Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2002. In der FAZ erklärt Hans Ulrich Gumbrecht, dass sich Europa seine Blindheit und Eitelkeit nur leisten könne, weil es unter dem Schutz der USA stehe. Die SZ bescheinigt Bankmanagern Realitätsverlust und Größenwahn. In der FR drängt es Elfriede Jelinek, Sex, Sport und Freizeit die Unschuldsmaske herunterzureißen. Die taz fragt, wie sozial die EU sein muss. Die NZZ diskutiert die neuen Pläne für Ground Zero

FAZ, 04.10.2002

In einem flammenden Pladöyer antwortet Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturwissenschaftler an der Universität Stanford (mehr hier), auf Arundhati Roys "antiamerikanistische" Stellungnahme und erzürnt sich über die Diffamierung Amerikas, insbesondere in Deutschland. "Das moralische und politische Überlegenheitsgefühl" der europäischen Regierungen sei "ebenso unbegrenzt wie unbegründet". Provokant vergleicht er den aktuellen Konflikt mit dem Zweiten Weltkrieg: "Was steckt hinter der heute so beliebten Rede von der - anscheinend nicht nur politisch, sondern auch juristisch gemeinten - 'Illegalität' möglicher militärischer Aktionen gegen den Irak? Offenbar nichts als die riskante Prämisse, dass jeglicher Einsatz von Waffen illegal sei - vor allem, wenn er aus einer Situation militärischer Überlegenheit erfolgt. Sollte dieses Prinzip dann nicht auch retrospektiv auf das amerikanische Eingreifen im Zweiten Weltkrieg angewandt werden?" Nur weil im Ernstfall der amerikanische Schutz gewährleistet sei, meine Europa, sich soviel "Blindheit" und "kollektive Eitelkeit" leisten zu können.

Weitere Artikel: Jordan Mejias meint, dass die Frankfurter Buchmesse (mehr hier) trotz diplomatischer Abkühlung auch in Zukunft das wichtigste Stelldichein für amerikanische Verleger bleiben wird. In Litauen wurden die sterblichen Überreste von Napoleons "Grande Armee" exhumiert, berichtet Julia Schürmann. In einem Gespräch mit Joseph Hanimann erläutert Dieter Strauss, der Leiter des Pariser Goethe-Instituts, die Zielsetzung des neu begründeten Forums ausländischer Kulturinstitute (mehr hier). Dass die deutsche und polnische Denkmalpflege im zwanzigsten Jahrhundert reinste Heuchelei war, ist das schockierende Fazit einer Leipziger Fachtagung, berichtet Dieter Bartezko. "J.A." meldet, dass Salman Rushdie den französischen Skandal-Autor Michel Houellebecq gegen die Angriffe von islamischen Institutionen verteidigt.

Für den amerikanischen Schriftsteller Philip Roth steht fest, dass Amerika seit den Ereignissen des 11. Septembers von einem "unerträglichen nationalen Narzissmus" befallen ist, meldet "han". Dirk Baecker schreibt einen Nachruf auf den Physiker und Mathematiker Heinz von Foerster. Christian Schwägerl berichtet von der sorglosen und grenzenlosen Nutzung von Embryonen in China. Edo Reents singt ein Loblied die nordische Popmusik-Tradition. In der Kolumne bemerkt "nma", dass sowohl Büchern als auch Ausstellungen immer kindlichere Titel gegeben werden. Dietmar Polacek porträtiert den italienischen Kunsträuberjäger Roberto Conforti. In Sachen Natur und Wissenschaft bringt Barbara Hobom die frohe Botschaft, dass das Erbgut des Malariaerregers nach langer Forschung jetzt entschlüsselt wurde.

Außerdem wird gemeldet, dass auf die amerikanische Weigerung hin, dem iranischen Regisseur Abbas Kiarostami ein Einreisevisum zum Anlass des New Yorker Filmfestivals ausszustellen, auch Aki Kaurismäki zuhause bleibt, mit der Begründung, wer keinen Iraner braucht, braucht auch keinen Finnen: "Bei uns gibt es ja nicht mal Öl."

Auf der Medienseite sieht Sandra Kegel einen Zusammenhang zwischen der deutschen Depression und dem Aufblühen des Sitcoms.

Besprochen werden Andreas Dresens Film "Halbe Treppe", eine Pharaonen-Ausstellung (mehr hier) in Venedig, Jochen Laabs' Erzählband "Verschwiegene Landschaften", Santiago Gamboas Roman "Das glückliche Leben des jungen Esteban", Georgette Dees neues Programm im Berliner Variete-Zelt Tipi, die erste komplette Aufführung des "zweythen Theils der Zauberflöte" in Chemnitz.

FR, 04.10.2002

Die berühmt-berüchtigte österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek (hier mehr) spricht über ihre Heimat, ihren neuen Theatertext "In den Alpen" und den wahren Grund, der sie zum Schreiben drängt: um "den scheinbar unschuldigen Dingen wie Sex, Sport, Freizeit ihre Unschuldsmaske herunterzureißen. Österreich ist nach der Katastrophe der Nazizeit sehr rasch wieder zu dieser Unbeflecktheit des Schnees und der Berge zurückgekehrt. Ich habe das endlose Bedürfnis, die Erde wegzukratzen und den Untergrund, auf dem diese Lift- und Jausenstationen gebaut sind, bloßzulegen."

Weitere Artikel: Krystian Woznicki erklärt uns, warum der königliche Fußballclub Real Madrid das "Imperium Infantile" des Sports genannt wird, und warum das Ergebnis zweitrangig und das Image alles ist. In der Times-mager-Kolumne staunt Ludger Lütkehaus über die "wunderbare Heiligenvermehrung" unter Papst Johannes Paul II (wirklich jeder Heilige ist im Ökumenischen Heiligenlexikon zu finden). "gfk" meldet, dass sich Udo Zimmermann, Noch-Intendant der Deutschen Oper in Berlin, sich aus dem Amt gedrängt fühlt. Martin Altmeyer schreibt von einem Kongress in Frankfurt über die Zukunft der Psychoanalyse. Christoph Schröder war dabei, als Verena Auffermann auf der Frankfurter Buchmesse feierlich die neue Anthologie "Beste deutsche Erzähler" präsentierte. Nikholaus Merck wundert sich dagegen, dass auf den Berliner Festwochen niemand das Theater des Fadhel Jaibi (mehr hier) ansehen will und vermutet eine kollektive "kulturelle Strafaktion" von Publikum und Rezensenten gegen einen der wichtigsten arabischen Regisseure.

Auf der Medienseite berichtet Henning Groscurth von den Internet-Plänen der finanziell angeschlagenen Zeitungsverlage. "Jahrelang waren die Online-Auftritte nicht mehr als kostenlose Gratiszugaben an Leser und Nicht-Leser der gedruckten Ausgabe. Doch das muss jetzt anders werden." Auch die Surfer sollen zahlen müssen.

Besprochen werden Tom Liwas "typisches" Album "Ich reite ein Pferd, auf dem sonst nur Frauen reiten" sowie die "herrliche" englische Filmkomödie "Kick it like Beckham".


TAZ, 04.10.2002

Die EU will mehr sein als nur ein Binnenmarkt - aber bitteschön nur in der Theorie, klagt Daniela Weingärtner auf der Tagesthemen-Seite. Wenn es wie derzeit im Konvent nun darum geht, gemeinsame soziale Standards festzulegen, bleibt von den hohen Ansprüchen nicht mehr viel übrig. "Eigentlich - so sollte man meinen - müsste die starke sozialistische Politikfamilie im Konvent sicherstellen, dass die soziale Frage nicht unter die Räder kommt. Ein Drittel der Konventsmitglieder gehört sozialistischen Parteien an, wie ein gestern vorgelegtes Grundsatzpapier stolz vermerkt. Der Inhalt allerdings gibt wenig Anlass zu Optimismus. Auf vier dürren Seiten werden die bekannten frommen Wünsche - Transparenz, Nachhaltigkeit, sozialer Zusammenhalt - in allgemeinster Form ein weiteres Mal zusammengefasst." Über die Probleme der Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Konvent gibt es zudem ein Interview mit Simon Wilson vom NGO-Dachverband Social Platform.

Im Feuilleton verfolgt Uh-Young Kim die Entwicklung des House-Produzenten Turner zum sensiblen Songschreiber. Außerdem spricht Beck Hansen (mehr hier), sensibler Songschreiber von Geburt, über sein neues Album "Sea Change" und den Charme schlechter und die Schönheit einfacher Songs.

Ansonsten wird rezensiert, nämlich die Ausstellung "Shopping" in der Frankfurter Schirn, das Album "Specialist in All Styles" des Orchestra Baobab (mehr hier), eine Art Buena Vista Africa Club, und schließlich Thomas Imbachs Dokumentarfilm "Happiness is a warm gun" über die amerikanisch angehauchte politische Liebesaffäre von Petra Kelly und Gert Bastian.

Und dann noch TOM.


NZZ, 04.10.2002

Im Gespräch mit Ross B. Wimer, Mitinhaber des Architekturbüros SOM, nimmt Rahel Hartmann die Vorschläge unter die Lupe, die die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) für die architektonische Neugestaltung des Ground Zero vorsieht. "Das Gelände des ehemaligen WTC wäre ein idealer Ort, um ein Museum, eine Schule oder eine Bibliothek zu errichten und so Lower Manhattan, das nach Büroschluss weitgehend verwaist, in einen lebendigeren Ort zu verwandeln. Zu definieren, was aus downtown Manhattan wird, geht aber über die Projekte für Ground Zero hinaus", so Architekt Wimer, der an der Planung selbst mitbeteiligt ist. Von der Idee, Ground Zero als Denkmal und Friedhof einfach unbebaut stehen zu lassen, hält Wimer nichts: "Vom städtebaulichen Standpunkt aus gesehen wird Ground Zero nicht zu einem besseren Ort, wenn er leer ist. Denn ein urbaner Organismus wie Manhattan verlangt eine gewisse Dichte."

Weitere Artikel: Georg-Friedrich Kühn beleuchtet die Umstände, die zu Udo Zimmermann zur Aufgabe seines Amts als Generalintendanten der Deutschen Oper Berlin geführt (oder gedrängt?) haben, Paul Jandl freut sich über die Rückkehr von Teilen der seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich gewachsenen Fürstlich-Liechtensteinischen Gemäldesammlung ins Wiener Palais und der mit web. zeichnende Autor bedauert, dass Ross Stretton nach nur dreizehn Monaten den Posten als Direktor des Royal Ballet London wieder räumt.

Besprochen werden die von Marc Zitzmann als "großartig" bezeichnete Aufführung des Stücks "4.48 Psychose" von Sarah Kane durch den "Ausnahmeregisseur" Claude Regy in Paris, die Ausstellung der "Kakteenhaus"-Installation des britischen Künstlers Simon Starling im Portikus Frankfurt. Birgit Sonna lobt die "Die Wohltat der Kunst - Post/Feministische Positionen der neunziger Jahre" in der Kunsthalle Baden-Baden als "sehens- und debattierenswert". Besprochen werden spanischsprachige Filme auf dem Filmfestival von San Sebastian und Andreas Dresens "Halbe Treppe".

SZ, 04.10.2002

Die horrenden Verluste der Banken sind rational gar nicht mehr zu erklären, meint Volker Wöhrl und bescheinigt den Bankmanagern neben katastrophalen Fehleinschätzungen und schleichendem Realitätsverlust auch eine gehörige Prise Größenwahn. "Die Flaute hat Topmanager nicht dran gehindert, beim Salär kräftig zuzulangen. Bei der Deutschen Bank verdiente im Jahr 2000 ein einfaches Vorstandsmitglied 11 Millionen Euro; angesichts karger Tariferhöhungen bei den Mitarbeitern und bei den mäßigen Erfolgen obendrein ein Ärgernis. Vermutlich sind die Herren jedoch überzeugt, ihr Geld wert zu sein."

In seinen Notizen rechnet Claus Koch mit George Bush dem Jüngeren ab, der seinen Irak-Feldzug wohl noch vor dem nächsten Frühjahr durchziehen will - und muss. "Denn bis dahin wird er die amerikanische Wirtschaft weiter ruiniert haben. Rezession wird erneut herrschen, der Aktienverfall wird kein Ende gefunden haben, die Lust zum Investieren wird nicht wach geküsst sein. Der prahlerische Cunctator wird dann als der Schuldige dastehen."

Weitere Artikel: Volker Breidecker weist darauf hin, dass die Bibliotheken in Wien und München ihre Arcana geöffnet haben. Martin Urban erklärt, warum mehr Mobilität nicht mit mehr Verkehr zu erreichen sein wird. Jörg Häntzschel stellt die Firma Clean Flicks vor, die amerikanische Filme nachträglich von lästigem Sex, Nacktheit und Gewalt befreit - und damit anscheinend eine Marktlücke entdeckt hat. Wolfgang Schreiber berichtet, wie Udo Zimmermann im "Intrigantenstadl" Berlin sich gegen seinen Rausschmiss bei der Deutschen Oper wehrt. "awi" meldet, dass Frank Castorf ab 2004 die künstlerische Leitung der Ruhrfestspiele in Recklinghausen übernehmen wird. Und Stefan Koldehoff zieht eine ernüchternde Bilanz der Raubkunsttagung in Nürnberg: nur wenige deutsche Museen interessiert offensichtlich, woher ihre Kunstwerke eigentlich stammen.

Auf der Medienseite schreibt Hans-Jürgen Jakobs über die schwierige Beziehung des Holtzbrinck-Verlags zur Außenwelt im Allgemeinen und der Medienwelt im Speziellen, Raphael Honigstein berichtet über die Affäre um eine angebliche Affäre des englischen Ex-Premiers John Major, und Javier Caceres stellt das keinswegs sensationelle Lexikon des Klatsches von Klatschprofi Michael Graeter vor.

Besprechungen widmen sich Bigas Lunas mythischem Melodram "Son de mar", Sandra Strunz? Ibsen-Inszenierung "Hedda Gabler" am Hamburger Schauspielhaus, Klaus Chattens neuem Stück "Klassentreffen" am Stuttgarter Theater Rampe, ein Konzert des Kirov-Orchesters des Mariinsky-Theaters St. Petersburg in der Münchner Philharmonie, und natürlich Büchern, darunter Alain Robbe-Grillets Beinahe-Bestseller "Die Wiederholung", Tobias Meißners etwas dissonanter Roman "Hiobs Spiel" und Ulla Lachauers wunderbar ruhiger, neu aufgelegter Bildband über das Memelland, das "Land der vielen Himmel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).