9punkt - Die Debattenrundschau

Mitten in der Wüste, ohne alles

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2023. Im Tagesspiegel hält der algerische Schriftsteller Kamel Daoud die liberale europäische Demokratie hoch - als einzigen Ort, zu dem Menschen aus Diktaturen schwimmen können. Vorausgesetzt, man lässt sie nicht tatenlos ertrinken, erinnert die SZ, die Strafverfahren nicht nur gegen die Schlepper des gesunkenen Flüchtlingsschiffs vor Pylos fordert, sondern auch gegen die griechischen Behörden. In der Welt fordert Slavoj Zizek Atombomben für die Ukraine. Die taz kritisiert den Ausstieg aus der Kernkraft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.06.2023 finden Sie hier

Europa

"Europa lässt sich am besten definieren, wenn man in einer Diktatur lebt", meint in der Tagesspiegel-Serie "Letters on Democracy" heute der algerische Schriftsteller Kamel Daoud, der, wie er schreibt, die Demokratie aus der arabischen Welt heraus als "Voyeur" betrachtet: "Wichtig ist sie aufgrund des Gesetzes der Konsequenzen: Wenn die Demokratie in Europa schwächer wird, durch Exzesse infrage gestellt wird, aufgrund der internen barbarischen Invasionen der Populisten nachlässt, dann stärkt das für mich die Diktatur, den Autoritarismus und entwertet das Ideal der Demokratie. Unsere Diktatoren haben diese Abkürzung zum Spektakel Europas gut genährt: 'Demokratie? Das ist Chaos, seid vorsichtig mit euren unvorsichtigen Wünschen', wiederholen sie ständig. (…) Deshalb sollten wir für die liberale europäische Demokratie plädieren. Für uns Menschen aus dem 'Süden', aus den Diktaturen, ist sie der einzige Ort, zu dem wir schwimmen können, wenn unsere Länder zusammenbrechen. Und es ist der einzige Ort, an dem wir lautstark verkünden können, dass es keine Demokratie gibt, ohne von der Diktatur verhaftet zu werden, die sich selbst gerne als Demokratie ausgibt."

In Russland dient die Geschichtsschreibung in erster Linie dazu, eine patriotisch-glorreiche Vergangenheit herbeizuzaubern, schreibt der russische Autor Michail Schischkin (gestern schon) in der NZZ. Das hat Tradition seit dem 18. Jahrhundert und sieht heute so aus: "Im September 2020 richtete der Untersuchungsausschuss der Russischen Föderation (um es krass zu sagen, Putins 'Gestapo') eine Abteilung zur Bekämpfung der Geschichtsfälschung ein. Memorial, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete russische Organisation für historische Aufklärung und Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, wurde zerschlagen, ihre Mitglieder wurden verhaftet oder sind seither auf der Flucht. Darüber hinaus wurde der russische Geschichtswettbewerb für Jugendliche eingestellt. In Moskau begannen die 'Letzte Adresse'-Tafeln zum Gedenken an die Opfer politischer Repression unter der Sowjetherrschaft von den Fassaden der Gebäude zu verschwinden", schreibt Schischkin, der auch darauf hinweist, dass letzten Samstag "als Zeichen der Solidarität der Verein Memorial Schweiz gegründet" wurde.

Bernard-Henri Lévy greift in seinem Blog nochmal die erstaunlich maue internationale Reaktion auf die Sprengung des Krachowka-Staudamms auf, die er schlicht "widerlich" nennt. Widerlich seien die Äußerungen sogenannter Experten und kluger Menschen, die mal eben zu bedenken gaben, "die Ukrainer hätten diese Explosion, die den südlichen Teil ihres Landes verwüstete, durchaus selbst verursachen können... Die gleiche Masche wurde bereits in Sarajevo angewandt, als einige 'nachwiesen', dass die beiden serbischen Mörsergranaten, die 1994 und 1995 auf dem Markt von Markalé 105 Bosnier töteten, von den Bosniern selbst abgefeuert worden waren. Der gleiche wurde uns auch beim Völkermord in Ruanda aufgetischt, eine Realtime-Leugnung des Völkermords, betrieben von Leuten, die meinten, die hinterhältigen Tutsi hätten die Hutu zu sehr provoziert, um nicht teilweise für ihr eigene Massakrierung verantwortlich zu sein."

In einem Welt-Artikel, der selbst für seine Verhältnisse ein beachtliches Ausmaß des Mäanderns erreicht, denkt Slavoj Zizek nach Lukaschenkos Behauptung, dass "Nationen, die bereit sind, 'dem Unionsstaat Russland und Weißrussland beizutreten', Atomwaffen erhalten werden" über Atomwaffen für die Ukraine nach: "Also hat die russisch-belarussische Allianz wieder einmal das Recht, jedem auf ihrer Seite Atomwaffen zu geben, während der bloße Verdacht, dass die Ukraine durch westliche Atomwaffen geschützt sein könnte, als Schritt in Richtung eines neuen globalen Atomkonflikts angeprangert wird! Man sollte nicht vergessen, dass die Ukraine beim Zerfall der Sowjetunion alle Atomwaffen an Russland abgegeben hat, mit dem Versprechen, dass ihre Grenzen von Russland anerkannt werden - hätte sie jetzt nicht das Recht, (wieder) Atomwaffen zu bekommen? Warum wird diese offensichtliche Lösung selbst von denen, die Lippenbekenntnisse zur Verteidigung der Ukraine abgeben, mit Entsetzen abgetan?"

Der Wiederaufbau der Ukraine dürfte mehr als 411 Milliarden Dollar kosten, entnimmt der Wirtschaftswissenschaftler Anders Aslund (NZZ) einem Bericht der Weltbank, der Kyiv School of Economics und dem ukrainischen Regional- und Infrastrukturministerium. "Angesichts der Tatsache, dass Russland diesen Krieg angefangen hat, muss es Reparationen zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine zahlen. Das steht im Einklang mit früheren Angriffskriegen wie der irakischen Invasion Kuwaits im Jahr 1990, die dazu führte, dass der Irak 52 Milliarden Dollar an Reparationen zahlte. Angesichts des gewaltigen Ausmaßes der durch Russlands wahllose Gewalt angerichteten Verheerungen wären die Reparationen, die es schuldet, deutlich höher. Die Uno-Generalversammlung hat zu diesem Zweck im November eine Resolution verabschiedet, die Russland für die Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine haftbar macht."

Nach dem Schiffsunglück vor Pylos an der griechischen Küste fordert Ronen Steinke im Feuilleton der SZ unabhängige Ermittlungen, und zwar nicht nur gegen die Fluchthelfer, sondern auch gegen die griechische Küstenwache, die das offenbar manövrierunfähige Boot beobachtet hat, bevor es sank: "Ein Sprecher der griechischen Regierung wiegelt jetzt zwar ab und sagt: Die Migranten wollten gar keine Hilfe; sie wollten lieber weiter, nach Italien! - Aber selbst, wenn das stimmen sollte, würde es rechtlich nichts entschuldigen. Wer Menschen, die sich in Seenot befinden, ihrem Schicksal überlässt, der begeht nicht nur nach deutschem Recht eine unterlassene Hilfeleistung, strafbar nach Paragraf 323c des Strafgesetzbuchs mit bis zu einem Jahr Gefängnis. So steht es auch im griechischen Strafrecht, in Artikel 288, Absatz 2."

Außerdem: Die FAZ druckt die Predigt, die Robert Menasse im Auftrag der Europäischen Stiftung Aachener Dom ebendort hielt
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Politik

In der taz berichtet die Sudanesin Lujain Alsedeg über ihre Flucht aus dem kriegsversehrten Sudan nach Ägypten: "Als wir den Grenzübergang Argeen erreichten, war es nachts. Wir warteten. Währenddessen änderte Ägyptens Regierung die Einreisebedingungen. Per Verordnung wurde allen ohne Reisepass die Einreise aus Sudan untersagt. Bis dahin hatte ein Notdokument genügt, und Tausende Familien hatten dies genutzt, um ihre alten Angehörigen nach Ägypten zu bringen. Jetzt sollte das plötzlich nicht mehr möglich sein. ... Damit unser Bus weiterfahren und die Grenze überqueren konnte, mussten alle ohne Pässe aussteigen. Das betraf in unserem Bus drei Familien. Zwei davon mussten ihre Alten tragen, sie waren krank und hatten die gesamte Reise nur unternommen, um in Ägypten sichere medizinische Versorgung erhalten zu können. Nun saßen sie fest, mitten in der Wüste, ohne alles."
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Gesellschaft

Leon Holly, Politikwissenschaftler und taz-Volontär, traut sich was, wenn er in der taz den deutschen Ausstieg aus der Kernkraft kritisiert. Die Kosten werden am Ende vor allem die Armen tragen, ist er überzeugt: "Kritiker warnen zu Recht: Arme Menschen, die bereits nicht viel Energie nutzen, könnten ihren Basisverbrauch noch weiter einschränken, um am Ende des Monats etwas mehr Geld auf dem Konto zu haben. Die gesicherte Leistung aus AKWs könnte solche Angebots- und Preisschwankungen abschwächen. Der Kurs der Bundesregierung droht indes auch hierzulande, den Armen eine neue Art der Austeritätspolitik aufzuerlegen: Sobald die Gesellschaft zum Sparen aufgerufen wird, spüren es die Armen als Erste. Die Haupteinwände der Atomgegnerinnen bleiben die Sicherheitsrisiken sowie der Atommüll. Schaut man sich jedoch statistisch die Todesfälle pro erzeugter Terawattstunde an, so ist die Kernenergie ungefähr so sicher wie Solar- und Windkraft. Und dass die Atommüllfrage keineswegs unlösbar ist, zeigen die Finnen, die bereits ein Endlager gefunden haben."

"In vielen Ländern, in denen Krieg herrscht oder geherrscht hat, in Bosnien, Kosovo, Afghanistan, aber eben auch im ländlichen Südtirol, hängt die Ehre der Familie an der körperlichen Unversehrtheit der Frau. Kann sie nicht erhalten werden, hat der Mann versagt", sagt die Gynäkologin Monika Hauser, die seit dreißig Jahren gegen Vergewaltigung als Kriegswaffe im NZZ-Gespräch mit Nadine A. Brügger: "Grund dafür ist diese patriarchale Struktur, die den weiblichen Körper als Eigentum des Mannes betrachtet. Statt dass man ihr hilft, wird sie als 'beschädigtes' Teil, als Erinnerung an das Versagen, aussortiert. Es kann für eine Frau im gesellschaftlichen Kontext existenziell sein, einen Übergriff zu verschweigen. Obwohl es psychologisch existenziell wäre, darüber zu sprechen, um das Trauma aufzuarbeiten. (…) Die betroffenen Frauen werden oft auch von anderen Frauen ausgegrenzt. Das ist eine Art fataler Selbstschutz: Frauen versuchen zu rationalisieren, warum einer anderen ein großes Leid widerfahren ist, von dem man hofft, dass es einen selbst nie trifft. Nach dem Credo: 'Ich verhalte mich richtig, ich kleide mich korrekt, ich bin brav, ich habe einen guten Mann, darum bin ich sicher.'"
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Medien

Nach SZ-Informationen sollen rund 200 Stellen bei der Bild gestrichen werden, berichtet Anna Ernst, die einen Blick in die Mail an die Mitarbeiter werfen konnte. Nach knapp tausend Wörtern heißt es: "Wir trennen uns von Produkten, Projekten und Prozessen, die wirtschaftlich nie wieder erfolgreich werden können. Wir müssen uns damit leider auch von Kollegen trennen, die Aufgaben haben, die in der digitalen Welt durch KI und/oder Prozesse ersetzt werden oder sich in dieser neuen Aufstellung mit ihren derzeitigen Fähigkeiten nicht wiederfinden." (…) Redaktionell trifft die Axt offenbar vor allem die Regionalbüros der Bild: Die Regionalausgaben sollen von 18 auf zwölf reduziert werden, um ein Drittel."
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