9punkt - Die Debattenrundschau

Böse Geister aus der Flasche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2023. In der FAZ schildert der Historiker Alexey Tikhomirov die Brutalität, mit der Unliebsame unter Putin öffentlich geächtet werden: Reuevideos und das Übergießen mit Seljonka sollen Kriegsgegner als "Schandgruppe" kennzeichnen. Nach 24 Jahren Propaganda und Angst akzeptieren die Russen die staatliche Gewalt, sagt Irina Scherbakowa im Tagesspiegel. Die FAZ schildert die ideologische Wende unter Giorgia Meloni, die vor allem die Rechte von Homosexuellen einschränkt. In der Berliner Zeitung erklärt Philipp Peyman Engel, weshalb Fabian Wolff trotz seines "regelrechten Hasses" auf den jüdischen Staat munter weiterschreiben durfte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.08.2023 finden Sie hier

Europa

Übergriffe auf Menschen mit gefärbten Haaren, Rasur von Köpfen zur Bestrafung, öffentliche Reuevideos - die Gewalt kehrt nicht nur zurück auf Russlands Straßen, schreibt der Osteuropa-Historiker Alexey Tikhomirov, der in der FAZ schildert, mit welcher Brutalität Putins Russland Rachejustiz und gesellschaftliche Ächtung fördert: "Zur Kriegsführung nach innen gehört auch die Entlarvung der 'fünften Kolonne', die dem Heimatland im Auftrag ausländischer Dienste schadet. Der Feind soll mit Stigma-Zeichen kenntlich gemacht werden. Putin- und Kriegsgegner sowie Menschenrechtler werden als Schandgruppe gekennzeichnet. Seit Jahren schon werden sie mit Seljonka (Brillantgrün) übergossen, das zur Desinfektion und Wundheilung verwendet wird. Metaphorisch wird deutlich: Regimegegner gelten als Eiterbeulen auf dem Körper des Landes. Als Quelle von Infektion und Ansteckung sind sie zu beseitigen. Im April 2017 wurde als einem der ersten Alexej Nawalnyj Seljonka ins Gesicht gespritzt. Dieselbe Markierung erlitten der Blogger Ilja Warlamow, der Politiker Michail Kassjanow, die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja und die Anwältin Jelena Ponomarjowa. Die Liste lässt sich fortsetzen.  Solche Beschämungspraktiken sind Ehrenstrafen. Die Beschmutzung des Gesichtes erniedrigt. (…)  Die Täter werden nicht gesucht. Im gegenwärtigen Russland gelten sie sogar als Patrioten und wachsame Bürger."

Nach fast "24 Jahren Propaganda, Anpassung, Angst, Bestechung und der Vernichtung politischer, oppositioneller Stimmen" hat sich die russische Bevölkerung immer mehr an die Unfreiheit und Gewalt gewöhnt, meint Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa im Tagesspiegel-Interview mit Maria Kotsev und Valeriia Semeniuk: "Die Menschen wissen von der massiven Gewalt, die vom Staat ausgeht. Und sie akzeptieren sie." Die russische Opposition hätte Putin stoppen können, allerdings waren die verschiedenen politischen Lager zu zerstritten, um geeint gegen ihn vorzugehen: "Als die Sowjetunion zerfallen ist, haben ihr, glaube ich, ganz wenige nachgeweint. Aber sehr bald gab es den tschetschenischen Krieg, mit dem man schon die bösen Geister aus der Flasche ließ. Dieser Krieg hat Putin den Weg zur Macht geebnet. Und dann nährte man die Bevölkerung jahrelang mit großrussischen imperialen Ressentiments. Zudem haben sich die Liberalen immerzu gestritten, weil die einen vermeintlich nationalistische Aussagen getätigt haben, die den anderen missfielen. Eigentlich hätten sie alles tun müssen, um Differenzen zu überbrücken und sich zusammenzuschließen, aber sie haben die Gefahr, die von Putin ausging, unterschätzt."

Daraus, dass sie nichts von Gleichberechtigung, Geschlechtervielfalt und LGBTQ-Rechten hält, hatte Giorgia Meloni schon während ihres Wahlkampfes keinen Hehl gemacht, schreibt Matthias Rüb in der FAZ. Von einer Debatte über das geplante Selbstbestimmungsgesetz ist Italien entsprechend weit entfernt, so Rüb: "Am deutlichsten erkennbar ist die weltanschauliche Zeitenwende unter Meloni mit Blick auf die Rechte von homosexuellen Paaren und Regenbogenfamilien. Mit einer Direktive wies das Innenministerium im März die Präfekten in allen Städten an, die Ausstellung von Geburtsurkunden zu unterbinden, in welchen zwei Personen des gleichen Geschlechts als Eltern aufgeführt sind. Präfekten sind die Vertreter der Zentralregierung in den Kommunen. Mit der Verfügung war die Aufforderung an die Städte und Gemeinden verbunden, solche widerrechtlichen Eintragungen aus der Vergangenheit rückgängig zu machen. Die Regierung verweist darauf, dass homosexuelle Paare seit 2016 zwar ihre Lebenspartnerschaft registrieren lassen können, dass diese aber vom Staat nicht als Ehe mit allen Rechten anerkannt wird. So haben homosexuelle Paare in Italien nicht das Recht auf Adoption. Frauen in einer lesbischen Partnerschaft dürfen zudem keine künstliche Befruchtung vornehmen lassen."

Eine, die sich für die Rechte queerer Personen in Italien einsetzte und dem Rechtspopulismus widersetzte, war die kürzlich verstorbene italienische Schriftstellerin Michela Murgia. In seiner Trauerrede auf seine Weggefährtin kam Roberto Saviano auch auf die systematischen medialen Hetzkampagnen gegen sich und Murgia zu sprechen, Italiens rechte Presse versuchte daraufhin, Saviano zu diskreditieren, berichtet Karen Krüger ebenfalls in der FAZ und fragt: "Hätte sich ein Debattenklima verhindern lassen können, das Murgia und Saviano immer wieder zur Zielscheibe machte, und lässt sich die Verschiebung der Grenze des Sagbaren, die das Land erlebt, noch aufhalten? So fragen sich jetzt viele in Italien. Während Murgia und Saviano nie aufhörten, die Entwicklungen im Land zu kritisieren, haben sich viele italienische Intellektuelle schon früh aus der Debatte verabschiedet. Italiens Linke war ihrerseits vor allem mit internen Zänkereien beschäftigt."

Die türkische Regierung fordert nun per App-Benachrichtigung zum Haftantritt auf. Ein weiterer Schritt zur "realen Dystopie", schreibt Raphael Geiger in der SZ. Vor allem aber ändert die Modernisierung des bürokratischen Apparats nichts daran, dass immer mehr Menschen das Land verlassen wollen: "Es macht müde, wenn man ständig mit dem Ist-Zustand kollidiert. Wenn das Leben unter den Möglichkeiten bleibt, wenn nie wird, was sein könnte. In den Augen derer, die gegen Erdoğan gestimmt haben, in den Städten ist das die Mehrheit, wird sich daran nichts ändern. Weitere fünf Jahre nicht."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Im Laufe der Jahre entwickelte Fabian Wolff "einen regelrechten Hass auf den jüdischen Staat, während er der antisemitischen BDS-Bewegung ein Koscher-Zertifikat ausstellte", sagt Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen im Gespräch mit Nathan Giwerzew (Berliner Zeitung). Dennoch wurde er weiterhin von Medien angefragt, weil es eben eine große Nachfrage nach "jüdischen" Israelkritikern gibt, so Engel weiter: "So als ob nur Juden die Politik der israelischen Regierung kritisieren dürften. Dass Kritik nicht das Problem ist, sondern Hetze gegen den Judenstaat, auf diesen blinden Fleck kommt man in den Redaktionen leider nicht." Den Faktencheck von ZeitOnline nennt er das "Dokument eines redaktionellen Versagens". Auch Engel wurde dafür angefragt: "Weil die Kollegen zur Causa Wolff noch nichts recherchiert hatten. Das war zwei Wochen vor Veröffentlichung des Faktenchecks. Sie baten mich, die Informationen an sie weiterzuleiten, die mir zu dem Fall vorliegen. Dabei weiß ich von zwei oder drei anderen Zeit-Redakteuren, die diese Informationen über Wolff ebenfalls vorliegen hatten. Sie hatten sich vielleicht mit ihren Kollegen nicht abgesprochen oder wussten gar nichts von deren Recherchen. Offenbar sind die Redaktionen so groß und so schlecht miteinander vernetzt, dass die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Im FR-Gespräch mit Peter Riesbeck erzählt der Historiker Kai-Ove Kessler, der gerade eine Geschichte des Lärms veröffentlicht hat, wie Lärm auch als Mittel der Gewaltherrschaft eingesetzt wurde: "Der Lärm der Diktatur schüchterte die Menschen nicht nur ein, er verschmolz sie weitgehend auch zu einer verschworenen Gemeinschaft. Wer laut redet und alle anderen übertönt, hat Recht. Die Nazis setzten ganz bewusst auf den plärrenden Rundfunk und die Lärmkulisse der Reichsparteitage und Aufmärsche. (…) Durch die schiere Gewalt des Klangs schüchterten schon die Römer ihre Gegner ein. Legionäre schlugen vor der Schlacht mit den Schwertern auf ihr Schild und brüllten im Takt. Bei etwa 5000 Mann einer römischen Legion ein durchaus furchterregender Klang. Das signalisierte dem Gegner: Lauft weg, solange ihr noch könnt."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Kessler, Kai-Ove, Lärm

Internet

Sämtliche Digitaltechnik, "ob nun für die einfache Elektronik in unseren Waschmaschinen bis hin zu KI-Cloud-Systemen", hängt von Chips ab, die in hoch spezialisierten Prozessen hergestellt werden -  hauptsächlich in China und Taiwan, schreibt die Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann in der SZ. Auch die für die Produktion benötigten "ebenso spezialisierten, oft nicht ersetzbaren Rohstoffe" kommen aus China oder aus Russland, fährt sie fort und mahnt, Europa müsse sich dringend unabhängig von China und Russland machen, denn: Eskaliert die geopolitische Lage weiterhin, hätte das massive Auswirkungen: "Im Falle eines Krieges um Taiwan würden viele Branchen womöglich erst einmal stillstehen, die von den dort produzierten Chips abhängen. Auch eine Nichtverfügbarkeit bestimmter Rohstoffe, zum Beispiel aufgrund einer harten geopolitischen Trennung zwischen den G-7-Staaten einerseits und den China/Russland-Unterstützern andererseits, könnte für ein bis zwei Jahrzehnte zu einer harten Bremse der globalen Chip-Produktion führen und damit zu Liefer- und Reparaturengpässen in fast allen Produktbereichen, wo Digitaltechnik oder auch nur einfache Elektronik zum Einsatz kommt."

Sehr ausführlich denkt der Medienrechtler und Geschäftsführer Europa- und Medienpolitik des Medienverbands der Freien Presse (MVFP) Christoph Fiedler in der FAZ darüber nach, welche Gesetze die EU für den Umgang mit durch KI entstandenen Medienerzeugnissen auf den Weg bringen sollte. So sollte etwa die "zweifelsfreie Erkennbarkeit synthetischer Publikationen" angeordnet werden, inhaltliche Vorgaben dürften indes zwar nicht gemacht werden, aber: "Andererseits darf das Recht KI-Veröffentlichungen um keinen Deut großzügiger behandeln als menschliche Veröffentlichungen. Es wäre fatal, wenn Redaktionen und Verlage für eine Verdachtsberichterstattung wegen unzureichender Belegtatsachen haften, gleichzeitig aber für dieselbe KI-Berichterstattung weniger strenge Anforderungen gälten, etwa unter Hinweis auf die Ordnungsgemäßheit des KI-Systems. (…) Eine reduzierte Haftung von KI-Äußerungen erscheint schon deshalb inakzeptabel, weil dann der Mensch als Träger des Grundrechts der Meinungsfreiheit weniger Redefreiheit hätte als der Roboter. Die Maschine hat keine Rechte und sollte auch keine erhalten."
Archiv: Internet