Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.07.2002. Highlight der Woche: Der New Yorker feiert eine amerikanische Verinigung von Nachrufschreibern. Der Economist analysiert die neue Weltordnung. L'Espresso stöhnt über die ewige Jugend der Achtundsechziger. Outlook India untersucht die Krise des Hinduismus. Die NYT Book Review hat auch nach der Lektüre von Richard Rhodes Studie über die SS-Einsatzgruppen nicht verstanden, wie das Böse entsteht. Die London Review of Books erklärt, warum der iranische Film so gut ist. Im Spiegel resümiert Elke Schmitter die Walser-Debatte: Skandale sind hilfreich. NZZ Folio lanciert die Walzer-Debatte.

New Yorker (USA), 01.07.2002

Ja, auch das gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: eine regelmäßige "Große Konferenz der Nachrufschreiber". Mark Singer berichtet über die Institution (mehr auf dieser wunderbaren Seite. Äußerst empfehlenswert ist auch die Seite "Good Bye" des Journal of Contemporary Obituaries) und ihre Erfinderin Carolyn Gilbert, die ebenso an die "Zukunft des Nachrufs" glaubt, wie daran, dass der Nachruf in den gebührenden Rang einer Kunstform erhoben wird". Über die "Erste große Konferenz der Nachrufschreiber" weiß Singer: "The first one, which took place on a May weekend in 1999, in Archer City, was a strictly Texas event, to which only obituary writers and editors from the state's major dailies were invited. The Honorable Jerry Buchmeyer, Gilbert's federal-judge friend, gave a speech, sharing selections from his vast collection of obituaries. He also recited excerpts from a compendium of euphemisms for 'died': 'was ushered to the angels', 'passed from this plane to a higher plane', 'made his transition', 'passed into life's next adventure', 'received his final marching orders', 'departed this life on his Harley-Davidson', 'graduated to phase two of God's eternal plan', 'became a handmaiden of God', 'was royally escorted into her heavenly home', 'teed up for Golf in the Kingdom', and - my favorite - 'went fishing with Christ!! on Friday'." (.)

Außerdem zu lesen ist die Erzählung "Half Gone" von Tim O'Brien. In einem umfänglichen Porträt stellt Anthony Lane anlässlich dessen 100. Geburtstages Max Ophüls und seine Filme vor ("The Master of Ceremonies")

Besprechungen. Daniel Mendelsohn rezensiert das Romandebüt von Arthur Phillip: Thema von "Prague" ist die Reise eines jungen amerikanisch-kanadischen Quartetts durch Osteuropa, kurz nach dem Fall der Mauer. Der Roman handele "weniger von einem Ort als von einer bestimmte Zeit", erklärt Mendelsohn. David Denby bespricht die neuen Filme "Men in Black II" von Barry Sonnenfeld ("neuralizes your brain") und "Sunshine State" von John Sayles ("intelligent"). Peter Schjeldahl widmet sich der Lucian Freud-Retrospektive in der Tate Britain.

Nur in der Printausgabe: Lyrik von Nicholas Christopher und Philip Levine sowie einige (im Internet) teilweise rätselhaft be- und untertitelte Berichte über zwei Trenchcoat-Bankräuber, einen "imperialistischen Yankee" ("das Ungeheuer von New York" George Steinbrenner) und eine "widerwillige Chronistin" des World Trade Center.

Archiv: New Yorker

Economist (UK), 29.06.2002

Welche Rolle spielen die USA in der Welt? fragt das Magazin. Kritisiert die Cover Story noch Bushs einseitige Pläne für einen Frieden in Nahost, "die Scharon selbst nicht besser hätte entwerfen können", und beleuchtet ein anderer Beitrag die innenpolitischen Implikationen der neuen pro-israelischen Linie der US-Regierung, so widmet sich ein Extra-Dossier etwa dem "Zauber", der für die allermeisten Nationen von der Stärke der einzigen Weltmacht ausgeht (hier) oder wagt eine Prognose im Hinlick auf ein US-Engagement im Irak.

Im einleitenden Beitrag des Dossiers prüft Economist-Herausgeber Bill Emmott die Aussichten auf eine von den USA entworfene neue Weltordnung und zieht Parallelen zum Stand der Dinge 1945: "Two immediate things make change a likelier outcome than stasis. One is that the attacks on September 11th, and the fear of more in future on an even more devastating scale, have given the United States a powerful new motive for global activism, while persuading most other countries, whatever their snarls of criticism or resentment, not to stand in its way-at least for the time being. The second is that the actions implied by that motive are likely then to draw America into new acts and new types of engagement, whether it likes it or not."

"Books and Arts" vergleicht zwei einander prima ergänzende Erinnerungs-Bücher westlicher Diplomaten über Russland. Das eine - "The Russia Hand" des Clinton-Beraters Strobe Talbott - eine chronologische, etwas schwerfällige und selbstrechtfertigende Arbeit, das andere - "Across the Moscow River" des ehemaligen britischen Botschafters in Moskau, Rodric Braithwaite - mit einem vergleichsweise umfassenderen, nachdenklicheren und erhellenderen Blick. Während Talbott die Leistungen (und Versäumnisse) der Clinton-Regierung und vor allem des Jelzin-Freunds Bill herausstellt, konzentriert sich Braithwaite auf den Kollaps des russischen Kommunismus und den Machtwechsel im Kreml. "He movingly describes Mr Gorbachev's dilemmas and, with many first-hand anecdotes, analyses the last Soviet leader's talents and flaws with rare insight. His description of how power gradually and then with dizzying speed slipped out of Mr Gorbachev's hands is hard to beat."

Weitere Artikel beschäftigen sich mit der auch nach Giulianis Abgang immer noch blendenden Verbrechensstatistik New Yorks sowie mit der Entdeckung ganz ganz früher Picassos: 70 000 Jahre alter, in Stein geritzter geometrischer Muster, aufgestöbert in einer Höhle in Südafrika. Ein Schlag für alle eurozentrischen Kulturimperialisten!
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 27.06.2002

Das neue Buch der italienischen Journalistin Oriana Fallaci, "La Rage et l'orgueil" (Die Wut und der Stolz), hat nach seinem Erscheinen in Frankreich einen Sturm der Entrüstung ausgelöst und beschäftigt nun die Gerichte. Entstanden in Reaktion auf den 11. September attackiert Fallaci darin nicht nur die Islamisten, sondern auch die in Europa lebenden Muslime: die Immigranten "vermehren sich wie Ratten", seien für Prostitution und Kriminalität verantwortlich, und der arabische Mann habe "etwas, das jede Frau mit Geschmack abstößt". Ein Verbotsantrag von zwei französischen Organisationen gegen das Buch ("islamfeindliches Pamphlet") wurde inzwischen abgelehnt, aber zur Überprüfung an die nächste Instanz weiter gegeben. Am 10. Juli wird darüber verhandelt. (Eine Zusammenfassung der bisherigen juristischen Ereignisse lesen Sie hier.) Laurent Joffrin geht in seinem mit einiger Rage geschriebenen Text mit der Autorin, dem Buch und seinen Befürwortern (darunter Alain Finkielkraut) hart ins Gericht. Das Buch sei "symptomatisch", "idiotisch" und "pathologisch", insofern es "wie ein Fiebermal auf eine viel tieferliegende Krankheit hindeutet". Ergänzt wird Joffrins Abrechnung durch ein Porträt der "florentinischen Hasspredigerin", das mit dem sprechenden Titel "Der Kreuzzug der Macho-Frau" überschrieben ist. Denn auch hier geht es recht barsch und stellenweise sehr persönlich zu: Fallaci sei schon immer ein "Opfer ihrer machistisch-manichäistischen Weltsicht" gewesen. Nun habe sie, schreibt die Italienkorrespondentin des Nouvel Obs, Marcelle Padovani, "mit 73 ihr Gewehr noch einmal geladen".

Außerdem - und unbedingt lesenswert -: ein Interview mit Peter Brook, der für das Festival von Aix-en-Provence in diesem Jahr eine Oper ("Don Giovanni") und ein Theaterstück ("Hamlet") inszeniert hat. Brook erklärt, warum ein Sänger, der eine Rolle bereits fünf Mal gesungen hat oder sich "jeder beliebigen Regie anpasst" gar nicht die Ausdruckskraft haben kann, die er, Brook, verlangt. Sehr schön auch seine Erläuterung über die Gemeinsamkeit von Mozart und Shakespeare: "Das Detail. Im alten Komödiantentheater kann der Ausdruck eines einzigen, großen Gefühls fünf Minuten dauern: der Zorn, die Rache etc. Das macht die Sache schwer. Kein Mensch hat solche Gefühlsregungen so lange. Shakespeare und Mozart... konnten den wahren Moment schaffen, klug, wahrhaftig, in einem einzigen Satz."

Folio (Schweiz), 01.07.2002

Das neue Folio-Heft ist den nicht-professionellen Tänzerinnen und Tänzern gewidmet. Denn Tanzen, so heißt es im Editorial, führt immer "zu irgendeinem Glück".

Hans Peter Treichler erinnert an die Zeit, als Zürich noch eine Bastion im Kampf wider die Tanzlust war: "Entsprechende Traktate trugen den Titel 'Vom Ballsaal zur Hölle' und stellten den Walzer als Verführungsszene in aller Öffentlichkeit dar. Er mache aus gesitteten Damen schmachtende Opfer: 'Ihr nackter Arm liegt praktisch um seinen Hals, ihr teilweise entblösster, schwellender Busen wogt im Aufruhr gegen seine Brust; er presst sie an sich, bis jede Rundung ihres Körpers erbebt vom amourösen Kontakt; sein heisser Atem, nach starken Spirituosen dünstend, streicht ihr über Haar und Wangen' - kurz, in vielen Fällen entpuppe sich der Walzer als Vorspiel 'zum sündigen Werk der Nacht'." (Wie erregend es sein muss, Calvinist zu sein!)

Reto U. Schneider war in Schweden, wo sich jeden Sommer die besten Lindy-Hopper aus aller Welt treffen: "Lindy-Hop ist der von jungen Schwarzen erfundene Swingtanz aus den dreißiger Jahren, der vor allem zu Big-Band-Jazz getanzt wird. Der Name verweist auf den Piloten und Atlantiküberquerer Charles Lindbergh."

Weitere Artikel: Lilo Weber geht der Frage nach, warum der Mensch überhaupt tanzt. Bettina Looser, Daniele Muscionico und Andreas Heller haben mehrere Tanzschulen besucht. Andreas Heller hat die Tänzer im Tanzpavillon des Hotels Luitpold in Bad Wörishofen beobachtet (Stolpern beim Quickstep ist nicht erlaubt - auch mit über 70 nicht). Markus Storrer hört die Knochen der Breakdancer splittern. Tobi Müller beschreibt die Lust des Ravers. Und Raphael Zehnder erklärt, wie ein DJ die Leute zum Tanzen bringt.

Archiv: Folio

New York Times (USA), 30.06.2002

Walter Reich bespricht das Buch "Masters of Death. The SS-Einsatzgruppen and the Invention of the Holocaust" (hier ein Auszug) des Pulitzerpreisträgers Richard Rhodes. Rhodes untersucht das grausame Geschäft der SS-Einsatzgruppen unter Himmlers Führung und zeigt, indem er Opfer und Täter als Persönlichkeiten wahrnimmt, wie das "industrialisierte Morden" vor sich ging. Er vertieft unseren Begriff von der vollkommenen Bösartigkeit des Holocausts, schreibt Reich, räumt aber zugleich ein, dass es der "ausgezeichneten und sehr lesbaren Arbeit" nicht gelingt zu klären, wie das Böse entsteht. Die von Rhodes verwendete Theorie (des Kriminologen Lonnie Athens), die in vier Schritten den "Sozialisationsprozess" der Einsatzgruppen hin zu mehr oder weniger willigen Vollstreckern beschreiben soll, hat Reich nicht überzeugt: "The behaviors and personal histories of Nazis that Rhodes cites, whether of Himmler or the Einsatzgruppen officers, though sometimes compatible with one or another part of Athens's theory, aren't enough to lead us to the conclusion that the theory can explain their violence or that of the Nazis in general."

Ja, schreibt A. O. Scott über Gary Shteyngarts Debütroman "The Russian Debutante's Handbook" (Auszug und Audiolesung), dies ist ein weiteres Buch über einen übergebildeten, unterreizten jungen Menschen aus Manhattan auf seinem Weg durch einen reichlich chaotischen Moment der Geschichte. Ein klassischer Bildungsroman also? Abwarten, meint Scott und folgt dem Helden, Vladimir, nach Prava, "a thinly disguised Prague", wo der Plot dann doch ganz schön ausgefuchst wird, "as Vladimir becomes the architect of a complex pyramid scheme and the impresario of little magazines and rave clubs, a bohemian gangster-mogul". Des Autors spielerische, karnevaleske Sensibilität, so Scott, "fits within a Russian satirical-fantastic tradition". Und da steht schließlich auch der große Bulgakow!

Außerdem in der Review: Ein von der Rezensentin wegen seines "fresh style" gelobter Roman von Kate Jennings mit dem schönen Titel "Moral Hazard" (Leseprobe), in dem ein politisch eher linksorientierter Redenschreiber in die "ethical jungles of high finance" gerät, und Biografien - über Chet Baker (Auszug "Deep in a Dream") sowie, als fünfter und letzter Band eines monumentalen Projekts von Joseph Frank, über Dostojewskij. Hier zum Anlesen.
Archiv: New York Times

Espresso (Italien), 04.07.2002

In einem Artikel des Magazins ruft Enrico Pedemonte die "neue Revolution der Achtundsechziger" aus. Was tun gegen die Überalterung der Weltbevölkerung? Die Vorstellung vom Alter als einer Art Krankheit gehört geändert, zitiert Pedemonte eine Studie des CSISs (Center for Strategic and International Studies) in Washington, derzufolge die heute Fünfzigjährigen, revolutionär Erprobten das gerade in die Hand nehmen: "Das Alter als kulturelles Konstrukt. Da die Kultur aber zeitgenössisch bestimmt ist, beschließen die Zeitgenossen eben, es abzuschaffen." Mit anderen Worten: Die Alten von morgen weigern sich, von der Szene abzutreten, und leben die "ewige Jugend poduktiver Berufstätiger und eingefleischter Konsumenten". Mit der nötigen Ironie allerdings und getreu einem Motto Cesare Paveses, der schrieb, wenn es etwas gebe, das trauriger sei als das Altwerden, dann die Vorstellung, immer Kind zu bleiben.

Außerdem schildert Paolo Pontoniere die neue Terrorangst-Welle in den USA angesichts des bevorstehenden Independence Days, und Giorgio Bocca kommt noch einmal auf die mediale Abservierung von Biagi, Santoro und Luttazzi durch Berlusconi zu sprechen und erklärt sie damit, dass das Fernsehen nun einmal alles für den Cavaliere sei: "die Geld- und Machtfabrik, die Illusion, die viel stärker ist als die Wirklichkeit."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Geld, Washington, Pavese, Cesare

Prospect (UK), 01.07.2002

Über die Parteispende des britischen Zeitungs- und Pornoverlegers Richard Desmond an Labour und die Folgen dieses Hunderttausend-Pfund-Geschäfts macht sich John Lloyd Gedanken. Falsch, findet er, ist die Annahme des Geldes nicht deshalb, weil Desmond Pornos verlegt, wie besonders weibliche Parteimitglieder kritisierten, sondern weil Desmond Zeitungen besitzt. "Newspapers are in the same arena as politics: increasingly, the media defines politics. If there are to be rules in the arena, the two should not be subsidising each other-or where they are, as when a party publishes a newspaper, it should be clear for everyone to see." Pornografie dagegen gehört für Lloyd in eine andere Kategorie, "zumindest im landläufigen Sinn". Ein Pornoverleger bringt dem Politiker keine Vorteile ein. "In a political sense, for a party to be given money by a newspaper proprietor is dirty: by a pornographer, clean."

In der Cover Story untersucht John Kay die Folgen der Privatisierung 20 Jahre nach ihrer Einführung auf der Insel und relativiert ihren Erfolg so: "The subsequent effects of privatisation are as much a consequence of the fact of change, rather than the effects of specific change. Managers are more confident, organisations whose primary concerns were technical excellence have learned about marketing, customer service and financial control ? All could have been achieved without the sale of the businesses, and in some cases were, but it is unlikely they would have been implemented had asset sales not been on the agenda. Still, of the three components of market-oriented reform, disengagement and liberalisation contributed more to change than the sale of assets itself."

Andere Beiträge: Malise Ruthven untersucht die Stichhaltigkeit der von Gilles Kepel in seinem Buch "Jihad: The Trail of Political Islam" vertretenen These, wonach der 11. September den letzten Seufzer der moribunden radikal-islamischen Bewegung darstellt, und legt die repressiven Strukturen muslimisch geführter Staaten frei. Benjamin Blackwell porträtiert Venezuelas diktatorischen Präsidenten und Stehaufmanderl Hugo Chavez (mehr hier), und Anthony Brown diskutiert mit Nigel Harris über die Frage, ob Großbritannien die Immigration braucht.
Archiv: Prospect

Outlook India (Indien), 08.07.2002

Der Titel untersucht die "Krise des Hinduismus". Soutik Biswas stellt klar, dass der Hinduismus "eher eine Lebenseinstellung ist als eine Art des Denkens", die sich politisch instrumentalisieren lässt, und verurteilt den neuen " jehadi Hinduism" des "Hindutva-Mobs". Seit dem Erstarken der Rechten, schreibt er, müssten die Gläubigen daran erinnert werden, dass ihre Religion eine Weltsicht sei: "a set of beliefs about the divine order, the metaphysics of dharma that explains the human condition and gives the community an ethic, and a variety of quotidian practices dealing with purity, pollution, death and marriage. That Hinduism is necessarily amorphous and complex and it has never had a 'church' or, as sociologist M.N. Srinivas says, 'a clearly defined body of dogma'." An den liberalen Kräften, Hindu-Führern und Organisationen, sei es nun, "to come out of the shadows and appropriate the ideological space that is possibly rightfully theirs".

Zwei andere Artikel befassen sich mit dem Pressewesen im Land: Bhavdeep Kang erörtert die politischen und ökonomischen Implikationen eines von der Regierung Vajpayee ohne langes Federlesen durchgesetzten Beschlusses, der ausländischen Investoren den Zugang zu indischen Printmedien erleichtert, und vermutet dahinter die Absicht, den großen Zeitungskonsortien, zu denen auch die regierungskritische Times of India gehört, Konkurrenz und auf lange Sicht einen Maulkorb zu verpassen. Und Balbir K. Punj kritisiert noch einmal die Usancen politischer Berichterstattung, die immer mehr dem Sensationsjournalismus gleicht, wo Lügen feilgeboten und Existenzen zerstört werden. Als Beispiele nennt Punj das indische Online-Magazin tehelka.com, das Korruption dramatisiert oder fingiert habe, und Arundhati Roys blutrünstige Schilderungen der Gujarat-Ereignisse (im Outlook vom 6. Mai), die sich z. T. als falsch erwiesen haben.

In einer Buchbesprechung schließlich freut sich Urvashi Butalia über Amitav Ghoshs Prosasammlung "The Imam And The Indian" - "an eclectic mix of academic essays, general prose pieces, reflective and personal musings" -, die jeder Leser mit Interesse für das Wesen des Schreibens, der dichterischen Fantasie (und ihrer Grenzen) oder für die Verantwortung des Schriftstellers (für sein Thema etwa) "von vorn bis hinten" lesen sollte.
Archiv: Outlook India

Spiegel (Deutschland), 01.07.2002

Wie das Lernen funktioniert, erklärt uns das Titeldossier. Hauptsache schön bunt, raten die Neurodidaktiker, vor allem verantwortlich, legen die Pisa-Ergebnisse nahe. Das muss doch zu kombinieren sein!

Die zweite Debattenwelle um Walsers neuen Roman kommentiert Elke Schmitter in einem Beitrag. Redigiert ist es ja nun, das Buch, oder ist es doch nur frisiert? Was wie ein Zugeständnis aussieht, meint Schmitter, ist so gar nicht gemeint. "Martin Walser, inzwischen eine Spitzenkraft in der Disziplin 'Interessantes Missverständnis', hat zwar seinen Roman auf den Vorwurf hin redigiert, er sei antisemitisch ... doch weist er den Vorwurf weit von sich, mit jener grüblerischen Selbstgewissheit, die zu seiner Hornhaut geworden ist." Was das Debattieren betrifft, findet Schmitter, kann es gar nicht heiß genug hergehen, schließlich bewährt sich dabei "der legitime Widerstand gegen Versuche, mit den Verbrechen der Nazis robuster umzugehen, als es in den vergangenen 50 Jahren üblich und geboten war". Skandale, so Schmitter, sind hilfreich. "Sie machen, gerade im Politischen, das schwer Durchschaubare verständlich und das Abstrakte erzählbar. Sie bilden Gedächtnis aus, offenbaren Interessen und ziehen Grenzen - und manchmal schaffen sie Klarheit."

Im Spiegel-Gespräch erläutert Gruner + Jahr-Chef Bernd Kundrun den vergangene Woche bekannt gewordenen Plan des Verlags, seine Regionalzeitungen zu verkaufen. Krisenstrategie, meint Kundrun: "Der Kostendruck wird dazu führen, dass - wie bereits in den USA und Großbritannien - Zeitungsketten entstehen. Regionale Zeitungsverlage, die nicht einer solchen Kette angeschlossen sind, werden es künftig sehr schwer haben. Als Großverlag habe ich deshalb nur zwei Möglichkeiten: Ich kann mich zurückziehen - oder ich muss im dreistelligen Millionenbereich in weitere Regionalzeitungen investieren." Dass es am nötigen Kleingeld mangelt, streitet Kundrun aber komischerweise ab. Das Zeitungsgeschäft sei profitabel gewesen, die Bilanzen 2002 hätten sich "deutlich verbessert", und sogar neue Titel seien in Planung. Wie, Kostendruck?
Archiv: Spiegel

London Review of Books (UK), 27.06.2002

Gilberto Perez erklärt, wie es angeht, dass ein unter einem repressiven Regime stehendes Land wie der Iran so gute Filme macht. Eine Antwort, schreibt Perez, ist, dass die islamische Regierung das habgierige Hollywood ferngehalten und so eigenen Talenten die Möglichkeit zur Entwicklung gegeben hat. Hamid Dabashis Buch "Close-Up: Iranian Cinema, Past, Present and Future", das Perez vorstellt, bietet noch andere Erklärungen, indem es die Geschichte des iranischen Kinos im Kontext der Begegnung mit der Moderne sieht. Moderne persische Dichtung spielt eine große Rolle oder das Thema der Frau: "We learn, for example, that the release in 1936 of the first Iranian talkie, 'The Lor Girl', coincided with the banning by Reza Shah of the chador worn by women under Islamic injunction: 'The unveiling of women thus became a major feature of the newly imported art." Wer weiterführenden Internetadressen sucht, wird bei "Iranian Movies", bei der wunderbaren Adresse "Iranian.com" und der Homepage von Mohsen Makhmalbaf fündig.

Im LRB-Essay feiert Colin Burrow die elisabethanischen Übertragungen der Odyssee und der Ilias von George Chapman. Was Chapman zwischen 1598 und 1616 zustande brachte, schreibt er, "testifies to a lifetime's battle with thoughts and afterthoughts, a continual argument between the translator's own preoccupations and his sense of what is distinctive to Homer. Chapman's project took 18 years to complete, a period in which he grew bored, ran short of time, changed his mind, changed his patron, had moments of inspiration and phases of weariness. We know this because he tells his readers that it is happening. Time features almost as another character in his translation." Bestimmt, so Burrow, gibt es genauere Übersetzungen zu Homer, "but there are none so honest about the fact that sometimes translations take fire and sometimes they misfire".

Außerdem erzählt Andrew O'Hagan, wie er Fußball für sein Leben hassen lernte, und in der Printausgabe findet sich eine Besprechung der Grass-Novelle "Im Krebsgang".
Stichwörter: Ilias, Iranisches Kino

Express (Frankreich), 27.06.2002

"Le musee qui n?existait pas", hat Daniel Buren die Ausstellung seiner Werke betitelt, die vom 26. Juni bis 23. September im Centre Pompidou zu sehen ist. Im Gespräch mit Eric Libiot antwortet er auf die Frage, warum er in seiner Kunst immer nur Streifen verwendet, die genau 8,7 cm breit sind: "Man muss verstehen, dass ich nicht Streifen ausstelle, sondern Streifen in einem bestimmten Kontext. In einem Kontext, der sich ständig wandelt." Der Ort ist also das Zauberwort. Bleibt zu hoffen, dass Buren eines Tages nicht auch noch gestreifte Streifen ausstellt.

Außerdem: Peter Brook hat seinen Auftritt auf dem Festival in Aix-en-Provence mit den Inszenierungen des "Don Giovanni" und der "Tragedie d?Hamlet". Auf der Bühne nur ein orangenes Tuch. "Nichts darauf, nicht darunter", schreibt Laurence Liban. Brook fasziniert eben auch diesmal mit seinem Theater des leeren Raums. Ein weiteres Sommerfestival in Frankreich ist das Festival de la Rochelle. Dort stellt Juliette Binoche vier ihrer Lieblingsfilme vor. Dem Express hat sie verraten, warum sie gerade diese Filme liebt.

Weitere Artikel: Der Express bringt ein kurzes Interview mit dem neuen Direktor des Musee d?Orsay, Serge Lemoine. Er hat vor, einige Bilder des Museums an eine andere Stelle zu hängen. Er glaubt, damit einer Überbewertung des Impressionismus entgegenzuwirken. Einen neuen Blickwinkel eröffnet das allemal. Martine Lachaud stellt die Gewinner des "Concours national de jazz de la Defense" vor.

Die Bücherschau geht in dieser Ausgabe auf Tauchkurs: In Frankreich trauen sich Wissenschaftler häufiger, auch mal was Fiktionales auf dem Schreibtisch zu fabrizieren. Jean Courtin, wissenschaftlicher Direktor des CNRS und Experte für Ur- und Frühgeschichte hat einen Roman mit dem Titel "Le Chamane du bout du monde" vorgelegt. Er geht darin der Frage nach, wie sich Menschen wohl vor 27 000 Jahren geliebt haben mögen. Auf so eine Idee gebracht haben ihn seine Tauchgänge in den Calanques vor Cassis, wo eine sixtinische Kapelle mit aufschlussreichen Wandmalereien vor mehreren tausend Jahren abgetaucht ist. In einem Interview erzählt der Wissenschaftler vom Rausch der Tiefe.

Ansonsten: Der Express empfiehlt Lektüre, bei der es sich wirklich lohnen soll, sie auch im Sommerurlaub mit sich herumzuschleppen. Unter den Romanen "Quand nous etions grands" der Pulitzer Preisträgerin Anne Tyler und "Le baton d?Euclide" des Astrophysikers Jean-Pierre Luminet. Er erzählt die Geschichte der mythischen Bibliothek von Alexandria aus dem Blickwinkel von vier Wissenschaftlern.

Und: Obwohl es sich lohnt, in Paris einfach ziellos herumzuschlendern, legt einem der Express neue Führer durch die französische Metropole ans Herz. Darunter: "Le Routard des amoureux a Paris".
Archiv: Express