Vom Nachttisch geräumt

Für den Zahnarzt Ihres Vertrauens

Von Arno Widmann
02.07.2018. Folter als Dienst am Gefolterten zeigt Richard Barnetts Geschichte der Zahnheilkunde, "Mut zur Lücke".
Ich kenne mich nicht aus mit Büchern zur Zahnheilkunde und ihrer Geschichte. Aber ich kann mir in meinen schönsten Träumen kein schöneres zum Thema vorstellen. "Mut zur Lücke" blättert man erst durch, legt es erschreckt wieder zur Seite, dann greift man wieder nach ihm, weil man sich zurücksehnt nach dem Schrecken, dem man gerade noch entfliehen wollte. Gegenüber dem Titel hübsch aufgereiht die Instrumente, mit denen der Zahnarzt Zähne entfernt. Wer keine Angst vor dem Zahnarzt hat, der betrachte dieses Buch und er wird keinen der nächsten Termine wahrnehmen. Das Spiel mit der Angst ist vielleicht doch dort am Schönsten, wo sich die Folter als Dienst am Gefolterten darstellt. Das tat die Inquisition auch: Das Geständnis, das dem Verhörten zum Beispiel beim Waterboarding, oder in der eisernen Jungfrau abgepresst wurde, sollte seinem Seelenheil dienen.

Die Zahnheilkunde stellt sich dem Betrachter als eine säkulare Fortsetzung dieser Praktiken dar. Eine sehr schöne farbige Illustration von Louis-Léopold Boilly (1761-1845) zeigt einen Dentisten, wie er einem schmerzverzerrten Patienten einen Zahn zieht. Sie hat den die vertrackte Lage genau erfassenden Titel: "Balsam aus Stahl".



Es gibt Karikaturen von u.a. Wilhelm Busch, George Cruikshank, Lucas van Leyden und Utagawa Kuniyoshi. Noch schlimmer aber sind die wissenschaftlichen Illustrationen, die Abbildungen der Gerätschaften und die detaillierten Zeichnungen, die sich nicht an ein schauderndes Publikum wandten, sondern dem medizinischen Nachwuchs zeigen sollten, wie er zum Beispiel die Zange ansetzen soll bei diesem oder bei jenem Zahn. Es ist eine Lust, diese Bilder zu betrachten, den sadistischen Gefallen nachzuvollziehen, den die Künstler an der Präzision hatten.

Auch Barnetts Text verzichtet nicht auf die Schönheit des Schreckens. Er assoziiert und collagiert mit einem wachen Sinn für Dramatik und Spannung. Am Ende seiner Einführung zitiert er den russischen Kunst- und Literaturtheoretiker Michail Bachtin: "Das groteske Gesicht läuft im Grunde genommen auf einen aufgerissenen Mund hinaus. Alles andere ist bloß die Umrahmung des Mundes, dieses klaffenden und verschlingenden leiblichen Abgrunds". Und dann Barnett: "Folgen wir Bachtin und lassen wir uns verschlingen". So schickt er uns in den Strudel des Abgrunds, der unser Mund ist.



Richard Barnett unterrichtete Wissenschafts- und Medizingeschichte u.a. in Cambridge, Oxford und an der University of California, er schreibt für The Lancet, über Gin und Gedichte. Wer mag, kann ihn auf Youtube über Operationen oder auch medizinische Illustrationskunst sprechen hören.

Aber zurück zum Buch. Wer glaubt, die ästhetische Sicht auf die Zähne sei eine Entwicklung der jüngsten Zeit, einer Epoche, in der ein expandierender Berufszweig nach zusätzlichen Erwerbsmöglichkeiten schaut, der täuscht sich. Barnett zitiert den Zürcher Pfarrer und Physiognomen Johann Caspar Lavater (1741-1801), für den schöne, weiße, gerade Zähne Zeichen eines reinen Herzens waren, während verfaulte, krumme Zähne entweder für Krankheit oder moralische Verwerflichkeit standen. Da ist es doch besser, sich mittels der ausgestellten Folterinstrumente die Zähne richten und weißeln zu lassen, als Hand an den Charakter zu legen. Natürlich lässt sich Barnett auch Hugo Blaschke nicht entgehen. Der war Hitlers Leibzahnarzt gewesen und hatte auch zahlreiche andere Nazi-Größen behandelt. Anhand seiner Unterlagen konnten viele von ihnen, darunter auch noch 1985 die Leiche Mengeles, identifiziert werden. Falls Sie in der glücklichen Lage sein sollten, einen Zahnarzt Ihres Vertrauens zu haben, das ist das Buch für ihn.

Richard Barnett: Mut zur Lücke - Kunst und Geschichte der Zahnheilkunde, DuMont, Köln 2018, Übersetzung aus dem Englischen von Ronit Jariv, 256 Seiten mit 205 farbigen und 295 s/w Abbildungen, 34 Euro