9punkt - Die Debattenrundschau

Die Autokratie gewann, die Demokratie verlor

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2023. Wer hat gewonnen in der Türkei? Die Hizbullah, die Mafia, die Paschas und die Autokratie, notiert Bülent Mumay in der FAZ. Die Welt fordert, jede Zusammenarbeit mit der Ditib aufzugeben und die doppelte Staatsbürgerschaft zu überdenken. Viele Türken sehnen sich nach einem Übervater, erklärt sich in der NZZ der Schriftsteller Nedim Gürsel den Wahlerfolg Erdogans. In der SZ fordert Gesine Schwan eine neue Flüchtlingspolitik: mit Registrierzentren und Kommunen Matching-Systemen. Im Interview mit dem Tagesspiegel rät der Hongkong-Aktivist Nathan Law der EU, aus dem Ukrainedebakel zu lernen und ihre Abhängigkeit von China zu verringern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2023 finden Sie hier

Europa

Es war ein extrem unfairer Wahlkampf in der Türkei, schreibt Bülent Mumay in der FAZ. Und was jetzt kommt, wird noch schlimmer: In seiner "vor Drohungen strotzenden" Siegerrede sagte Erdoğan: "'Gewonnen hat die ganze Türkei.' Danach sieht es allerdings kein bisschen aus. Gewonnen hat die Hizbullah, deren in blutige Taten verwickelte Terroristen er vor den Wahlen freigelassen hatte, verloren dagegen haben die politischen Gefangenen wie Osman Kavala. Gewonnen haben die Mafiabosse, die er in Sonderamnestien auf die Straße schickte, verloren haben die inhaftierten Journalisten. Gewonnen hat die Polarisierung, die Chance auf eine pluralistische Gesellschaft hingegen verlor. Nicht die Hoffnung gewann, sondern die Politik der Angst. Nicht Prosperität gewann, sondern Kontinuität. Es gewann eine Türkei, die noch türkischer und islamistischer sein wird, eine säkulare, freiheitliche Türkei hingegen verlor. Gewonnen haben jene, die aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt austraten, die Frauen verloren. Die Autokratie gewann, die Demokratie verlor." Die Hoffnung aufgeben will Mumay dennoch nicht.

Im Interview mit der taz warnt der Soziologe Özgür Özvatan, die Erdogan feiernden Deutschtürken zu ernst zu nehmen: "Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns von lauten Minderheiten beeindrucken zu lassen und Problemlagen größer zu machen, als sie sind. Die Autokorsos intendieren mediale Aufmerksamkeit. Aber ich plädiere dafür, jene Mechanismen zu vermeiden, die laute Minderheiten nutzen, um größer zu erscheinen, als sie sind. Sie profitieren davon, als Giganten wahrgenommen zu werden, die sie nicht sind. Wir sollten lieber mehr über die demokratische Opposition in der Türkei und in Deutschland reden." Schwierig, wenn 67 Prozent der wählenden Deutschtürken Erdogan wählen.

Die Türken konnten wählen zwischen der Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - oder dem "endgültigen Abdriften in eine nationalislamistisch gefärbte, kleptokratische Diktatur", schreibt Deniz Yücel, der in der Welt fünf Vorschläge macht, wie zumindest in Deutschland Erdogans "extremistischer Einfluss" zurückgedrängt werden könnte: "Erstens muss jede Zusammenarbeit mit der Ditib aufgegeben, der Verband unter Beobachtung gestellt und die Imame, die als Beamte des türkischen Staates in Deutschland tätig sind, ausgewiesen werden. (…) Zweitens muss die Bundesregierung die alte rot-grüne Idee von einer doppelten Staatsbürgerschaft im Regelfall aufgeben. Und zwar aus einem Grund, der in dieser Debatte bislang keine Rolle gespielt hat: Aus Solidarität mit jener knappen Hälfte der türkischen Bevölkerung, die sich immer noch dem Autokraten widersetzt. Zum Dritten kann und sollte man die Wahlen in Konsulaten untersagen, am besten EU-weit." Außerdem müsse sich die Sicht auf die "unbeirrbaren Erdogan-Anhänger" ändern und  die "Dauerberieselung durch türkische Propagandasender" begrenzt werden, fordert er.

Der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel kann sich in der NZZ die Wahl seiner Landsleute nur psychoanalytisch - durch die Sehnsucht nach der Figur eines Übervaters erklären: "Die Republik Türkei wurde vor genau hundert Jahren von Mustafa Kemal Atatürk, dem Vater der Nation, auf den Trümmern des multinationalen und multiethnischen Osmanischen Reiches gegründet. Mir scheint, dass sie noch heute eines Stammvaters bedarf, der die Vorsehung inkarniert. In der osmanischen Zeit lebten die anatolischen Völker sechs Jahrhunderte lang unter einer absoluten Monarchie. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Vaterfigur im kollektiven Unterbewusstsein der türkischen Nation. (…) Damit will ich sagen, dass Vatermord in diesem Land ein Sakrileg darstellt. Die charismatische Figur eines Vaters, der sowohl schützend wie auch strafend wirkt, entspricht perfekt dem Verlangen und der Sehnsucht des türkischen Volkes (oder jedenfalls einer Mehrheit der Abstimmenden)."

Die NZZ übernimmt einen in The Atlantic erschienenen Text von Eliot A. Cohen, in dem der amerikanische Politologe fordert, der Westen müsse Russland unverständlich klarmachen, dass es besiegt sei. "Die Ukraine muss bei ihren bevorstehenden Gegenoffensiven nicht nur Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen, sie muss auch weit mehr als einen geordneten Rückzug der Russen nach Waffenstillstandsverhandlungen zustande bringen. Brutal ausgedrückt: Sie muss es schaffen, dass russische Soldaten massenhaft fliehen, desertieren, Offiziere erschießen, gefangen genommen werden oder umkommen. Die russische Niederlage muss in ein unmissverständlich großes, blutiges Durcheinander münden. (…) Russlands Armee mit nur einem Bruchteil des US-Verteidigungsbudgets und ohne das Blut eines einzigen amerikanischen Soldaten zu besiegen, wäre ein erstaunliches strategisches Schnäppchen."

"Wie gedankenlos muss man sein, eine solche Flüchtlingspolitik anzustreben und gleichzeitig durch den globalen Süden zu touren und um Unterstützung für die Menschenrechte  in Sachen Ukraine zu werben, die man sehenden Auges selbst missachtet?", fragt in der SZ heute Gesine Schwan, auf Josef Kelnberger reagierend, der ebenda den "Zynismus" europäischer Flüchtlingspolitik verteidigte (unser Resümee). Sie plädiert für das "niederländische Modell, das der frühere Bürgermeister von Amsterdam ausgearbeitet hat. Es gewährt allen Schutzsuchenden sofort unabhängigen Rechtsbeistand in europäischer Verantwortung und lässt von vornherein die Mitarbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu, die den Prozess begleiten und die Schutzsuchenden auch aufklären können. (…) Nur wenn es … für die Schutzsuchenden sinnvoll ist,  freiwillig in diesen Registrierzentren zu bleiben, werden uns die menschlich abscheulichen und zugleich medienwirksamen Bilder von Stacheldraht- und Wachtürmen um sie herum erspart bleiben. Der Sinn für die Schutzsuchenden könnte darin liegen, dass sie sich dort zu ihrem eigenen Vorteil auch über zukünftige Aufenthaltsorte kundig machen können. Dafür werden zurzeit zusammen mit Kommunen Matching-Systeme  erprobt. Dabei legen Geflüchtete (wieder am besten mit Hilfe von NGOs) dar, wo ihre Präferenzen sind, was sie anbieten können (Ausbildung, Arbeitskräfte) und was sie spezifisch brauchen. Das wird mit Angeboten und Bedarfen der Kommunen gematcht, die bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen." Das würde allerdings voraussetzen, dass in deutschen Rathäusern ein paar Computer angeschlossen werden.
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Geschichte

Der Osteuropahistoriker Robert Kindler erinnert in der FAZ an den "Ascharschylyq", die von Stalin ausgelöste Hungerkatastrophe in Kasachstan, der noch vor dem Holodomor in der Ukraine anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen. In Kasachstan wird der Katastrophe am 31. Mai gedacht. Allerdings gibt es nach wie vor Streitfragen. Unstrittig sei Stalins Verantwortung, schreibt Kindler. Aber das offizielle Kasachstan meide den Begriff "Genozid": "Eine solche Sichtweise ist .. höchst umstritten; einerseits lehnen namhafte kasachische Historiker sie ab, und andererseits zeichnet sich keine ernsthafte politische Initiative ab, den Hunger als Völkermord zu benennen. Für diese Zurückhaltung gibt es aus Sicht der kasachischen Führung gute Gründe: Es ist keineswegs ausgemacht, ob und wie weit sich das zentralasiatische Land aus dem russischen Einflussbereich lösen wird."

Wir befinden uns in einer neuen Phase des Ost-West-Konflikts, aber von einem "Kalten Krieg 2.0" kann nicht die Rede sein, schreibt der Historiker Bernd Stöver in der Welt: "Der 'alte' Kalte Krieg begann nach einer durch Strategiedebatten gekennzeichneten Formierungsphase mit quasi-offiziellen Kriegserklärungen. Sie sind im jetzigen Konflikt zwischen Russland und Ukraine bzw. 'dem Westen' nicht nur nicht vorhanden, sondern werden geradezu peinlichst vermieden. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist aus Putins Sicht nur eine 'militärische Spezialoperation', auch wenn seit Februar 2022 zunehmend 'die Nato' rhetorisch als Gegner in den Mittelpunkt rückt. Im vergangenen Kalten Krieg war konstituierend, dass sich an seinem Beginn und im folgenden grundsätzlichen Konflikt zunächst zwei nuklear hochgerüstete 'Supermächte' gegenüberstanden, die sich durch unvereinbare, absolut gesetzte Ideologien mit globalem Anspruch und ihre unbestreitbare Hegemonie in den jeweiligen Bündnisblöcken auszeichneten. Alle drei Bedingungen sind im aktuellen Konflikt nicht gegeben, auch wenn Russland versucht, diesen Anschein zu erwecken. Von einem Atomkriegsszenario, das den Vergleich mit dem Kalten Krieg standhält, ist die Welt bisher weit entfernt."
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Politik

"Der Freiheitskampf der Hongkonger darf international nicht in Vergessenheit geraten", sagt der Hongkong-Aktivist Nathan Law im Tagesspiegel-Gespräch mit Christiane Peitz, in dem er der EU auch rät ihre Abhängigkeit von China zu verringern: "Wir wissen jetzt ja, was es heißt, sich von einer Diktatur abhängig zu machen, die jederzeit einen Krieg anzetteln kann. Europa konzentriert sich derzeit auf Putins Ukraine-Krieg. Sich dabei weniger mit dem China-Problem zu befassen, bedeutet aber noch lange nicht, dass es verschwindet. Der softere Umgang mit China basiert auf der Idee, dass das Land ein zuverlässiger Player auf der internationalen Bühne ist. Das ist eine falsche Prämisse. China hält seine Zusagen nur so lange, wie sie den eigenen Zwecken dienen. Deutschland, Frankreich und die EU brauchen eine kohärentere Strategie. Sie müssen auf ihren Werten beharren, die Abhängigkeit von China verringern, den Schutz der eigenen Demokratien verstärken und die zunehmende chinesische Einflussnahme unterbinden."
Archiv: Politik
Stichwörter: China, Hongkong, Ukraine-Krieg