Vorgeblättert

Leseprobe zu Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Teil 3

22.02.2007.
Die Mathilde, die wenig später in Begleitung einer Pflegerin aus Inzersdorf heimkehrte, war in der Wahrnehmung ihrer Tochter eine andere. Aus dem zarten kranken Vögelchen war ein kleiner Raubvogel mit scharfen Krallen und spitzem Schnabel geworden.
Mathilde stritt sich nun immer öfter lautstark mit Hermann und dem Personal. Als dann auch noch das Hausmädchen Katl, Vickis mütterliche Vertraute, zermürbt den Haushalt verließ, verlor das Mädchen den letzten Haltepunkt ihrer Kindheit. Von nun an war Vicki Betreuerin, später auch Pflegerin ihrer Mutter und sollte es für die nächsten zwölf Jahre bleiben.

Womöglich war Inzersdorf nicht Mathildes letzter Sanatoriumsaufenthalt. "Meine Mutter war psychisch krank und verbrachte Jahre in psychiatrischen Anstalten", schrieb Vicki Baum 1958 an eine Vertraute.(13) In ihren Erinnerungen beschrieb sie später, wie Mathilde eines Tages aus dem Fenster des vierten Stocks springen wollte und nur von ihrer Pflegerin davon abgehalten werden konnte: "Ich kann wohl behaupten, dass man als zukünftige Schriftstellerin durch eine harte Schule geht, wenn man die eigene Mutter ständig davon abhalten muss, sich umzubringen."(14)

Nach Inzersdorf blieb Vicki jedenfalls mit ihren Ängsten und ihrer Scham über ihre kranke Mutter allein, und der Patriarch Hermann verstärkte seine Anstrengungen, aus dem kränklichen, dünnen Mädchen einen "Jungen" zu machen, "vielleicht, damit ich nicht auch überschnappte", meinte Baum später gegenüber einer Freundin.(15) Selbst ein Hypochonder von hohen Graden, verordnete Hermann seiner Tochter ein rigoroses Gesundheitsprogramm mit Kneippbädern und verbot ihr bestimmte Speisen und Getränke wie Süßigkeiten, Obst und Limonade. Wenn sie seine Anweisungen missachtete, kürzte er ihr das Taschengeld oder strich ihren heißgeliebten Nachtisch. Für wohlgefälliges Verhalten belohnte er sie jedoch mit "ein bis zwei Zehnern".(16) So brachte Hermann Vicki eine wichtige Lektion bei: Nur Anpassung und Leistung zahlten sich in barer Münze aus. Nur wenn sie sich verstellte und sein "Spiel" mitmachte, konnte sie sich kleine Inseln der Freiheit schaffen. Denn von dem Geld, das Hermann ihr gab, kaufte sie sich heimlich Obst und Limonade.
In ihren späteren Karrieren als Harfenistin und Schriftstellerin sollte das Geldverdienen für Vicki Baum zu einer der stärksten Triebfedern überhaupt werden.

Sie erinnerte sich noch viele Jahre später schmerzlich daran, dass Hermann ihr verbot, mit Mitschülerinnen zur Schule zu gehen.
Zudem hielt er sie an, sich die Hälfte ihres spartanischen Frühstücks, eine trockene Semmel, für die Schule aufzusparen.
Sie schämte sich dafür vor den anderen Kindern und verfütterte ihr Frühstück lieber an einen alten Klepper.(17) Hermanns Isolierungsversuche und das einsame Wissen um ihre sonderbare Mutter verstärkten bei ihr das Gefühl, anders zu sein als andere Kinder. Und so schuf sie sich in ihrer Phantasie eine eigene Welt.
Eine französische Gouvernante hatte ihr schon vor der Schulzeit das Lesen und Schreiben beigebracht. Seitdem verschlang sie jedes Buch, dessen sie habhaft werden konnte. Vickis übersteigerte Phantasie fand ein neues Ventil in der Musik. Als höhere Tochter hatte sie selbstverständlich Klavierunterricht, und als sie wirkliches musikalisches Talent zeigte, bekam sie, auf Mathildes Wunsch hin, Harfenunterricht. Mit sieben oder acht Jahren entdeckte Vicki zudem das Schreiben als ein Mittel, mit dem sie ihr Mitteilungsbedürfnis, ihre Sehnsucht nach Wertschätzung und Anerkennung befriedigen und das bedrückende Gefühl der Isolation durchbrechen konnte. Es ist bezeichnend, dass sie sich bereits in diesen frühen Versuchen nicht an gleichaltrige Kinder, sondern an Erwachsene wandte. Später erklärte Baum einer Freundin, sie habe als Achtjährige jeden Erwachsenen, den sie kannte, gefragt, ob er nicht einen Brief von ihr bekommen wolle. Und wenn dann einer mit "Ja" geantwortet habe, dann habe sie ihm eben einen Brief geschrieben.(18)

Vicki Baum war später "dankbar" für ihre Erziehung. "Ich glaube, dass Widerstände, Herausforderungen und Missachtungen gesünder für den Charakter sind als das gottverdammte Bemuttern und Verhätscheln, das so viele Kinder verkorkst."(19) Auf schmerzliche Erfahrungen mit trotzigem Stolz zu reagieren und daraus Selbstbewusstsein zu entwickeln - dieses Schema behielt sie ein Leben lang bei.

Die traumatischen Kindheitserlebnisse stellten eine wichtige Quelle ihrer Kreativität dar. Das gilt nicht nur für ihre frühen Romane, sondern auch für ihr letztes Buch. Als Baum mit siebzig nichts anderes mehr einfallen wollte, schrieb sie einfach den Roman ihres Lebens - ihre Autobiographie.

      *

Um die Jahrhundertwende entwickelte sich Wien zu einem europäischen Zentrum der Moderne. Hier wandelten Bruckner, Mahler und Hugo Wolf auf Richard Wagners Spuren, erforschten Alban Berg und Arnold Schönberg die freie Tonalität. Die Künstler der Wiener Werkstätte und der Art nouveau erschufen eine neue, lebensnahe Bildsprache, Otto Wagner und Adolf Loos bereiteten einer entrümpelten Architektur den Weg, Sigmund Freud entwickelte mit der Psychoanalyse ein neuartiges Menschenbild.

Mittendrin im lärmenden Getöse, im "schwindelerregenden Kreisen": die heranwachsende Vicki. Als Backfisch war sie nun alt genug, um sich von der Euphorie anstecken zu lassen, die die jungen Künstler in allen Bereichen zu außergewöhnlichen Leistungen anspornte. Bei dieser höchst produktiven Wiener "Krankheit" handelte es sich vor allem um einen Kampf der Generationen. Der Umbruch, der die Zweimillionenstadt Wien erfasste, zeigte sich für Vicki zunächst in ganz alltäglichen Dingen. Die Vertreter der älteren, vor 1850 geborenen Generation gingen dahin. Im September 1901 starb Vickis Großmutter Maria Donath, weniger als drei Jahre nach ihrem Mann Leopold. Hermann, Mathilde und Vicki zogen in eine repräsentativere Wohnung auf die andere Seite des Schillerparks, direkt gegenüber der Kunstakademie. Bald wurde im 1870 erbauten Nibelungenhof - die Baums wohnten im rechten Teil - "überall geklopft und gehämmert". Die Handwerker installierten Zentralheizungen und Leitungen, die warmes Wasser direkt in die Wohnungen transportierten. Die gefährlichen Petroleumlampen, die im Hause Baum bereits so manches Tischtuch in Brand gesetzt hatten, wurden durch Glühlampen ersetzt. Gleiches galt für die Straßenbeleuchtung, die im Inneren Bezirk komplett elektrifiziert wurde. Wenn Vicki in der vierten Etage das zur Straße gehende Fenster des Salons öffnete, musste ihr auffallen, dass immer weniger Fiaker über das unebene Granitpflaster fuhren: In das alltägliche Getrappel der Pferde mischten sich nun schrilles Fahrradklingeln und aufheulende Motoren von Krafträdern und Automobilen.

Einige Protagonisten des Wandels lebten praktisch vor Vickis Haustüre. In der Nähe der Oberen Donaugasse, dort, wo nun Großmutter Fanny, Onkel Sandor und Tochter Jenny wohnten, hatte Sigmund Freud das Realgymnasium besucht, jener Arzt, der die bei den Wienern so verbreiteten realitätsverzerrenden Abwehrhaltungen erforschte und nicht zuletzt aufgrund dieser Beobachtungen die revolutionäre Theorie der Psychoanalyse entwickelte.
In der Akademie der Bildenden Künste, die sich gegenüber der neuen Wohnung der Baums befand, formierten sich die Vertreter einer neuen Kunstrichtung zu einer Interessensgruppe, an deren Spitze der Architekt Otto Wagner stand. Die Sezessionisten sagten sich von der überbordenden Bildästhetik der Ringstraßenära los, wollten Kunst und tägliches Leben verbinden. Der Sezessionspavillon, das Manifest dieser neuen Kunst, entstand nur ein paar Schritte entfernt am Karlsplatz. Auf dem Giebel des kubusartigen Baus prangte die skandalträchtige Losung der neuen Generation, zu der sich nun auch Vicki zählte: "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit." Dieser erste Bau der Moderne in der Stadt, wegen seiner Kuppel aus vergoldeten Lorbeeren von den Wienern spöttisch "goldene Krauthappel" (Krautkopf) genannt, löste heftige Kontroversen aus. Den meisten, auch dem Kaiser, galt der Pavillon schlichtweg als Ärgernis. Vicki Baum hielt den Pavillon zwar ebenfalls für "hässlich", "eine Stilverirrung, wenn es je eine gegeben hat", verteidigte ihn jedoch gegen alle Angriffe: "Er war anders, neu, er gehörte uns, den Jungen."(20)

Bis zur achten Klasse ging sie in die ebenfalls nahegelegene Mädchenübungsschule der Lehrerinnenbildungsanstalt in der Hegelgasse.
Danach hätte es ihr offengestanden, eine höhere Schule zu absolvieren und sich im Pädagogium (das sich im selben Schulgebäude befand) zur Volksschullehrerin oder Erzieherin ausbilden zu lassen. Doch dazu kam es nicht. Mathilde bestand darauf, dass Vicki Konzertharfenistin wurde und später einmal ihr eigenes Geld verdiente. Es war sicherlich kein Zufall, dass Als Backfisch Vicki diesen Werdegang unmittelbar nach dem Tod ihres musikbegeisterten Großvaters Leopold einschlagen durfte. Leopold war seiner Familie zuliebe Kaufmann und nicht Pianist geworden.
Aber seine Tochter Mathilde, die sich am Klavier in einem Chopin? schen Notturno verlieren konnte, "bis die Abenddämmerung die Tasten verwischte"(21), sorgte nun dafür, dass ihre Tochter Leopolds "Vermächtnis" erfüllte und Berufsmusikerin wurde.
In "endlosen Disputen" setzte sie sich Vicki Baum zufolge Hermann gegenüber durch.

Seit 1898 besuchte Vicki also die Vorbereitungskurse des Konservatoriums im Fach Harfe. Das offizielle Eintrittsalter für die Harfenklasse war nach dem Schulstatut das vollendete zwölfte Lebensjahr. Vicki war jedoch gerade einmal zehn.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch
(copyright Kiepenheuer & Witsch)


Informationen zum Buch und zur Autorin hier