Efeu - Die Kulturrundschau

Ich komme mir nur selbst entgegen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2023. Die FAZ bewundert in Tübingen, wie sich Daniel Richter aus dem Gefängnis der Abstraktion befreite. Die SZ erklärt, wer sich hinter dem niederländischen Kollektiv Kirac verbirgt, das Michel Houellebecq vorführte. Die Welt rät, Ludwig Tieck zu lesen. Der Filmdienst feiert die Wiederentdeckung von Djibril Diop Mambétys senegalesischem Klassiker "Touki Bouki". Große Trauer herrscht über den Tod des großen Schauspielers Peter Simonischek, der Grandiosität mit Grazie verband und nur als Toni Erdmann zum Virtuosen der Peinlichkeit wurde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2023 finden Sie hier

Bühne

Peter Simonischek in seiner berühmtesten Rolle. Mit Sandra Hülle in Maren Ades Film "Toni Erdmann".

Der große Peter Simonischek ist in Wien im Alter von 76 Jahren gestorben. International berühmt wurde er durch seine Rolle in Maren Ades "Toni Erdmann", doch war er vor allem Theaterschauspieler, wie die Kritiker in ihren Nachrufen betonen: "Ein Bild von einem Mann und ein Schwergewicht von einem Schauspieler, im Theater einer der großen, vielseitigen Charakterdarsteller", seufzt Christine Dössel in der SZ: "So bärenstark er wirkte mit seinen Einsneunzig und der vollen Silbermähne, ein Kraftlackl, Macho und Hoppla-hier-komm-ich-Spieler war Simonischek nicht. Er hatte immer etwas Weiches, Sensibles, Gefühlsdurchlässiges." Ähnlich sieht das Peter von Becker im Tagesspiegel: "Da war immer seine Mischung aus Grandiosität und Grazie, aus Pathos und subtiler Ironie." Simon Strauss preist ihn in der FAZ als "wunderbaren Wandelschauspieler". Er war ein durch und durch ein Burgschauspieler, wie Margarete Affenzeller im Standard beteuert: "Simonischek gehörte zu jenen eher raren Schauspielern, die sich auch selber gern ins Parkett begeben, um denen auf der Bühne zuzusehen und damit den Kolleginnen und Kollegen Respekt zu zollen. Ein schöner Zug." Aber natürlich war er in "Toni Erdmann" einfach umwerfend, schwärmt Paul Jandl in der NZZ: "In seiner berühmtesten Rolle mutiert er vom einsam alternden Musiklehrer zum Virtuosen der Peinlichkeit. Falschgebiss, Perücke, Zottelfell und dumme Sprüche. Da macht sich ein deutscher Altachtundsechziger ausgerechnet zum Affen, weil er die ins internationale Karrieremilieu der Consultingfirmen abgerutschte Tochter für sich zurückgewinnen möchte." In der FR schreibt Harry Nutt.

Weiteres: In der taz resümiert Katrin Bettina Müller das Berliner Theatertreffen eigentlich ganz positiv: Sie hat erzählstarkes Theater und großartige Ensemble-Leistungen erlebt, und besonders imponiert hat ihr Lucia Bihlers Wiener Inszenierung "Die Eingeborenen von Maria Blut". Auf der Abschlussdiskussion musste sich die Jury viel Kritik von AktivistInnen anhören, denen die Auswahl zu unpolitisch oder zu undivers war und den Klimawandel nicht genug in Rechnung stellte. In der Welt winkt Jakob Hayner müde ab: "Dass das Politische in der Kunst als ästhetische Frage erscheint, ist dem Aktivismus fremd. Der Einwand der Jury, dass Statements weder Kunstfertigkeit ersetzen noch eine Einladung rechtfertigen, scheint nicht anzukommen.

Besprochen werden Cecilia Bartolis Auftritte in den Rollen von Orpheus und Eurydike bei den Salzburger Pfingstfestspielen (NZZ) und ein Duo von Marco Goecke am Hessischen Staatsballett in Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

Mauerfall oder Kreuzabnahme? Daniel Richters "Phienox". Bild: Kunsthalle Tübingen

Die Kunsthalle Tübingen widmet dem Maler Daniel Richter eine große Retrospektive, und in der FAZ verfolgt Stefan Trinks jubilierend, wie sich bei Richter die Kunst mit Hilfe des Punks aus der "abstrakten Unmündigkeit" befreit: "Bis Ende der Neunzigerjahre malte er ausschließlich abstrakt, Großformate mit Pop-Art-nahen Rauschenberg-Verschlingungen oder graffitiartigen Tags in grellen Farben. Welch großartig komplexe Punk-Historienbilder er seit dieser abstrakten ersten Lebenshälfte schuf, wird erst in der umfassenden Retrospektive mit fast siebzig Werken deutlich, wie sie nun die Kunsthalle Tübingen dem einundsechzigjährigen Professor für 'Erweiterten malerischen Raum' der Akademie der bildenden Künste in Wien ausrichtet. Figürlich aber malt Richter erst seit dem Jahr 1999 und in Konfrontation mit der viel länger schon figurativen Ostkunst, weil er als abstrakter Westmaler in der epochalen Wolfsburger Ausstellung 'German Open' Neo Rauch mit dessen Traumfigurenpanoptikum im selben Saal gegenübergestellt werden sollte - was er ablehnte, dabei realisierend, wie abgehalftert und leer die Gesten des abstrakten Expressionismus mittlerweile geworden waren."

In der SZ versucht Thomas Kirchner, sich einen Reim auf die Aktionen des niederländischen Kollektiv Kirac zu machen, das Michel Houellebecq mit dem berüchtigten Pornofilm vorführte. Unter dem Label Keeping it Real Art Critics stellen die beiden Kunst-Aktivisten Stefan Ruitenbeek und Kate Sinha immer wieder den Betrieb bloß, Galeristen, Kuratoren oder ihrer Meinung nach zu hoch gehandelte Künstler. Sympathisch ist ihm das nicht: "Was Kirac machen, ist beides, Kunstkritik und kritische Kunst. Die Methode ist dem Reality-TV entlehnt. Die Objekte der Kritik werden genötigt, bedrängt, Kamera und Mikrofon bleiben an, auch wenn die Betroffenen längst um Schonung gebeten haben. Es geht darum, Emotionen zu wecken; das unterhält die Zuschauer, die zudem wissen wollen, wer das nächste Mal dran ist. Man schaut und schaut, abgestoßen und angezogen. Immer bleibt ein Misstrauen: Meinen sie das ernst? Was meinen sie überhaupt?"

Im FAZ-Interview mit Marlene Grunert beschreibt Steven Lavine, der langjährige Leiter des California Institute of the Arts, wie die künstlerische Freiheit in den USA immer weiter eingeengt wird: Dem Aktivismus der einen Seite stehen von der anderen Gesetze gegen Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration gegenüber: "Substanzielle Eingriffe kommen überwiegend von der republikanischen Rechten. Es gab aber auch schon Fälle, in denen Künstler von links angegriffen wurden. Ihnen wurde etwa vorgeworfen, die eine oder andere Minderheit nicht ausreichend zu würdigen. Es gibt einen Druck, explizit politische Kunst zu machen, der schon für sich genommen repressiv ist. Er schrumpft den unabhängigen Raum, in dem ein Künstler grundsätzlich agiert."

Besprochen wird die Ausstellung zu Tilla Durieux im Georg-Kolbe-Museum Berlin (SZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Tilman Krause rät in der Welt zur Wiederbeschäftigung mit Ludwig Tieck, der heute vor 250 Jahren geboren wurde: "Unterhalten konnte Tieck. Aber vor allem konnte er verstören. Niemand hat wie er den Einbruch des Unheimlichen in die Alltagesexistenz gestaltet wie diese gefährdete Natur. Bei Tieck ging es oft aus der Waldeinsamkeit direkt in den Wahnsinn. ... Tiecks William Lovell dichtet verzweifelt: 'Ich komme mir nur selbst entgegen / in einer leeeren Wüstenei.' Diese Entfremdnungsgefühle weisen voraus in die Moderne. Tieck ist unser Zeitgenosse - weit mehr als Novalis, Brentano, Uhland, Eichendorff und all die anderen." Dazu passend bespricht Tilman Spreckelsen in der FAZ den Band "Wilde Geschichten" mit Texten des jungen Tieck.

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Ottessa Moshfeghs "Lapvona" (BLZ), Felwine Sarrs "Die Orte, an denen meine Träume wohnen" (Standard), Charles Ferdinand Ramuz' "Sturz in die Sonne" (TA) und Marc Sinans "Gleißendes Licht" (taz).
Archiv: Literatur

Film

Ungehobelte Kraft: "Touki Bouki"

Djibril Diop-Mambétys senegalesischer Film "Touki Bouki" aus dem Jahr 1973 kommt wieder in die deutschen Kinos. Der Film handelt von einem jungen Paar, das in Dakar von einem Leben in Paris träumt, bei der Realisierung dieser Träume allerdings auf Hindernisse stößt. "In langen, stummfilmartigen Passagen entwickelt der Film eine originäre, brachiale Bildsprache", schreibt Stefan Volk im Filmdienst. "Das expressionistische, pantomimisch-komödiantische Spiel der Protagonisten irritiert nur solange, bis man sich in die eigenwillige, oft groteske Erzählwelt Mambétys eingefunden hat. ... Bilder der Wirklichkeit und Traumvorstellungen verbinden sich zu einer lyrisch oszillierenden Tragikomödie. Die gedehnten, träumerischen Wahn- und Wunschepisoden, in welche die Realität unversehens hineingleitet, erinnern an das poetisch schwebende Kino Andrej Tarkowskys. Das rauschende Meer durchdringt ähnlich wie bei 'Solaris' den Film als zentrales Leitmotiv. Lange, weite Einstellungen, extreme Auf- und Untersichten fordern eingespielte Sehgewohnheiten heraus und verleihen 'Touki Bouki' einen spröden Zauber, eine ursprüngliche, ungehobelte Kraft."

Außerdem: Joachim Huber bedankt sich im Tagesspiegel bei Amazon für fünf Staffeln "Wonderful Mrs. Maisel". Standard-Kritiker Bert Rebhandl empfiehlt dem Wiener Publikum das Festival "Screenwise", das sich mit Fragen des Queerfeminismus in Film und Medienwissenschaften befasst. Stephan Ahrens schreibt im Filmdienst zum Tod von Kenneth Anger (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden Axel Ranischs Oper-Kino-Mix "Orphea in Love" ("Der um sich greifenden Beliebigkeit ist irgendwann nicht einmal mehr die phänomenale Hauptdarstellerin gewachsen", seufzt Lukas Foerster im Filmdienst, taz), Laura Citarellas "Trenque Lauquen" (Filmdienst), David Wagners "Eismayer" (Filmdienst) und Rob Marshalls Realverfilmung des Disneyklassikers "Arielle" (NZZ, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Musik

Helmut Mauró ärgert sich in der SZ über die anhaltende Infragestellung des Musikunterrichts an deutschen Schulen: In Bremen etwa können die Schüler künftig wählen, ob sie statt Musik lieber Sport machen wollen. Schon die Frage nach dem Nutzen von Musikunterricht ist für Mauró ein Skandal, liege dieser doch auf der Hand: "Wie der Mathe-Unterricht mit Kurvendiskussion nicht dazu dienen muss, Fahrpläne zu entziffern und Einkäufe zusammenzurechnen, sondern komplexere Denkmuster einzuüben, so ermöglicht das Erlernen musikalischer Muster ein erweitertes Erleben, ein intensiveres Hören, ein intuitives Verstehen größerer Zusammenhänge. Ohne diese Hörerfahrung muss man sich mit den unmittelbaren akustischen Reizen zufrieden geben, mit ein paar Laut-Leise-Effekten, ein paar überraschenden Klangfarben. ... Und wie in jedem Fach, in das man Zeit und Nerven investiert, kommt irgendwann Erkenntnisfreude auf und das Glück der Selbstbefähigung. Das ist ein menschliches Frühlingserwachen, das ist der Beginn einer funktionierenden Gemeinschaft."

Außerdem: Aida Baghernejad erzählt im Tagesspiegel von ihrer Begegnung mit dem Dancefloor-Trio Brandt Brauer Frick, das gerade sein sechstes Album veröffentlicht hat. Besprochen werden die Aufführung von Bibers Rosenkranzsonaten bei den Regensburger Tagen Alter Musik (NMZ), Fatonis Rapalbum "Wunderbare Welt" (Freitag), Konzerte von Helene Fischer (Tsp) und Roger Waters (SZ) sowie das Debütalbum "Ein fragiles System" der Wiener Band Bipolar Feminin (Tsp).

Archiv: Musik