Im Kino

Ausgeliefert ans Werk

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Thomas Groh
18.05.2016. In der Zwangssituation einer Kinovorstellung macht Robert Eggers' texturintensiver Horrorfilm "The Witch" existenzielle Erfahrungen nachvollziehbar. Bryan Singers Superheldenfilm "X-Men: Apocalypse" erliegt dem Fluch vieler Blockbusterserien: Der dritte Film ist immer der schlechteste.


Ein großes Knarren und Dräuen: Die undurchdringlich anmutenden Bäume im Wald, das Holz der Dielen der kargen Hütte, die eher Klang im tiefen Frequenzbereich statt Noten akzentuierenden Streicher der musikalischen Untermalung, die drückenden grauen Wolken des Himmels, die das Licht des Films ein klein wenig neben die Realität rücken lassen, die dunkle, aus dem tiefen Innern des Körpers kommende Stimme des christlichen Patriarchen, der dem Hexenwahn anheim fällt, sogar das langsame, die Schrauben Windung um Windung minutiös anziehende Erzähltempo. Robert Eggers' eigenwilliges Horrormelodram "The Witch" setzt (darin dem zweiten großen amerikanischen Autoren-Horrorfilm der letzten Zeit, David Robert Mitchells "It Follows", nicht unähnlich) auf die Dynamik zwischen der Latenz dessen, was immer nur skizziert, referenziert wird, und der drängenden Insistenz aufs Faktische, die aus dem Texturenreichtum der äußeren - hier auch klanglichen - Wirklichkeit spricht. Daraus schlägt "The Witch" immensen atmosphärischen und sinnlichen Gewinn.

"A New-England Folktale" lautet der Untertitel. Tatsächlich fühlt sich Eggers' Film über weite Strecken an wie die Illustration einer Anekdote aus alten Dokumenten, ein Fundstück aus historischen Archiven. In der Tat klärt eine Tafel am Ende des Films darüber auf, dass zahlreiche Dialoge - bis hin zur ältlich shakespeare-artigen Patina der gesprochenen Sprache - den Zeugenaussagen historischer Gerichtsdokumente entnommen sind. Dazu passt, dass der Film zumindest im Kino im als obsolet geltenden 4:3-Format ausgewertet wird - nicht nur der Bildschärfe des digitalen Sensors kommt dies zupass, wie der Regisseur in Interviews bekräftigt, auch die zahlreichen Bäume erhalten dadurch mehr Raum im Bild nach oben, was den insgesamt beengten, unübersichtlichen Eindruck dezent verstärkt.

Das geradezu klaustrophobisch zugespitzte Zentrum des Films bildet eine Siedlerfamilie im Massachusetts des Jahres 1630, die auf einer kargen Lichtung eines noch kargeren Waldes ihr Dasein und Überleben organisiert. Der Prolog informiert, dass sie wegen der störrischen, jeglicher Weltlichkeit entsagenden christlichen Überzeugungen des Vaters William (Ralph Ineson) aus dem gesellschaftlichen Schutz einer nahen Kolonie verstoßen wurde. Bald häufen sich die rätselhaften Ereignisse: Ein Schimmelpilz stellt die überlebenswichtige Maisernte in Frage, das jüngste Kind der Familie verschwindet. Treibt eine Hexe in den nahen Wäldern ihr Unwesen?



Die Spekulationen darüber, was in Hexenzirkeln und -nächten vorgeht, hat seit der frühen Neuzeit, als die Hexenprozesse Konjunktur entwickelten, die Fantasien und im Zuge auch die Scheiterhaufen in ganz Europa befeuert. Die finsteren und vollmundig ausgekosteten Wahnvorstellungen, wie sie am gängigsten im berüchtigten "Hexenhammer" (der, was man dazu sagen muss, schon seinerzeit, insbesondere auch bei Teilen des Klerus als Werk eines Spinners galt, das lange Zeit kaum Wirkmacht entwickelt hatte) niedergeschrieben wurden, informierten im Zuge auch die Schauerliteratur und den Horrorfilm. Mit "The Witch" verweigert sich Eggers dieser Genre-Bildtradition allerdings weitgehend. Anders etwa als Rob Zombie in "Lords of Salem" (2012), einem weiteren ambitionierten Versuch eines Hexenfilms, der eher auf Atmosphäre und Bedächtigkeit einer Charakterstudie setzt, leistet Eggers keinen Vertröstungsaufschub, um sich schlussendlich in einem orgiastischen, aus zahlreichen Bildarchiven schöpfenden Fiebertraum zu ergießen.

Eggers interessiert sich nicht für den ästhetischen Überschuss des postmodernen Hexenkinos, ihm geht es um den minutiösen Nachvollzug einer existenziellen Erfahrung, wie sie sich religiös verblendeten Puritanern, für die der Hexenglaube ohne weiteres eine lebensnahe Option darstellte, in einer Krisensituation dargeboten hätte. Der eigentliche Horror besteht denn auch nicht so sehr in einer, vom Film ohnehin nur äußerst vage skizzierten, äußeren Bedrohung, sondern gründet manifest in den Eskalationen innerer Dynamiken: Ähnlich wie George A. Romero in seinen Zombieklassikern geht es Eggers um den Schrecken, den fehlgeleitetes zwischenmenschliches Verhalten im Zuge einer profunden Ideologisierung birgt. Minutiös spitzt Eggers die Krisensituation zu - Paranoia und erratisches Verhalten schlagen um sich: Die an der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenendasein stehende Tochter Thomasin (Anya Taylor-Joy) steht bald unter Verdacht, mit dem Beelzebub in Verbindung zu stehen, genau wie die beiden, im übrigen ziemlich unheimlichen kleinen Zwillingsgeschwister (dass der Name "Thomas" auf das aramäische Wort für "Zwilling" zurückgeht, ist dabei eine dunkle Anspielung, die der Film als solche zum Glück bestehen lässt und gar nicht erst ausartikuliert). Im Zeitalter sich zuspitzender religiöser Fundamentalismen in Gesellschaft und Geopolitik liegt in dieser Facette auch eine zumindest vorsichtig artikulierte Gegenwartsallegorie.

Wirklich großartig an "The Witch" ist aber die Kühnheit, mit der Eggers auf maximalen, eher an die Ästhetik des Autorenkinos erinnernden Erzählweltrealismus bis an die Grenze zur Genreverweigerung geht - und gerade in dieser Anspannung seinen Reiz entwickelt. Und wie er dieser knarrenden, dräuenden Welt ein Rest-Mysterium zu erhalten versteht, in dem der von den hypnotisch-entrückten Qualitäten des Films angenehm getriggerte Verstand des Zuschauers Purzelbäume schlagen darf. Schon deshalb empfiehlt es sich, sich diesem Film in der Zwangssituation eines Kinos auszusetzen, nicht zuletzt, da die hervorragende Tonspur einen erst unter den Bedingungen einer Kinosaal-Architektur so richtig einzumanteln versteht. "The Witch" ist, vergleichbar einer guten Ambientplatte, die sich nicht damit begnügt, bloß Tapetenmusik zu sein, ein großes, sinnliches, texturenreiches Vegnügen, dessen Grundbedingung, die Einwilligung zum Ausgeliefertsein ans Werk, eine ablenkungsreiche Heimkinosituation kaum erfüllt.

Thomas Groh

The Witch - USA 2015 - Regie: Robert Eggers - Darsteller: Anya Taylor-Joy, Ralph Ineson, Kate Dickie, Harvey Scrimshaw, Ellie Grainger - Laufzeit: 92 Minuten.

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Blockbusterhistorisch ist der Zeitpunkt, an dem die Handlung von "X-Men: Apocalypse" spielt, sorgsam ausgewählt. Einmal kommt eine Gruppe von Jungmutanten aus einem Kino, wo sie sich gerade "Return of the Jedi" angesehen haben, den Abschluss der ersten "Star Wars"-Trilogie, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern entscheidenden Anteil daran hatte, den Hollywood-Studios zu zeigen, wie viel Geld sich mit Filmen tatsächlich verdienen ließ, und die damit auch den Grundstein legte für die nicht abreißen wollende Schwemme von Marvel-(und anderen Superhelden-)Filmen, die in unserer Gegenwart die Multiplexe dieser Erde füllen.

Nachdem der Prolog ins Jahr 3600 vor Christus entführt, wo im alten Ägypten versucht wird, Apocalypse, den ersten und mächtigsten aller Mutanten, wiederauferstehen zu lassen, spielt sich die Haupthandlung im Jahr 1983 ab, genau ein Jahrzehnt nach den Ereignissen des Vorgängers "X-Men: Days of Future Past" (2014), in dem Wolverine (Hugh Jackman) per Zeitreise ins Jahr 1973 geschickt wurde, um - in Manier der "Terminator"-Filme - eine wahrlich düstere Zukunft per Eingriff in die Vergangenheit zum Besseren zu wenden.

Apocalypse (in der aufgeblasenen, blauen CGI-Erscheinung weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibend: Oscar Isaac) sucht sich seine vier Reiter zusammen - gemutmaßt wird einmal darüber, ob er das aus der Bibel hat oder doch die Bibel von ihm -, um die Herrschaft der Menschen auf Erden endgültig zu beenden und das Zeitalter der Mutanten einzuläuten. Seine Jünger findet er hauptsächlich im Ruhestand, den sie so gestalten, wie es Mutanten, die ihrer Superkräfte müde sind, nun einmal tun: Erik Lansheer alias Magneto (Michael Fassbender) hat es sich mit Frau und Kind in einer Hütte im Wald in Polen gemütlich gemacht. Angel (Ben Hardy) ist tief gestürzt, nutzt seine Flügel zunächst, um in Ost-Berlin (!) vor johlendem und sonderbar subkulturell anmutendem Publikum im Ring harte Kämpfe auszuführen. Später ertrinkt er im Selbstmitleid und einer Flasche Schnaps. Für die X-Men um den an sich und der Welt furchtbar leidenden Professor Charles Xavier (James McAvoy) und Mystique (Jennifer Lawrence) geht es nun darum, den Kampf aufzunehmen und - einmal mehr - die Welt zu retten.

"X-Men: Apocalypse" ist der sechste (inklusive zweier Wolverine-Abenteuer der achte) Eintrag im Franchise, und soll den Handlungsstrang, der mit "X: First Class" (2011) begonnen wurde, zu Ende bringen. Wo die ursprüngliche Trilogie (2000, 2003, 2006) relativ stringent eine in der "nicht allzu fernen Zukunft" angesiedelte Geschichte um die ewige Rivalität von Charles Xavier (damals: Patrick Stewart) und Erik Lansherr (Ian McKellen), sowie das immer wieder von verschiedenen Seiten torpedierte Bemühen, Menschen und Mutanten friedlich koexistieren zu lassen, erzählte, verhielt sich der während der Kuba-Krise 1962 spielende "First Class" dazu noch wie ein relativ gewöhnliches Prequel und endete schließlich mit der Namensgebung der X-Men.



In "Apocalypse" führt einmal mehr und damit zum vierten Mal bei einem "X-Men"-Film Mal Bryan Singer Regie, der sich in den Neunzigern mit dem schnell zum Kultfilm avancierten Überraschungserfolg "The Usual Suspects" für Größeres vorstellte. Leider gelingt es Singer diesmal nicht, an die Qualitäten der Vorgängerfilme anzuknüpfen. Die historischen Implikationen - etwa wenn Magneto, Überlebender der Shoah, seine Kräfte in "First Class" dazu nutzte, alte Nazis, die sich in Argentinien einen ruhigen Lebensabend machen wollen, zur Strecke zu bringen - werden durch lachhafte mythologische Bezüge ersetzt, zum Beispiel, wenn Apocalypso Sätze wie den Folgenden ausspricht: "I've been called many things over many lifetimes: Ra, Krishna, Yahweh."

Für das Jahr 1983 interessiert sich der Film nicht die Bohne, wobei das Fight Club-Ost-Berlin einerseits den Gipfel des Desinteresses darstellt; andererseits mündet dieses Desinteresse gerade hier fast schon wieder in etwas Interessantem, weil sich der Film herausnimmt, eine von allen historischen Realitäten gründlich bereinigte Phantasie-Zeit zu erschaffen. Von den Action-Szenen, um die es schließlich in solchen Filmen vornehmlich geht, bleibt nur eine in Erinnerung, in der Quicksilver (Evan Peters) zu den Klängen von Eurythmics "Sweet Dreams" die gesamte Belegschaft der unter dem Angriff Apocalypses zusammenbrechende Schule rettet - in Sekunden, die tricktechnisch zu Minuten ausgewalzt werden. Eine ähnliche Szene gab es, nicht ganz so lang, aber kaum weniger spektakulär schon im Vorgänger.

Die Kommentare der Jungmutanten zum "Star Wars"-Film fielen mit der etwas zu bemüht cleveren Selbstironie, die vielen jüngeren Blockbustern eignet, dahingehend aus, dass dritte Teile immer die schlechtesten seien. Was das George Lucas-Universum anbelangt, halte ich persönlich zwar "Return of the Jedi" für den besten der gesamten Serie; zu "X-Men: Apocalypse" aber passt die Beobachtung wie die Faust aufs Auge. Ganz unironisch.

Nicolai Bühnemann

X-Men: Apocalypse - USA 2016 - Regie: Bryan Singer - Darsteller: James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Nicholas Hoult, Oscar Isaac, Rose Byrne - Laufzeit: 144 Minuten.