Magazinrundschau

Der Narzissmus der kleinen Unterschiede

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.01.2020. Der New Yorker erklärt, warum Vielfalt affirmative action braucht. Respekt erinnert an den Filmemacher Ivan Passer. Bloomberg erzählt, wie sich die katholische Kirche in Amerika arm rechnet. The Atlantic warnt vor den Echokammern der sozialen Medien, die zu Realitätsverlust und Stammesdenken führen können. Die New York Times stellt die neue Technologie des Genantriebs vor, die uns weniger Malariatote, einen boomenden Markt für Ethiker und jede Menge noch unbekannter Folgen bescheren könnte.

New Yorker (USA), 20.01.2020

In einem Beitrag des neuen Hefts erkundet Louis Menand die Vergangenheit und die Zukunft positiver Diskriminierung (affirmative action), die er immer noch für nötig hält: "Wir haben positive Diskriminierung, weil wir einst Sklaverei hatten und Jim Crow und Redlining und Rassengesetze, weil wir einst eine rein weiße Polizei und rein weiße Gewerkschafter hatten, rein weiße Universitäten und rein weiße Anwaltskanzleien. Um George Shultz, Nixons Arbeitsminister, zu paraphrasieren: Die Vereinigten Staaten hatten jahrhundertelang eine Rassenquote: Sie war gleich null. Positive Diskriminierung ist ein Versuch, das Unrecht, das den Schwarzen angetan wurde, wiedergutzumachen. Der vierzehnte Zusatzartikel schützt auch Weiße, aber deshalb musste er nicht geschrieben werden. Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Shelby gegen Holder, mit der eine zentrale Bestimmung des Stimmrechtsgesetzes aufgehoben wurde, ist nach hinten losgegangen. Es stellt sich heraus, dass, wenn man Durchsetzungsmechanismen beseitigt, die Dinge dazu neigen, zum Status quo ante zurückzukehren. Die gesamte Geschichte der positiven Diskriminierung zeigt, wie [der Juraprofessor Melvin] Urofsky etwas widerwillig zugibt, dass die Minderheitenquote nach dem Ende unterstützender Programme wieder abnimmt. Vielfalt, wie auch immer wir sie definieren, ist politisch konstruiert und wird politisch aufrechterhalten. Das passiert nicht einfach so. Es ist eine Wahl, die wir als Gesellschaft treffen."

Außerdem: Elizabeth Flock denkt über die Grenzen der Selbstverteidigung von Opfern sexueller Gewalt nach. Alex Ross stattet den ältesten Bäumen der Erde einen Besuch ab. Kelefa Sanneh nimmt das Comeback von Pinegrove unter die Lupe. Carrie Battan hört Musik des avantgardistischen Elektronikduos 100 gecs. Und Adam Gopnik liest Briefe von und Bücher über Cole Porter.
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 12.12.2019

Das Jahr 2020 wird in Ungarn als "Jahr des nationalen Zusammenhalts" begangen und im Wesentlichen an die Friedensverträge von Versailles erinnern, im Falle Ungarns die Verträge von Trianon vor 100 Jahren, bei denen Ungarn Zweidrittel seines Territoriums und ein Drittel seiner Bevölkerung an die Nachfolgerstaaten der Monarchie von Österreich-Ungarn verlor. So wird ein "Mahnmal des nationalen Zusammenhalts" in der Budapester Innenstadt erbaut und eingeweiht, das zunehmend als "revisionistisch" kritisiert wird. Der Historiker Krisztián Ungváry meint über das geplante Mahnmal: "Ich habe die Pläne gesehen und grundsätzlich halte ich die Idee nicht für verwerflich. Es ist eine legitime Sache, dass es ein solches Mahnmal gibt - und ich warne davor, die Idee sofort und grundsätzlich zu verwerfen. Und auch die Verwirklichung wäre unproblematisch, wenn auch der einfache Besucher gleich verstehen würde, warum es schmerzt (...) Wenn die ungarische Erinnerungspolitik ehrlich wäre, würde sie klarstellen, dass der Zerfall des historischen Ungarns unaufhaltsam war, sein Weiterbestehen mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker unvereinbar gewesen wäre. Auch unsere Nationwerdung beruht auf dem nationalen Selbstbestimmungsrecht. (...) In diesem Falle würde der Besucher begreifen, dass diese Geschichte gewissermaßen notwendig war, obwohl wir die Art und Weise, wie sie damals vonstatten ging, emotional nicht akzeptieren können. So wäre ein Mahnmal nicht revisionistisch! In seiner jetzigen Form ist es aber sehr einseitig, und darum sollten wir uns auch nicht über die politischen Antworten wundern, die wir bekommen werden - nebenbei bemerkt ist dies exakt im Interesse der ungarischen Regierungspartei, denn je nationalistischer die Antworten der Nachfolgestaaten zum Mahnmal ausfallen, desto stärker wird das Opferarrativ und damit die ungarische Regierungspolitik für viele Wähler bestätigt."
Archiv: Magyar Narancs

The Nation (USA), 13.01.2020

In einer nicht endenden Anklage geißelt Arundhati Roy die Regierung Narendra Modis, der Indien zu einem nationalistischen Hindu-Staat umkremple, die Wirtschaft zum Erliegen bringe, die muslimische Bevölkerung ebenso um ihre Rechte bringe wie die Bewohner Assams. Und dann ist da natürlich noch die Annexion Kashmirs, in deren Folge die Region seit Monaten mit Tod und Folter überzogen wird: "Stellen Sie sich vor, ganz New York City stünde unter einer Informations- und Ausgangssperre, kontrolliert von mehreren hunderttausend Soldaten. Stellen Sie sich vor, die Straßen Ihrer Stadt würden von Stacheldraht und Folterzentren neu kartiert werden, kleine Abu Ghreibs entstünden in Ihrer Nachbarschaft, Tausende würden verhaftet, ohne dass ihre Familien wüssten, wohin sie verschleppt wurden. Stellen Sie sich vor, Sie könnten über Wochen mit niemandem kommunizieren - nicht ihrem Nachbarn, nicht Ihren Verwandten außerhalb der Stadt. Stellen Sie sich vor, Schulen und Banken wären geschlossen. Ihre Eltern, Geschwistern, Partner oder Kinder stürben, ohne dass sie davon wüssten. Stellen Sie sich den Mangel an medizinischer Versorgung, Medikamenten, Lebensmitteln, Benzin und Geld vor. Stellen Sie sich Tagelöhner vor, die seit Wochen kein Einkommen haben. Und dann stellen Sie sich vor, dass Ihnen jemand sagt, alles geschähe nur zu Ihrem eigenen Besten."
Archiv: The Nation

Respekt (Tschechien), 10.01.2020

Jindřiška Bláhová würdigt den 86-jährig in Nevada verstorbenen tschechischen Filmemacher Ivan Passer, einen engen Mitarbeiter und Freund Miloš Formans, mit dem zusammen er nach der sowjetischen Invasion in die USA emigrierte. Beide gehörten sie zu den Begründern der Tschechischen Neuen Welle der 60er-Jahre. "Im kongenialen Triumvirat mit Jaroslav Papoušek schufen sie den neuen Typ eines authentischen Antihelden, der sich von den schwarz-weißen sozialrealistischen Helden abgrenzte, sowie eine neue zivile Poetik der Alltäglichkeit, die das Leben in der sozialistischen Tschechoslowakei genau widerspiegelte, zugleich aber auch eine allgemeingültige Aussage über die Existenz war." Nach der Emigration gelang Passer in den USA eine zweite Karriere, "wenngleich seine Filme nie eine so weitreichende Popularität und kulturelle Relevanz besaßen wie die Filme des pragmatischeren, durchschlagskräftigeren und besser auf das Hollywoodsystem eingestimmten Miloš Forman". Bláhovás Nachruf weckt zumindest Neugier, sich näher mit Passers Werk zu beschäftigen: "Ihn interessierten banale Kleinigkeiten und er schaffte es, große Filme aus ihnen zu machen. Sein poetisches Debüt 'Intime Beleuchtung' aus dem Jahr 1965 gehört zum Besten, was hierzulande an Filmen entstanden ist."
Archiv: Respekt

Bloomberg Businessweek (USA), 13.01.2020

Die katholische Kirche ist vielleicht ein Herzchen! Kaum geht's ums Bußetun, stellt sie sich pleite. In vielen amerikanischen Bundesstaaten sind nach wie vor Hunderte von Klagen wegen sexuellen Missbrauchs anhängig. Klagen sind durch neue Gesetze in vielen Bundesstaaten auch nach längeren Fristen möglich als bisher. Und die Kirche greift zu einem Trick, zu dem Josh Saul für die Bloomberg Businessweek recherchiert hat: Man macht sich arm. Diozesen übertragen Vermögenswerte an Gemeinden, verkleinern ihr Vermögen, erklären Insolvenz und haben dann nur mehr eine geringere Summe übrig, um die Opfer zu entschädigen. "Wie manche Millionäre der Fortune-500-Liste und jüngst die Sacklers - jene Familie, der der OxyContin-Hersteller Purdue gehört - sehen die Kirchenoberen die Insolvenz als eine attraktive Lösung, denn sie bietet einen kontrollierten Weg, um eine große Zahl von Klagen beizulegen, während man so viele Vermögenswerte wie möglich behält. Ein anderer Vorteil ist die Geheimhaltung. Klagen und Prozesse führen zu Zeugenaussagen und Öffentlichkeit. Die Insolvenz ermöglicht eine weitaus ruhigere kollektive Einigung, die anhängige Klagen beendet und neue verhindert." Denn ja, alle, die nicht rechtzeitig klagen, so Paul, haben später das Nachsehen. Nach einer solchen massenhaften Einigung ist keine Klage mehr möglich.

The Atlantic (USA), 14.01.2020

Helen Lewis macht sich Gedanken über die Echokammern der sozialen Medien, die eine sektenartige Zirkelbildung begünstigen, deren Mitglieder sich für eine Mehrheit halten, die sie nicht sind. Die Corbynistas zum Beispiel, die überzeugt waren, den Mainstream zu stellen, bevor Labour spektakulär bei den Parlamentswahlen verlor: "Im Dezember schrieb die Labour-Politikerin Rebecca Long-Bailey einen Artikel, der als ihr Pitch für die Führung der Partei nach Corbyn angesehen wurde. Er wurde im Guardian veröffentlicht, einer Zeitung, die Corbyns Labour Partei unterstützte. Long-Bailey selbst wurde von Corbyns rechter Hand, John McDonnell, zur Nachfolgerin gesalbt. Das Stück war größtenteils fade, aber eine Formulierung fiel auf: 'Progressiver Patriotismus'. Die Twitter-Kommentare zu dieser Phrase zeigen den Tenor der Antworten von der linken Seite. 'Wir sind jetzt eine Wählerschaft, die nur mit Rassismus gekauft werden kann', hieß es in einem Tweet mit 1.400 Likes. 'Oder mit progressivem Patriotismus, um dem Ganzen einen neuen, schicken Namen zu geben.' (In dem Artikel, der ihre Kampagne offiziell startete, wiederholte Long-Bailey die Formulierung nicht). Doch die Gleichsetzung von 'Patriotismus' mit 'Rassismus' ist eine Randposition. Etwa 67 Prozent der Briten bezeichnen sich selbst als 'sehr' oder 'leicht" patriotisch'. Zwei Dritteln des Landes zu sagen, dass sie heimlich rassistisch seien, ist eine couragierte Wahlstrategie. ... Die echte Wut der Linken auf Menschen, die dem politischen Zentrum näher sind, spiegelt ein turbogeladenes Stammesdenken wider. Freud nannte dies 'den Narzissmus der kleinen Unterschiede'; der Rechtsgelehrte Cass Sunstein nennt es 'Gruppenpolarisierung'. In seinem 2019 erschienenen Buch 'Conformity' stellte Sunstein fest, dass 'selbstbewusste Menschen sowohl einflussreicher ... als auch anfälliger für Polarisierung sind'. Eine Konsequenz der Gruppenpolarisierung sei, dass diejenigen, die eine Minderheitenposition innehatten oder über nützliche Informationen verfügten, die dem vorherrschenden Trend zuwiderliefen, schwiegen oder ignoriert wurden. Ihre Gruppen trafen daher schlechtere Entscheidungen." (Interessant auch dieser Artikel auf ars technica, der eine Studie zum Thema vorstellt.)
Archiv: The Atlantic

London Review of Books (UK), 14.01.2020

Könnte es sein, dass Donald Trump dem Iran mit der Tötung von General Soleimani einen Gefallen getan hat? Patrick Cockburn glaubt, dass die USA eine alte Militärregel - Halte Deinen Gegner niemals auf, wenn er dabei ist, einen Fehler zu begehen - missachtet und die Ayatollas im Iran vor der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung bewahrt haben. Und zwar nicht nur im Iran selbst, sondern auch im Irak: "Ohne Frage macht Soleimanis Tod es jetzt für den Iran wieder einfacher, seinen Einfluss im Irak durchzusetzen. Soleimanis Auftreten, seine Attitüde eines Vizekönigs, seine Arroganz und die ungebremste Gewalt gegenüber Demonstranten haben der iranischen Reputation schweren Schaden zugefügt, besonders auch bei den irakischen Schiiten, die im Iran ihren Retter vor dem IS sahen. 2015 hatten noch 90 Prozent der Iraker eine proiranische Sicht, 2018 waren es nur noch fünfzig Prozent. Dagegen stieg der Anteil derjenigen, die den Iran für eine Gefahr hielten, von 25 auf 58 Prozent. Ende vorigen Jahres wurde ein irakischer Beobachter mit den Worten zitiert, Ayatollah Khamenei sollte Soleimani ins Gefängnis stecken für den Schaden, den er der irakischen Reputation im Irak zugefügt hat." (Dass die Proteste gegen die Regierung im Iran wieder aufgenommen wurden, konnte Cockburn noch nicht wissen, als er den Artikel schrieb.)

Für Charles Hope ist die Sache mit dem Salvator Mundi noch nicht ausgestanden, der recht voreilig Leonardo da Vinci zugeschrieben und mit viel Pomp in der National Gallery in London als solcher ausgestellt worden war: "Es fällt schwer, nicht von dem Geschick beeindruckt zu sein, mit dem der Kunsthändler Robert Simon sein Bild bewarb. Es fällt aber auch nicht schwer, entsetzt zu sein von der Art, wie die National Gallery da hineingezogen und benutzt wurde. Wenn eine öffentlich finanzierte Institution eine bis dahin unbekannte Arbeit mit unqualifizierter Zuschreibung zu Leonardo ausstellt, hat die Öffentlichkeit das Recht zu wissen, worauf diese Zuschreibung beruht. Sonst dient sie nur dem Marketing, nicht dem Wissen."

New York Times (USA), 12.01.2020

In der aktuellen Ausgabe des Magazins stellt Jennifer Kahn die neue genetische Technologie des Gene Drive (Genantriebs) vor, die an der Mendelschen Vererbungslehre schraubt, um Lebewesen dauerhaft genetisch zu verändern, und überlegt, was daran gut und was schlecht ist: "Gene Drives sind das neueste in einer Reihe neuer genetischer Werkzeuge, die uns helfen sollen, unsere Umwelt oder unser Leben zu verbessern. Aber während wir uns mit technologischen Durchbrüchen vertraut gemacht haben, ist es uns nicht gelungen, echte Foren zu schaffen, um darüber zu diskutieren. 'Es gibt große philosophische Fragen, die an verschiedenen Stellen aufgeworfen, aber nie beantwortet wurden', sagt Ben Hurlbut, Wissenschaftshistoriker an der Arizona State University. 'Wie sieht eine gute Zukunft aus, und wer darf darüber entscheiden?'" Immerhin hat man aus dem Monsanto-Debakel um genmodifizierte Nahrungsmittel gelernt: "Bei Gen Drives haben Gruppen wie Target Malaria, ein gemeinnütziges Forschungskonsortium, das vom Imperial College, London, verwaltet und zum Teil von der Bill and Melinda Gates Foundation finanziert wird, betont, dass der Einsatz von modifizierten Moskitos in Afrika 'eine afrikanische Entscheidung' sein sollte. Lokale und nationale Regierungen würden mit Regulierungsorganisationen wie den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeiten, die einen Rahmen für die Prüfung und Freisetzung genetisch veränderter Moskitos vorgeschlagen haben. In den Vereinigten Staaten haben die jüngsten Entwicklungen in der Genetik, einschließlich der Gen Drives, einen boomenden Markt für Ethiker geschaffen, aber auch für so genannte Engagement-Spezialisten, die das nicht beneidenswerte Problem haben, herauszufinden, wie man die Menschen dazu bringen kann, über ein verwirrendes und hoch technisches Forschungsgebiet wirklich nachzudenken. Bisher war der Prozess eher holprig."

In einem anderen Artikel fragt Robert F. Worth, wer der derzeitige Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate Mohammed bin Zayid eigentlich ist und welches Ziel er verfolgt: "M.B.Z. sieht wenig Unterschiede zwischen islamistischen Gruppierungen. Für ihn haben sie alle das gleiche Ziel: ein Kalifat mit dem Koran anstelle einer Verfassung. Er scheint zu glauben, dass der Nahe Osten die Wahl hat zwischen mehr Repression oder totaler Katastrophe. Eine Hobbe'sche Vision und eine eigennützige dazu. Aber die Erfahrung der letzten Jahre haben Langzeitbeobachter dazu bewogen, M.B.Zs Intuitionen über die Gefahren des politischen Islam zu respektieren … Er ist eine seltene Erscheinung in Nahost: ein kluger, weltlich zugewandter Anführer mit einer Vision für die Zukunft der Region und die dafür erforderlichen Mittel. Bei all seinen Fehlern, die Alternativen sehen zunehmend schlecht aus. Teherans Reaktionen auf die Ermordung von Suleimani sind noch nicht absehbar, aber M.B.Z. wird wahrscheinlich eine Schlüsselrolle in den kommenden Szenarien spielen. Trotz seines Rufs als Falke, ist er jüngst durch besonnene Diplomatie aufgefallen, und er hat einen besonderen Zugang zu Irans Führung."
Archiv: New York Times