die Titel von 12 von mehr als 1500 Veranstaltungen. Naturwissenschaften, Geschichte, Politik, Kunst, Musik, Literatur und immer wieder auch neben den allgemeinen Übersichten die Blicke auf die Details.

Herr Tschang fegt einen Abschnitt der neuen Seidenstraße. Bild aus der Weltspiegel-Reportage über die neue Seidenstraße


Aber natürlich ist jedes Universum nur das Universum einer bestimmten Zeit. Die ersten Jahre sind beschäftigt vor allem mit dem Auseinanderbrechen des Ostblocks. Die Balkankriege setzen in Österreich natürlich stärker noch und schneller als bei uns Themen. Die Wiener Vorlesungen verstanden sich - so mein Eindruck nach der zugestandenermaßen flüchtigen Lektüre des Bandes - immer auch als Gegengewicht zu den die Zeitungen eh schon beherrschenden Themen. Aber sie reagierten auch gerne auf Aktuelles und stellten es in seinen historischen oder auch psychischen Zusammenhang. Ganz sicher hätten ohne den 11. September 2001 der Islam und die Frage nach der Rolle der Gewalt in Religion und Geschichte nicht die Rolle gespielt, die sie dann doch erhielten. Und wir können davon ausgehen, dass China und die USA in den kommenden Jahren auch in den "Wiener Vorlesungen" an Bedeutung deutlich zunehmen werden.

Auch über Europa wird ganz anders gesprochen werden als in den vergangenen drei Jahrzehnten. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Hubert Christian Ehalt in Rente gegangen ist. Es liegt vor allem an der rapide sich verändernden Weltlage. Nur ein Beispiel: Von China aus gesehen liegt Wien - so sehr es sich ziert - auf seiner neuen Seidenstraße.

Wiener Vorlesungen 1987-2017: Standortbestimmung, Aufklärung, Navigation, hrsg. von Hubert Christian Ehalt unter redaktioneller Mitarbeit von Susanne Strobl und Andrea Traxler, Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2017, 432 Seiten, mehr als 550 farbige Abbildungen, 38 Euro.