Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Art von irrer Helligkeit

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03.08.2018. Die NZZ betrachtet Weiß und Schwarz mit den Augen des Fotografen Hennric Jokeit. Der Tagesspiegel vertieft sich in das ästhetische Gegenprogramm des Fotografen Pieter Henket. Hans Neuenfels erklärt in der NZZ das Freiheitsproblem in Tschaikowskys "Pique Dame". In der SZ fragt Dominik Graf die Drehbuchautoren-Initiative Kontrakt 18, warum sie eine Orgie des Mittelmaßes beklatschen. Die Zeit empfiehlt Musik für den Strand.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.08.2018 finden Sie hier

Kunst

Foto: Hennric Jokeit, (c) Hennric Jokeit/Peperoni Verlag


"Das Buch ist scharf", ruft Daniele Muscionico in der NZZ, den neuen Fotoband "Goodhope" des Fotografen und Neuropsychologen Hennric Jokeit in der Hand: "Jokeits Fotos nämlich sind die Urbilder der analogen Fotografie - Negative. Sie verweisen mit der Adelung des Negativen auf die Frage: Was sehen wir - und warum? Und weshalb erregt Weiß und Schwarz in unserem Hirn Entsprechendes? Die Abzüge über Rassismus und Postkolonialismus verwenden das schwärzeste Schwarz, das drucktechnisch wohl möglich ist. Das weißeste Weiß allerdings ist nicht zu finden, nur die Natur, das Holz der Bäume erzeugt eine Art von irrer Helligkeit. Sie wiederum ist derart irritierend, dass man auch die Natur als pathologisch und krank auf den Tod, nämlich verstrahlt wahrnimmt. Auch die sieben Porträts am Ende des Buches wiederum sind ästhetisch und drucktechnisch derart überhöht, dass man sie nicht mit einer schlüssigen Formel lesen und einordnen kann. ... Man soll sich kein Bild machen, vielleicht ist das die Lösung."

Foto: Pieter Henket


Das ästhetische Gegenprogramm zu Jokeit kann man derzeit im Museum Barberini in Potsdam sehen, in der Ausstellung "Congo Tales" des New Yorker Fotografen Pieter Henket, der im kongolesischen Odzala-Kokoua-Nationalpark Kinder, Frauen und Greise fotografiert hat, als wären sie Filmstars, erzählt Lena Schneider im Tagesspiegel: "Hier regieren das Hochglanzformat und die 'Tales', die Märchen, stehen im Vordergrund: Gezeigt werden fotografische Destillate aus afrikanischen Märchen. 'Die zwei Schwestern Nkééngé' zum Beispiel, die sich gesunde Kinder wünschen und, wie Orpheus, durch einen Regelverstoß von den Göttern bestraft werden. Henkets Foto zeigt zwei Frauen unter riesenhaften, tropischen Bäumen. Sie sehen klein aus vor der ewig wirkenden Natur - die ebenfalls bedroht ist, auch darauf will die Schau aufmerksam machen."

Besprochen werden eine Ausstellung der Skulpturen von Andreas Peiffer im Kunstverein Glückstadt (taz), die Ausstellung "Les Impressionistes à Londres" im Petit Palais in Paris (FAZ), eine Ausstellung zur Kultur der altperuanischen Nazca in der Kunsthalle Bonn (SZ) und die Schau "Almost Alive. Hyperrealistische Skulptur in der Kunst" in der Kunsthalle Tübingen (FAZ).
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Bühne

Im Interview mit der NZZ erzählt Hans Neuenfels, warum er Tschaikowskys "Pique Dame", die er gerade in Salzburg inszeniert hat, so aufregend findet: "Tschaikowsky erzählt eine außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen zwei außergewöhnlichen Menschen. Und daneben gibt es Splitter aus dem Alltagsleben, von ihm ganz genau beobachtete, in Musik gefasste Chorszenen, die diese Liebesgeschichte immer wieder unterbrechen. Die alles überwölbende Metapher der Spielsucht hat Tschaikowsky dagegen ziemlich kurz gehalten. Die entscheidende Schlussszene im Kasino spielt sich sehr schnell ab. Eins, zwei und zack, schon hat Hermann verloren. Das wird gar nicht weiter ausgemalt von Tschaikowsky. ... Im Kern geht es um die Tatsache, dass dieser Mann glaubt, es könne einen Gewinn geben, der ihm die totale Unabhängigkeit garantiert. Er könne sich Freiheit erkaufen. Damit macht er einen tragischen Fehler."

Weitere Artikel: Das Concertgebouw Orchester hat seinen Chefdirigenten Daniele Gatti gefeuert, nachdem die Washington Post sein "sexuelles Fehlverhalten" öffentlich gemacht hatte, berichtet Manuel Brug in der Welt. Jürgen Kesting würdigt in der FAZ die litauische Sopranistin Asmik Grigorian, die in Salzburg zum neuen Sopranistinnenstar aufstieg. In Quebec durften zwei Stücke von Robert Lepage und Ariane Mnouchkine nicht aufgeführt werden, gegen die der Vorwurf der "kulturellen Aneignung" erhoben wurde, berichtet Julian Bernstein in der SZ.

Besprochen werden die "Walküre" und der "Parsifal" in Bayreuth (Tagesspiegel),
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Literatur

Besprochen werden unter anderem William T. Vollmanns Reportageband "Arme Leute" (NZZ), die von Lina Muzur herausgegebene Textsammlung "Sagte sie - 17 Erzählungen über Sex und Macht" (SZ), Flix' Comic "Spirou in Berlin" (Berliner Zeitung) und neue Bücher über Alexander Humboldts Reisetagebücher (SZ).
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Stichwörter: Flix

Film

Mit der vielbeachteten Initiative Kontrakt 18 haben die hiesigen Drehbuchautorinnen und -autoren eine bessere Position im Betrieb und mehr Wertschätzung ihrer Arbeit eingefordert. Einerseits eine gute Sache, meint Filmemacher Dominik Graf, doch dass dabei insbesondere auf die Regisseure gezielt wird, gebe der Debatte eine ungünstige Schlagseite: Die stehen nämlich gängigerweise in der Hierarchie ein paar Stufen weit unter den Produzentinnen und Produzenten, wie Graf in der SZ erklärt. Er glaubt: Die Stoßrichtung der Autoren erklärt sich daher, dass von den Produzenten das Geld kommt. "Einige Produzenten stellen sich den Autoren nun als Robin Hoods zur Verfügung. Oliver Berben formulierte auf einer Autoren-Veranstaltung beim Münchner Filmfest, der deutsche Film sei 'regiehörig'. ... Berben stellte auch die These auf, ein richtig gutes Drehbuch benötige nur einen mittelmäßigen Regisseur. Wieder Beifall. 'Umgekehrt wird's schwierig', sagte er." Doch nach Grafs Ansicht ist "ein Buch, das zur Abnahme und Förderung taugt, noch lange nicht großartig. Vielleicht also klatschten die Autoren in München Beifall für eine Orgie des Mittelmaßes?"

Außer Schönwetterreden, was man alles in Hollywood ändern wollte, hat sich offenbar kaum etwas getan, im Gegenteil: Manches hat sich sogar verschlechtert. So kommt eine Studie über die erfolgreichsten Filme der letzten zehn Jahre jedenfalls zu dem Schluss, dass 2008 und 2009 mehr Frauen in Sprechrollen zu sehen waren als heute und dass in diesem Zeitraum insgesamt nur etwas über 30 Prozent der Sprechrollen an Frauen gingen, berichtet Susan Vahabzadeh in der SZ. Hier gibt es die Studie als PDF - schön aufbereitet mit zahlreichen Grafiken und Tabellen.

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Peter Nau die Peter-Lorre-Werkschau des Berliner Zeughauskinos. In der NZZ berichtet Urs Bühler von filmförderpolitischen Debatten am Rande des Filmfestivals Locarno. Karl Forster erinnert in der SZ an Michelangelo Antonionis Dreh in München mit Jack Nicholson.

Besprochen werden Wim Wenders' "Grenzenlos" ("objektiv misslungen", urteilt Daniel Kothenschulte in der FR, mehr dazu hier), Christopher McQuarries "Mission Impossible 6" mit Tom Cruise (FR-Kritiker Daniel Kothenschulte befindet sich "von der ersten bis zur letzten Sekunde das Glück des freien Falls", "atemberaubend" findet Rüdiger Suchsland den Film auf Artechock und unsere Kritik gibt es hier), der Essayfilm "Willkommen in Sodom" (Tagesspiegel, kino-zeit.de) und die zweite Staffel der Serie "Der Report der Magd" (ZeitOnline).

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Design

Cody Wilson wird gerade in 21 Bundesstaaten verklagt, weil er die Anleitung für den 3-Druck einer Pistole ins Internet gestellt hat (mehr bei mashable). Domus hat ein fünf Jahre altes Interview mit Cody aus dem Archiv geholt, in dem dieser erklärt, warum das eine gute Sache ist: "Weil es jeden mit seinen eigenen unsichtbaren Heucheleien konfrontiert. Es geht nicht um Waffen, es geht um Informationen. Ein Typ sagte zu mir: 'Sieh mal, sie lassen mich zwischen einer Welt mit Waffen oder einer Welt mit kontrolliertem Internet wählen, und ich wähle freies Internet, also wähle ich Waffen.' Was sind die logischen Konsequenzen dieser Position? Du wirst nicht in der Lage sein, das zu regulieren. Es ist auf dem Tisch. Man kann eine Waffe drucken, diese dummen Objekte mit ihrer dummen, brutalen, einfachen Körperlichkeit - man wird das immer können. Alles, was ich getan habe, war, die Sichtbarkeit des Themas zu erzwingen. Es sind Institutionen des 20. Jahrhunderts versus Implikationen des 21. Jahrhunderts. Die Leute fangen an, das zu sehen."
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Musik

Jens Balzer verkündet in der ZeitOnline-Popkolumne, mit welcher Musik er sich in diesem Jahr an den Strand unter die Palmen legt: Dorian Concept kredenzt auf seinem Album "The Nature of Imitatio" nämlich einen von den heitereren Klängen der Siebziger inspirierten "lässigen Fusion-Jazz-Jam", in dem "es in der typisch nervösen Weise der Digital-Natives-Generation klickelt, piept, hupt und klackert. ... Es wölben sich in weiten Bögen schön befunkelte Vokalharmonien über den Songs; manchmal kann ein Cluster aus schief schnarrenden Schnipseln ein ganzes Disco-Soul-Orchester aus Philadelphia imitieren; und wenn man die Augen schließt, sieht man einen herrlichen Abendhimmel über dem Meer, aus grobkörnig flirrenden Pixeln gebaut." Wir Perlentaucher träumen derweil mit Blick in den Morgenhimmel:



Bjørn Schaeffner rettet in der NZZ im Rückblick auf den Technoclub-Kultur der Neunziger vor dem Vorwurf, lediglich einem entpolitisierten Hedonismus Vorschub geleistet zu haben - ein Vorwurf, der von der Öffentlichkeit genauso geteilt wurde wie von Teilen der linken Popszene. Übersehen wurde dabei allerdings, dass die Pioniere des Technos "ihre Musik als radikalen Gegenentwurf zu den Mechanismen der Pop-Industrie und der weißen Mehrheitskultur verstanden hatten. ... Das galt ähnlich auch für die House-Musik, die aus dem Ghetto kam. Es handelte sich um eine Dance-Kultur, in der die Schwulen, die Lesben und ethnische Randgruppen zu einer eigenen Stimme fanden. Im Nebel der Nacht sollte später auch die elektrifizierte Jugend Europas ihre Erleuchtung haben. Sie lernte viel über eine neue Körperlichkeit und einen fließenderen Geschlechterbegriff."

Weitere Artikel: In der taz spricht Jan Paersch mit Don Letts ausführlich über die Geschichte von Trojan Records und die historischen Bündnisse zwischen Reggae und dem britischen Punk der ersten Stunde. Thomas Gerlach erzählt in der taz derweil die Geschichte der DDR-Band Klaus Renft Combo. Für die Berliner Zeitung hat sich Sarah Pepin mit den Macherinnen des Berliner Festivals Pop-Kultur getroffen, die sich weiterhin tapfer gegen die Zumutungen der antisemitischen BDS-Kampagne stemmen.

Besprochen werden Leon Vynehalls "Nothing Is Still" (taz, Pitchfork), Sophies Album "Oil Of Every Pearl's Un-Insides" ("Eindeutig ist hier nichts. Zweideutig ist zu wenig", schreibt Christian Schachinger im Standard), Laurie Andersons Auftritt beim Berliner Festival "A l'arme" (Tagesspiegel) und das neue Album der Punch Brothers (FAZ).
Archiv: Musik