Außer Atem: Das Berlinale Blog

Seid ernst und voller Kraft: Jia Zhangkes "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" (Special)

Von Thekla Dannenberg
21.02.2020.


Mit allen Mitteln, die das Kino zur Verfügung stellt, versuchen die chinesischen Filmemacher den rasanten Wandel ihres Landes zu erfassen, ihm Bilder und Bedeutung zu geben. Im vorigen Jahr lief Wang Xiaoshuais ergreifendes Melodram "So long, my son" im Wettbewerb, das von drei befreundeten Paaren erzählt, die mit den grundstürzenden Veränderungen des Systems innerhalb von dreißig Jahren klar kommen mussten, vom Ende der Kulturrevolution bis zum Turbokapitalismus. Jia Zhang-ke hat in seinen herausragenden Filmen "Still Life", "A Touch of Sin" oder "Asche ist reines Weiß" gezeigt, wie ganze Millionenstädte für den Dreischluchten-Staudamm überspült wurden, in welche Verzweiflung Menschen gestürzt wurden und wie sie an der permanenten Umwertung aller Werte zerbrechen. Er hat dafür die unterschiedlichsten Register bedient, er erzählt seine Geschichten als Sozialdrama, mit dokumentarischem Material oder in Genre-Form, aber immer feinsinnig, betörend, magisch.

In seinem Dokumentarfilm "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" befragt Jia Zhang-ke einige von Chinas größten Schriftstellern, die er für ein von ihm gegründetes Literaturfestival in seine Heimatprovinz Shanxi geladen hatte, welche Bedeutung für sie Herkunft, Familie, Erinnerung haben. Jias eigenes Heimatdorf lernen wir gleich zu Beginn kennen: Zu Revolutionsmusik, marschierenden Truppen und Großaufnahmen heroischer Monumente erklingen die Parolen des Aufbaus: Seid ernst und voller Kraft! Auf zu größeren Siegen! Vor der kommunistischen Revolution war es ein verarmter, rückständiger Ort, dann begannen die "Gruppen der gegenseitigen Hilfe" den Boden zu entsalzen, so "wie Mao es ihnen geraten hatte", bis Jias Heimat ein echtes sozialistisches Vorzeigedorf wurden. Der Dichter Ma Feng wurde nach heldenhaftem Kampf in der Volksarmee Parteisekretär der Provinz. "Bearbeite das Land, stehe aufrecht" dichtete auch Yu Jian.



Jia Zhang-ke interviewt einfache alte Leute, die sich mit verstörender Ergebenheit an die härtesten Zeiten erinnern, aber auch die großen Schriftsteller lassen kaum erkennen, wo sie jenseits der Literatur Gestaltungsmacht sehen. Mo Yan seufzt: "Der Mensch erschuf die Stadt, doch Gott das Dorf". Jia Pingwa, Sohn eines angeblichen Konterrevolutionärs, war sowieso jede Karriere verbaut. Er suchte die eigene Freiheit auf dem Land und wurde prompt mit Hepatitis infiziert. Yu Hua erzählt von seiner Jugend, die er als Sohn eines Arztes auf dem Land verbringen misste. Damals grassierte wieder einmal eine üble Epidemie in der chinesischen Provinz, Schlangenfieber, und in einem provisorischen Krankenhausareal wuchs Yu Hu direkt neben der Leichenhalle auf: "Ich bin Atheist, Junge, der Tod ist wirklich kalt." Die Schriftstellerin Liang Hong erzählt die Geschichte ihrer Familie, die weniger aus politischen, denn aus privaten Gründen sehr unglücklich war. Immer wieder beginnt sie vor der Kamera zu weinen. Sie zog von Peking zurück in ihr Heimatdorf: "Mein Leben war eigentlich gut, es fühlte sich nur falsch an."

Es fällt nicht immer ganz leicht, Jia Zhang-kes Film zu folgen. Die Gesichter und Namen der Schriftsteller sind einem nicht immer geläufig, mit dem vielen Text in der Untertitelung, den Anspielungen an einzelne Werke oder Gedichte kommt man kaum hinterher. Zwischen die Interviews legt Jia Zhangke Bilder wiegender Kornfelder und glitzernder Flussläufe, junge Paare in fahrenden Zügen strecken ihre Gesichter in die Sonne. Die Revolutionslieder vom Beginn des Films sind abgelöst von sentimentalen Klängen. In einem Moment überwältigt einen Puccinis "Nessun dorma", im nächsten berichtet noch einmal Yu Hua, wie verdreckt das Meer in seiner Kindheit war. Er musste endlos durch den gelben Schlamm schwimmen, bis es wieder blau war. Jia Zhang-kes Film dokumentiert viel Rückzug und Melancholie, aber vor allem die Sehnsucht nach einem Leben, das man noch irgendwie begreifen kann.

Swimming Out Till the Sea Turns Blue. Regie: Jia Zhang-ke. Dokumentarische Form. China 2020, 112 Minuten (Alle Vorführtermine)