9punkt - Die Debattenrundschau

Das perfekte Opfer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2023. In der FAZ erzählt Mirna Funk, wie die ehemalige Freundin von Fabian Wolff als antisemitisch abgestempelt wurde, als sie Zweifel an der jüdischen Identität Wolffs äußerte. Die SZ warnt vor einer Rückkehr des "deutschen Problems" angesichts der Forderung der AfD, die EU aufzulösen. In der NZZ beschreibt die Menschenrechtlerin und Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa, wie Russland in eine "faschistoide Diktatur" gerutscht ist. In Israel haben die Demonstranten Angst vor der Einführung einer "neuen Moral" durch die Regierung, erklärt der Historiker Tom Segev in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Der Fall Fabian Wolff wird immer abgründiger. In der FAZ erzählt jetzt Mirna Funk, wie 2021 Wolfs Ex-Freundin Helen R. Kontakt zu ihr aufnahm: "Sie schrieb, dass Wolff ihr den Kontakt zu ihrer Familie verbot, weil er, der Jude, eine solche Bindung als antisemitisch empfinde. Sie schrieb, dass sie Englisch mit ihm sprechen müsse, weil Deutsch die Judenmördersprache sei. Helen R. schrieb außerdem, dass sie große Zweifel an seiner Identität hege, denn nach Gesprächen mit seinen Verwandten, von denen niemand jemals von einer jüdischen Großmutter oder jüdischen Urgroßmutter gehört hatte, habe sie den Verdacht geschöpft, dass Fabian sich seine jüdische Biografie nur konstruiert habe." Dies belegte sie mit Dokumenten und Audiodateien. Auch der Zeit hatte sie diesen Verdacht mitgeteilt, war aber abgewimmelt worden, "ihre Bedenken wurden als antisemitisch abgetan. Überhaupt erklärten Fabian Wolff und seine Freunde und Gesinnungsgenossen ihr, dass sie als deutsche Kartoffel und Schickse besser die Klappe zu halten habe, still zu sein, wenn auf Twitter wieder irgendein 'wichtiger' Streit ausgefochten werden musste. Helen war womöglich für einen Mann wie Fabian Wolff das perfekte Opfer: empathisch, anerkennend, aufmerksam. Er laberte sie mit Jewish grief voll ... Und immer wieder erzählte er vom 'Jewfro' seines Vaters. Es gibt eine Audiodatei, in der Fabian behauptet, sein Vater sei Sepharde gewesen, seine Mutter Aschkenasi." Schließlich nahm sich Wolff einen Anwalt, Nicolas Becker, um Helen R. "mundtot" zu machen. "Nicolas Becker hat sich seinen Vater nicht ausgesucht, und seine Mandate darf man ihm nicht vorwerfen. Aber dass Fabian Wolff, der gerade noch zu sensibel war, die deutsche Sprache zu ertragen und die deutsche Familie seiner Freundin auch nur zur Kenntnis zu nehmen, sich den ehemaligen RAF-Verteidiger und Sohn eines NSDAP-Mitglieds zum Anwalt nimmt, ist ein interessanter plot twist." Heute ist Helen R. tot. Wie es dazu kam, erzählt Funk nicht.

Im Görlitzer Park ist es zu einer Massenvergewaltigung gekommen, rechte Parteien versuchen diese Thema für sich zu kapern, ohne dass es dagegen wirklichen Widerstand gibt, seufzt Julius Betschka im Tagesspiegel. "Besonders progressive Politiker bemühen sich zu betonen, dass doch alles gar nicht so schlimm sei. Is' eben Kreuzberg", dabei müsste der Staat jetzt Präsenz zeigen. "Das Beispiel Görlitzer Park kann als Blaupause für mögliche Lösungen dienen, weil es im Verhältnis zu anderen Themen - Klimawandel, Wohnungsbau, Staatsfinanzen - verhältnismäßig überschaubar ist und sich doch bundesweit relevante Themen auf kleinem Raum abspielen: Kurzfristig muss der Staat in solchen Fällen Handlungsfähigkeit beweisen. Die mutmaßlichen Täter müssen geschnappt und verurteilt werden. Lösungen wie nächtliche Sperrungen des Parks und mehr Polizei können das Sicherheitsgefühl der Anwohner rasch erhöhen und zeigen: Wir haben verstanden." So könnte man auch der AfD den Wind aus den Segeln nehmen, hofft Betschka.

Während Frauen im Iran unter Lebensgefahr gegen den Kopftuchzwang protestieren, läuft in der Kölner Innenstadt und auf sozialen Medien eine Kampagne der Bekleidungsmarke Abaya Sultan, deren Mitarbeiterinnen junge Frauen aufforderten, sich doch einmal probehalber zu verhüllen, berichtet der Erziehungswissenschaftler Moritz Fryczewski auf hpd. "Begleitet wird der Akt von sogenannten 'Nasheeds' - eine spirituelle Musikform islamischer Lobpreisungen und Hymnen. Mit begeisterten Ausdrücken wie 'gorgeous' wird der neue Look kommentiert." Aufgenommen werden die Videos auffällig häufig vor der Ditib-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld. Aber wenn hier ein "Try on" propagiert wird, ist das nur die halbe Wahrheit, meint Fryczewski: Diese Option stehe nämlich "innerhalb der traditionellen muslimischen Community überhaupt nicht zur Debatte. Einmal angelegte Kopftücher können nicht einfach wieder abgelegt werden."
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Europa

Die Grünen sind ja nun wirklich nicht schuld an der geplanten EU-Asylreform, meint Olaf Bernau vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact in der taz. Sie "dürften die EU-Asylreform nur um den Preis blockieren können, dass sie an den Urnen abgestraft würden, was aber mit Blick auf die Klimapolitik nicht wirklich zu hoffen ist. Zielführender scheint es, für echte Fluchtursachenbekämpfung sowie einen schrittweisen Rückbau des Grenzregimes zu werben, also die zirkuläre Migration zuzulassen, die ohnehin der historische Normalzustand ist. ... Nur wenn Menschen die Möglichkeit haben, geregelt zu wandern, werden sie auf gefährliche Wege verzichten. Denn dann können sie erfolgreich sein und mit vollen Händen zurückkehren. Konkreter: Migrationswillige müssen bereits zu Hause Zugang zu Sprachkursen und berufsvorbereitenden Maßnahmen erhalten. Rückkehrwillige sollten robuste finanzielle Unterstützung erfahren, vor allem dürfen sie nicht zur Rückkehr gedrängt werden."

Auf ihrem Parteitag in Magdeburg hat die AfD für ein Programm gestimmt, das die "geordnete" Auflösung der Europäischen Union vorsieht. "Das Ende der EU wäre eine Revolution im wüstesten, zerstörerischen Sinn", warnt in der SZ Gustav Seibt: "Anders als um 1800 oder 1990 würden nicht überlebte Verhältnisse liquidiert, Grenzen geschleift und Komplexität reduziert, sondern neue Zersplitterung würde geschaffen, mit unabsehbaren Folgen fürs Leben aller europäischen Bürger, beim Reisen und Studieren, vom Arbeitsmarkt bis zum Güterverkehr. Die Bürger würden auf einmal merken, dass die EU entgegen allen Falschbehauptungen ihr Leben nicht komplizierter, sondern viel einfacher gemacht hat. Damit ist aber noch nicht das für Deutschland fatalste Resultat benannt. Wenn es die EU nicht mehr gäbe, würde das zurückkehren, was man in variablen Formulierungen das 'deutsche Problem' in Europa genannt hat. Deutschland ist größer als alle seine Nachbarn, aber zu klein für eine Hegemonie. Damit ist es ein ewiger Faktor der Instabilität in einer beweglichen, sich zu immer neuen Allianzen und Gegenallianzen formierenden Gruppe von Mittelmächten."

"Wir sind aus dem missglückten Versuch, zur Demokratie zu werden, in eine faschistoide Diktatur gerutscht", sagt Irina Scherbakowa im Porträt, das Judith Leister heute in der NZZ von der russischen Menschenrechtlerin und Memorial-Mitbegründerin zeichnet. Die Vergangenheit sei kaum aufgearbeitet worden, Reformen von Justiz und Sicherheitsapparat habe es nicht gegeben: "Fassungslos hat Scherbakowa beobachtet, wie in den letzten Jahren wieder Stalin-Denkmäler und kleinere Stalin-Museen errichtet wurden. Stalin wurde zum 'effizienten Manager' umgedeutet, die Schwere seiner Verbrechen immer mehr relativiert und sein Sieg im Großen Vaterländischen Krieg immer mehr glorifiziert. Die Gesellschaft erlebt ein Rollback. 'Putins postmoderne Diktatur kappt Errungenschaften, mit denen der Staat sich bereits abgefunden zu haben schien oder die er früher sogar unterstützt hat', sagt Scherbakowa. Noch in den neunziger Jahren hatte der FSB mit Memorial zusammengearbeitet, um Massengräber zu lokalisieren."
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Politik

Die protestierenden Israelis haben Angst vor der Einführung einer "neuen Moral" durch die Regierung, sagt der israelische Historiker Tom Segev im FR-Gespräch mit Michael Hesse, in dem er sich große Sorgen um die Demokratie in Israel macht. Die Justizreform mache es noch leichter, die Palästinenser "viel schlimmer zu unterdrücken als ohnehin schon", meint er. Außerdem kommt er auf die Spaltung der israelischen Gesellschaft zu sprechen, die, so Segev, immer schon sehr tief gewesen sei: "Die zweite und dritte Generation, Kinder und Enkel von Einwanderern der 1950er Jahre, haben immer noch ein Gefühl der Diskriminierung und der Ungleichbehandlung. Sie haben es nicht so gut wie die Menschen in Tel Aviv. Man spricht ja von dem Staat Tel Aviv und dem Staat Israel, dem zweiten Israel, und das übrigens schon lange, seit den 1950er Jahren. Man meint damit: Das sind die anderen, die nicht zu uns gehören; deren Nachkommen sind heute nicht mehr so hilflos wie ihre Vorfahren. Dennoch konservieren sie das Gefühl der Diskriminierung, die Erinnerung, dass ihre Eltern und Großeltern schlechter behandelt wurden. Aus diesem Grund haben sie eine rechtsgerichtete Partei unter Netanjahu gewählt. Es bedeutet jedoch nicht, dass eine Mehrheit der Wähler in Israel rechtsradikal denken würde, auch Netanjahu selber tut das nicht."
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Kulturpolitik

Im SZ-Interview mit Lennart Laberenz blickt der scheidende Generaldirektor der Kunstsammlungen Chemnitz Frédéric Bußmann ziemlich ernüchtert zurück auf seine fünfjährige Amtszeit, in der es vor Ort immer wieder zu rechtsextremen Ausschreitungen kam. Ein Museum sollte eine "klare Haltung" zeigen, sagt er, aber es sei nie zum Dialog gekommen: "Manch einer meint, Politik sei nicht Aufgabe der Kultur. Da bin ich anderer Auffassung. Kunst ist immer auch politisch. Künstler müssen nicht politische Kunst machen, aber Haltung ist politisch." Aber: "Ich habe gemerkt, dass die Leute, die ich erreichen möchte, eher nicht ins Museum kommen. Wir wollten unsere Arbeit in die Stadt hineintragen. Eine Kollegin wusste von dem leeren Laden hinter dem Karl-Marx-Kopf. Das ist der Ort, über den man spricht, wenn man über Chemnitz spricht, da laufen montags 'besorgte Bürger' und Neonazis mit Russlandfahnen vorbei."
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