Tagtigall

Die Samen, nicht die Zweige der Dichtung

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
27.04.2018. Offene Zäsuren sind ein Grundzug von W.S. Merwins Schreibens geblieben. Ein anderer ist die Aufhebung der Zeit. Es gilt, einen großen amerikanischen Dichter zu entdecken.
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Hierzulande ist William Stanley Merwin immer noch zu wenig bekannt, doch in den USA gilt der heute 90-jährige als einer der großen Dichter seines Landes. 22 Original-Gedichtbände hat er veröffentlicht, zahllose Preise erhalten, darunter zwei Mal den Pulitzer Preis. Befragt nach den Anfängen seines Schreibens erzählt er, er habe noch während seines Studiums Ezra Pound besucht, der in Südfrankreich in einem Irrenhaus lebte, und habe auf dessen Rat hin zu übersetzen begonnen. "Read the seeds, not the twigs of poetry", soll Pound ihm gesagt haben. Übersetzt hieße das in etwa: Lies die Samen, nicht die Zweige der Dichtung, mein Sohn. Keine Frage, das Übersetzen der Klassiker schult, und so erkundete Merwin im Übersetzen (El Cid, Spanische Balladen, das Rolandlied, Dante, später Yosa Buson) die Innenwelt der eigenen Sprache, was sein Schreiben beeinflusst haben muss. Jedenfalls notierte W.H. Auden 1952 bei Erscheinen von Merwins erstem Gedichtband, nur wer aus dem Spanischen übertrage, könne die Zäsuren so fließend und beweglich setzen wie dieser junge Dichter.

So sehr sich sein poetisches Temperament, seine Virtuosität und seine Gabe zur (poetischen) Evokation über die Jahrzehnte verändert hat, offene Zäsuren sind ein Grundzug von Merwins Schreibens geblieben. Ein anderer ist die Aufhebung der Zeit. In einem seiner Gedichte mit dem Titel "An das Alter" ruft der erste Vers ("It is time to tell you") eine Erinnerung wach. Der bereits über Siebzigjährige wendet sich darin an ein imaginäres "du" seiner Kindheit und erzählt, wie dieses Du aus einer anderen und doch der eigenen Zeit auf den viel zu langen Autoreisen auf dem Rücksitz kniete und durch die Rückscheibe schaute. In der Übersetzung liest man:

...
und der freudige Faden
mit dem du die Welt zu beiden
Seiten und unter dir erscheinen sahst
und dann zusammenwachsen
von nirgendwoher ein Ort
der sich ständig dehnte und dehnte
und du hast dazu gesummt
nicht zufrieden sondern um der
Nicht-Zeit eine Dauer zu geben
...

"To keep time with no time." Tatsächlich verteidigen viele von Merwins Gedichten diese kindliche Freude, die sich einstellt, wenn man noch ohne Vergangenheit oder Zukunft vor Augen, sich ganz in der Gegenwart versunken daran übersatt guckt, wie die Welt einerseits wächst und andererseits im Fahren von einem wegwächst. 

Viele von Merwins Gedichten ähneln diesem Summen im Auto der Kindheit. Sie haben einen Anfang, und von dort aus tragen die Worte und Zeilen sich und einander fort. Wie Selbstgespräche bleiben die Worte in der Schwebe, unabgeschlossen, hören einfach auf - Sätze, die wie Fäden dahingleiten, sich alogisch verketten, um etwas zu erzeugen, das es so vielleicht nur in der Kindheit gibt: die Nichtzeit oder "Eigenzeit", der man eben in der Kunst Dauer geben kann.

"We were a time of our own", beginnt etwa das Gedicht "Entfernter Morgen",

Wir waren unsere eigene Zeit, als das Rotschwänzchen wieder auftauchte
     auf dem Griff der Mistgabel die wir aufrecht in der feuchten Erde gelassen
für eben diesen einen Moment der Schrei des schwarzen Milans der
    hoch oben über dem Fluss schwebte als der Tag wärmer wurde
schlüpfte das Wiesel wie eine List des Lichts durchs Efeu
    wo ein Wendehals auf dem Stumpf der toten Pflaume vorgab
ganz Schatten zu sein während die fernen Figuren
    des Tageslichts das dunkle Kristall seiner Augen kreuzten

Was für Bilder! Noch viele Zeilen lang webt Merwin weiter in diesen entfernten Morgen der "time of our own" hinein Beobachtungen von großer Intensität: das Schrillen der Grillen ebenso wie Schlafwandler, Igel, Dachse, Füchse und Fledermäuse. Man merkt: Merwins Gedichte gleichen dem Faden von der Rückbank der Kindheit. Alles - auch Sehnsucht oder Trauer - wird aus dem Erleben heraus wahrgenommen, nirgends werden Gefühle beschrieben. So entsteht Merwins bildliche und klangliche Dichte.

Ein ganzer Zyklus im Band ist mit "to" überschrieben, "To a friend travelling", "To impatience", "To a leave falling in winter" und schließlich: "To ___ ". Abwesendes wird in die Anwesenheit gerufen. Ohne jede Überhöhung. Dass all dies, die enorme Beweglichkeit, die klangliche und rhythmische Dichte, die Zeilensprünge, die alle Bilder aufsprengen können - dass all dies im Deutschen hörbar wird, ist das große Verdienst von Hans Jürgen Balmes, dem es in seiner Übersetzung gelungen ist, Merwins Verse auch im Deutschen schweben zu lassen.

Die Auswahl, die Balmes in "Nach den Libellen" vorlegt, ist beeindruckend und vielfältig. Bewusst wohl hat er die unmittelbar tagespolitischen Gedichte nicht aufgenommen, etwa das von dem Elefantenjungen, das an den Füßen gefesselt und mit Strom getötet wird. Im Nachwort schreibt Balmes, jeder Leser werde seinen Weg durch die Gedichte finden, und vergleicht Merwins Verse zu Recht mit denen Tomas Tranströmers. Vielleicht liegt diese Ähnlichkeit auch an der Unmittelbarkeit, in der Merwin zu uns spricht, an der Zartheit seiner Sprache, vor der auch der Leser seine Rüstungen des Alltags für den Moment abstreifen kann. Die Endlichkeit und der Tod ("The Hydra") schwingen immer hinein. "Könnte ich nur das Wort für Ja erlernen würde es mich Fragen lehren", lautet ein Vers. Mitunter denkt man beim Lesen an Haikus, nicht der Form wegen, das nicht. Eher wohl wegen dessen "Wesensnatur" (Roland Barthes), die Metasprache zum Schweigen zu bringen. Wo der Verführung zur Universalisierung nicht nachgegeben wird, bleibt jede Situation bei sich. Unvergleichlich: "Ich ist immer ein Rest", sagte einst Barthes, denn schließlich leben, spüren, tun und sinnen wir nicht nach Gesetzmäßigkeiten.

W.S. Merwin, der in den 1960ern für seine Opposition gegen den Vietnam-Krieg bekannt wurde und sein Pulitzer-Preisgeld Anfang der 70er-Jahre der Anti-Rekrutierungs-Kampagne stiftete, hat sich später dem Buddhismus zugewandt. Seit Ende der 1970er Jahren lebt er auf Hawai und hat dort eine Ananasplantage in einen Palmenwald rückverwandelt, um dort einen Ort der Biodiversität zu schaffen. Pflanzen und Tiere begeistern seine Verse, als gälte es, in diesen Zeiten der bedrohten Arten, allem eine stärkere Präsenz zu geben.

Gemeinsam reisen

Werden wir getrennt, versuch ich
Auf deiner Seite der Dinge
auf dich zu warten

auf deiner Seite von Wand und Wasser
und vom Licht, das mit eigener Geschwindigkeit reist
sogar auf dem Laub, das wir zusammen gesehen
werde ich auf einer Seite warten

solange eine Seite nur da

***

Zum Weiterlesen:
- W. S. Merwin, Nach den Libellen. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes, Edition Lyrik Kabinett bei Hanser. München 2018, 144 Seiten, 19,90 Euro. 
- W. S. Merwin, Der Schatten des Sirius. Übersetzt von Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann. Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2018, 242 Seiten, 19,95 Euro
- Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980, aus dem Französischen von Horst Brühmann, herausgegeben von Éric Marty. Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Nathalie Léger, Frankfurt / Main, 2008, 550 Seiten, 18 Euro.