9punkt - Die Debattenrundschau

Eindeutige Warnzeichen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2023. Sollte man die AfD verbieten? in einigen Bundesländern erfüllt sie die Kriterien, meint die FAZ. Die SZ fürchtet: die AfD sucht kulturelle Hegemonie. Der Fall Fabian Wolff ist Wirklichkeit ein Fall Zeit, meint Cicero, und er ist abgründiger als die Relotius-Affäre. Anetta Kahane analysiert in der FR das DDR-Erbe in Wolffs Diskurs.  Die NZZ berichtet, wie sich Putin mit einer Ausstellung afrikanischer Kunst als Postkolonialist profilieren will. Die FAS spricht mit Ingke Brodersen, die ein Buch über "Judenhäuser" geschrieben hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.08.2023 finden Sie hier

Europa

Die AfD wird von Verfassungsschutzämtern immer eindeutiger als rechtsextrem eingestuft. Mit dieser Einstufung lebt auch die Diskussion auf, ob die Partei verboten werden sollte. Das in der AfD verfochtene völkische Menschenbild gehörte auch zum Hintergrund des einstigen NPD-Verbots. Marlene Grunert wägt im Leitartikel der FAZ ab und scheint ein Verbot denkbar zu finden. Allerdings plädiert sie für eine rein föderale Herangehensweise, "gleichlaufend zur Arbeit des Verfassungsschutzes. Es gibt inzwischen ernst zu nehmende Stimmen wie den Bonner Staatsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz, der sogar ein Verbot einzelner AfD-Landesverbände ins Spiel bringt. Ihm zufolge müsste nicht einmal das Grundgesetz geändert werden, eine Reform des Parteiengesetzes würde reichen."

Der AfD geht es um "Kultur", notiert Peter Laudenbach in der SZ, und das gilt ganz besonders für den neuen Star der Partei, Maximilian Krah, Spitzenkandidat für die Europawahl. Er ist ein enger Kumpel des rechtsextremen Vordenkers Götz Kubitschek und will dessen Kombination aus Carl Schmitts Freund-Feind-Schema mit Gramscis Begriff der "Kulturellen Hegemonie" in die Tat umsetzen, so Laudenbach - in einem Büchlein in Kubitscheks Verlag lege er das dar. Es gehe nicht mehr nur gegen das linkslberale kulturelle Establishment: "Krah geht weiter, die Einschüchterung und Beleidigung engagierter Künstlerinnen und Künstler genügt ihm nicht. Es geht ihm um direkten Einfluss. Man will sich nicht ausmalen, was seine Forderung, seine Partei müsse in der Kultur einen 'Fuß in die Tür' bekommen, für die Besetzung von Leitungspositionen, die Programmgestaltung und die Etats der Theater, Museen, Opernhäuser, Bibliotheken oder die Filmförderung bedeutet, sollte die AfD nach den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im kommenden Jahr direkt oder indirekt Einfluss auf Regierungshandeln erlangen."
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Geschichte

Die Autorin und ehemalige Rowohlt-Lektorin Ingke Brodersen, stellte irgendwann fest, dass sie in einem ehemaligen "Judenhaus" lebt. In solchen Häusern drängten die Nazis Juden zusammen, bevor sie sie deportierten. Für ihr Buch "Lebewohl Martha" hat Brodersen die Geschichten der Menschen recherchiert, die von ihrem Haus im Bayerischen Viertel in Berlin aus deportiert wurden. Die universale Dimension eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit lässt sich am besten am Einzelschicksal verbildlichen, zeigt sich hier wieder. Brodersen erzählt im Interview mit David Baldysiak von der FAS, warum einige so lange in Berlin blieben, und warum sie sich trennten: "Die Ehemänner haben sich lange gesträubt zu gehen, wohl auch, weil sie Angst vor dem Statusverlust hatten. Als Niemand irgendwo von vorn anfangen zu müssen, gedemütigt zu werden. Dass die Frauen den Männern den Vortritt bei der Flucht ließen, hat auch mit Rollenbildern zu tun. Wahrscheinlich hofften beide, sie könnte nachkommen, wenn er erst einmal Fuß gefasst hatte. Ein Trugschluss. Simon Siegmund Sternson flüchtete nach Schanghai und ließ seine Frau Bertha in Berlin zurück. Heymann Herzfeld floh nach Buenos Aires, seine Frau Else blieb zurück. Beide Frauen wurden in Auschwitz ermordet." Der Perlentaucher hatte Brodersens Buch in seinen Bücherbrief von Juni aufgenommen.

Moriamé Saie, Le racisme divise. Le racisme fait diversion. Le racisme tue, 1973, Musée national de l'histoire de l'immigration. © EPPPD-MNHI
Hubert Spiegel besucht für die FAZ das "Musée de l'histoire de l'immigration" in Paris, das nach dreijähriger Schließung die Geschichte der Einwanderung in Frankreich neu erzählt. Gegenüber Le Monde hat die neue Direktorin Constance Rivière "ausdrücklich auch Flüchtlinge und Asylsuchende als Adressaten der neuen Ausstellung genannt, sie wolle die schwierigen, die heftig umstrittenen und die 'schmerzhaften' Aspekte des Themas nicht aussparen. Angst vor Komplexität, so Rivière, dürfe nicht aufkommen. Den Publikumszuspruch, der zuletzt bei etwa 100.000 Besuchern im Jahr lag, möchte sie verdoppeln." Die neue Dauerausstellung "definiert Einwanderung als essenziellen Bestandteil der französischen Geschichte und legt den Schwerpunkt auf die Hervorhebung von Entwicklungslinien, fallweise illustriert von exemplarischen Einzelschicksalen. Man verstehe sich als 'Museum einer gemeinsamen Geschichte'."
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Medien

Der Fall Fabian Wolff ist in Wirklichkeit ein Fall Zeit, meint Jens Peter Paul bei Cicero. "Bei Wolff und der Zeit geht es nicht um fremdländische Folklore im weitesten Sinne wie bei Relotius, sondern um knallharte Politik, um Macht, letztlich um das Existenzrecht Israels und die Frage, wie erwünscht, wie sicher Juden in Deutschland heute noch sind. Es werden, sobald es ins eigene Weltbild passt, fragwürdige Autorinnen und Autoren gedruckt, gesendet und gefeiert, es werden selbst eindeutige Warnzeichen und begründete Zweifel an der Integrität und Glaubwürdigkeit von in den Verlagen und Funkhäusern liebgewonnenen Moderatoren, Text- und Meinungslieferanten fast schon systematisch so lange ignoriert, bis es auffliegt, etwa, weil irgendwer es nicht mehr aushält und auspackt, etwa, weil es Akteure mit ihrem verleumderischen Antijournalismus übertreiben."

Paul zitiert auch aus der berühmten Mail von Wolffs Freundin Helen R. von 2021, die ihre Zweifel über die Identität Wolffs äußerte, was jedoch kein Medium überprüfte oder zu einer Veröffentlichung veranlasste. Ein Absatz: "Ich fand es einfach einerseits so absurd, wie er, Fabian Wolff, der Berlin bis auf eine Sprachreise in der 10. Klasse und einen siebentägigen New-York-Urlaub im Jahr 2019 nie verlassen und nie weiter als fünf Kilometer von seiner Grundschule in Pankow entfernt gewohnt hat, meint, auf einer Diskriminierungs- und Entfremdungserfahrungsebene gleich zu sein mit Frauen aus der Türkei, dem Iran und Syrien."

Fabian Wolff wollte sich nicht nur durch seine angeblich jüdische Herkunft gegen den Antisemitismusvorwurf immunisieren, sondern auch als Sohn von Kommunisten, die ja angeblich in der Geschichte auf der "richtigen Seite" gestanden hätten. Diesen Aspekt thematisiert Anetta Kahane in ihrer FR-Kolumne. Auch die postkoloniale Nivellierung des Holocaust sei bei Wolff ein DDR-Erbe. In deren Diskurs "ermordeten die 'Hitlerfaschisten' Menschen vieler Nationen. Das Wort Jude erschien nur beiläufig. Nichts Besonderes. Opfer unter vielen. Wenn überhaupt. In der DDR war Antisemitismus eine Sache des Monopolkapitalismus, sonst nichts. Verbal ging Wolff diesen Weg nicht zu Ende, denn er brauchte ja noch den Habitus der Jüdischkeit. Er übernahm diesen Gedanken allerdings. Nur goss er sie in seltsame postkoloniale Floskeln."
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Kulturpolitik

Während des Afrika-Gipfels in St. Petersburg konnten sich die Anwesenden an mehreren Ausstellungen Kunst aus Afrika erfreuen. Außerdem ordnete Putin gleich noch die Errichtung eines Museums für die Kultur afrikanischer Länder in Moskau an, berichtet Konstantin Akinsha in der NZZ. Eine der Ausstellungen war "Umgekehrte Safari. Zeitgenössische Kunst aus Afrika", die zu einem großen Teil mit Werken italienischer Sammler bestückt gewesen sein soll: "Auch wenn die Mehrheit der afrikanischen Staats- und Regierungschefs sich weigerte, zum Gipfel zu erscheinen, waren doch einige afrikanische Künstler glücklich, Teil der Ausstellung zu sein. Dies ungeachtet der Tatsache, dass diese ein Herzstück der russischen Propaganda darstellte. Russland sollte als maßgeblicher Motor der Entkolonialisierung aufscheinen. 'Unbefleckt von den blutigen Verbrechen des Kolonialismus' sei das Land, wie Außenminister Sergei Lawrow es ausdrückte, wobei er die russische Kolonisierung Sibiriens, des Kaukasus und Zentralasiens natürlich völlig 'vergaß'. Man kann davon ausgehen, dass die meisten in St. Petersburg ausgestellten afrikanischen Künstler den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine keine große Beachtung schenken."
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Gesellschaft

Burkini hier, oben ohne dort - geht das zusammen im Freibad? Gerald Wagner stellt in der FAS eine - nicht repräsentative - Studie der Religionssoziologin Ines Michalowski vor, die im Sommer 2019 101 Interviews zum Thema mit Gästen in Frei- und Hallenbädern geführt hat. "Die meisten Nutzer begriffen das Schwimmbad und die dortigen Körperpraktiken als vollkommen abgelöst von Religion. Ein Verständnis für das Tragen des Burkinis als Ausdruck einer religiös geprägten Körperscham, so Michalowski, sei von den meisten Badegästen darum auch nicht zu erwarten. ... Religiöse Scham wird nicht (mehr) verstanden, aber durch ein notgedrungenes Ausweichen auf höhere Werte wie Diversität und Selbstbestimmung eingeordnet. Klar wird aber auch, dass der Respekt für die Selbstbestimmung der Burkiniträgerinnen von den nichtmuslimischen Befragten mit einer nahezu Nulltoleranzhaltung gegenüber der Erwartung quittiert wird, dass man jetzt etwa in den dafür abgegrenzten Bereichen nicht mehr nackt duschen sollte."
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