9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2023. Rechtes Denken war in den Achtzigern keine Randerscheinung der Generation Golf, erinnern taz und Spiegel im Fall Aiwanger. Und wie ist heute mit rechtem Denken umzugehen? Ein AfD-Verbot bringt jedenfalls nichts, glaubt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in der SZ. Sein Kollege Steffen Mau plädiert ebenda für ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Israel steuert auf eine radikale Theokratie zu, warnt Deborah Feldman im FAS-Gespräch. Und im Tagesspiegel erzählt die in Xinjiang geborene Kasachin Sayragul Sauytbay, wie Chinas KP sie noch im schwedischen Exil drangsaliert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.09.2023 finden Sie hier

Europa

Papst Franziskus hat neulich gegenüber Katholiken aus Sankt Petersburg von der "großen Mutter Russland" geschwärmt - für die Ukraine hat er derartige Nettigkeiten nicht parat, notiert Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne: "Daran zeigte sich, wie tief der Papst den Mythos vom russischen Reich als dem vermeintlichen Bollwerk zum Schutz des 'christlichen Abendlands' verinnerlicht hat, mit dem das Zarentum seine Gewaltherrschaft mystisch überhöhte - und den der Putinismus jetzt wiederzubeleben versucht... Diese Romantisierung der russischen Gewaltgeschichte verbindet sich bei dem argentinischen Papst mit einem linkspopulistischen, in Lateinamerika weit verbreiteten Affekt gegen die Dominanz der USA, im Kontrast zu der Russland als ein unverzichtbares Gegengewicht erscheint."

Im Tagesspiegel widerspricht das Ehepaar Marieluise Beck und Ralf Fücks nach ihrer Reise durch die Ukraine allen Appellen, die Ukraine zu einem "territorialen Kompromiss" zu drängen: "Der Ruf nach Gebietsabtretungen an Russland ignoriert den Willen der ukrainischen Regierung, des frei gewählten Parlaments und der großen Mehrheit der Gesellschaft. In der jüngsten repräsentativen Meinungsumfrage lehnten 90 Prozent der Befragten die Preisgabe von Gebieten ebenso ab wie Abstriche an der Souveränität der Ukraine. Die Entschlossenheit, die von Russland besetzten Gebiete zu befreien, ist trotz - oder sogar wegen - aller Opfer und Entbehrungen ungebrochen."

Vor einigen Tagen hatte bereits der Historiker Volker Weiß auf ZeitOnline mit Blick auf den Fall Aiwanger an Christine Schanderl erinnert, die im Jahr 1980 mit einer "Stoppt-Strauß"-Plakette an ihrem Gymnasium in Regensburg erschien, was nicht nur den Schulverweis und ein Gerichtsverfahren zur Folge hatte und hoch zum Kultusminister ging, auch später wurde Schanderl noch verfolgt: "Beobachtung durch den bayerischen Verfassungsschutz, Gängeleien im Jurastudium und trotz Bestnoten Verweigerung der sonst üblichen Verbeamtung während des Referendariats, schließlich der Versuch, die Zulassung als Anwältin zu hintertreiben."

Im Spiegel-Gespräch erkennt Schanderl, heute Christine Roth, im Fall Aiwanger den damaligen Zeitgeist in Bayern wieder: "Ich erkenne darin eine lange Kontinuität der Verharmlosung der NS-Zeit und des Holocaust in Bayern. Man denke etwa an das Oktoberfestattentat 1980: Franz Josef Strauß hat noch in der Nacht des Anschlags versucht, diesen schlimmsten Bombenanschlag in der Geschichte der Bundesrepublik den Linken in die Schuhe zu schieben. Als sich herausstellte, dass ein Mitglied der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann beteiligt war, hieß es, er sei nur ein Einzeltäter gewesen."

Ähnlich erinnert sich die Schriftstellerin Anna Rosmus, die damals zur nationalsozialistischen Geschichte Passaus recherchierte, im Spiegel-Gespräch mit Swantje Unterberg: "Die Zeit war voll mit antisemitischen und rassistischen Aussagen, auch aus der CSU. Edmund Stoiber war als CSU-Generalsekretär damals in den Schlagzeilen, als er dem SPD-Politiker Oskar Lafontaine vorwarf, er wolle 'eine multinationale Gesellschaft auf deutschem Boden, durchmischt und durchrasst'. Wenn jemand wie Stoiber in seiner führenden Position solche Aussagen machen konnte und ungehindert weiter Karriere machte, wird Söder einem damals 17-jährigen Schüler keinen Strick daraus drehen."

"Der Aiwanger, der das Flugblatt verfasst hat und der Aiwanger, der Hitlerreden imitierte, waren nicht jung und naiv, sondern, zumindest temporär, Teil eines Trends, der nach dem Mauerfall in eine völkische Revolte mündete", schreibt auch Eberhard Seidel in der taz: "Rechtes Denken ist keine Randerscheinung in der Generation Golf. Im Januar 1989 wählen in Westberlin 20 Prozent der männlichen Erstwähler die Republikaner. Im Juni 1989 erringen die Republikaner in Bayern mit 14,9 Prozent einen großen Wahlerfolg bei der Europawahl. Auch hier wählen überdurchschnittlich viele Junge die Partei. Am 20. April 1989 feiern in ganz Deutschland tausende von Jugendlichen und jungen Erwachsenen den 100. Geburtstag von Adolf Hitler. Neonazis kündigen an diesem Tag an, Einwanderer aus der Türkei anzugreifen. In Berlin und anderen Einwandererstädten bleiben an diesem Tag mehr als die Hälfte der Kinder aus Angst vor Übergriffen dem Unterricht fern."
Archiv: Europa

Politik

Für die FAS haben Julia Encke und Jürgen Kaube ein episches Gespräch mit Deborah Feldman geführt, deren Buch "Der Judenfetisch" gerade erschienen ist. In Israel steuern wir "fast schon unbeirrbar auf eine radikale Theokratie zu", meint sie und glaubt, dass es eine Auswanderungswelle aus Israel geben werde: "Als der linke Zionismus sich in Israel entwickelt hat, fanden die Orthodoxen das eigentlich sehr bedrohlich. Erst haben sie sich nur dagegen abgeschottet. Sie haben gesagt: Wir gehen nicht in die Armee, wir wollen uns nicht in diese Mehrheitsgesellschaft integrieren. Ihr müsst uns einfach Ausnahmen einbauen in eure Gesetze, dann lassen auch wir euch in Ruhe. Aber immer war im Hintergrund dieser Plan: Irgendwann sind wir zahlenmäßig stärker, und dann werden wir diesen Staat umformen nach unserem Geschmack. Und dann kommt noch ein Faktor hinzu: Je mehr Israel sich bedroht fühlt, desto mehr fühlen sich areligiöse Menschen in Israel von der Religion angezogen und flüchten sich in eine religiöse Identität, um moralisch klar Position beziehen zu können, wo sie im Nahostkonflikt stehen. Die Religion bietet ein Narrativ an, das eine viel schlüssigere moralische Erklärung dafür ist, warum wir einem fremden Volk Leid zufügen 'müssen"."

Die in Xinjiang geborene Kasachin Sayragul Sauytbay war eine der ersten Überlebenden eines Lagers in Xinjiang, gemeinsam mit Alexandra Cavelius hat sie vor zwei Jahren unter dem Titel "China Protokolle" über die chinesischen Vernichtungslager berichtet. Im Tagesspiegel erzählt sie von ihren Erfahrungen im Lager und der Verfolgung auch anderer muslimischer Ethnien in China, wie Usbeken, Tataren, Kirgisen oder Tadschiken: "Einen Teil der Menschen sperren sie in moderne Konzentrationslager, einen weiteren Teil verpflichten sie zur Zwangsarbeit in der eigenen Heimat und die übrigen verschicken sie zur Arbeit ins Innere Chinas". Noch im schwedischen Exil wird Sauytbay von Kadern der Partei verfolgt, um sie "mundtot" zu machen: "'Sie wissen, wo ich bin', sagt Sauytbay, 'und sagen mir das am Handy.' In den Drohungen heißt es: 'Du bist nirgendwo sicher' oder 'Denk an deine Kinder'. Wie bei anderen Dissidenten benutzt die KP zugleich auch die Familienangehörigen in der Heimat wie Geiseln, sperrt sie ein und zwingt sie dazu, ihre Liebsten im Ausland öffentlich zu verleumden. Unverdrossen aber warnt Sauytbay die Politiker weltweit: 'Ziel der KP ist es, den Überwachungsstaat wie in Xinjiang auch in andere Länder zu exportieren.'"

Knapp ein Jahr nach dem Tod von Mahsa Amini ist zwar ein Sturz des Regimes im Iran nicht in Sicht, aber auch der Widerstand hält an, berichtet Friederike Böge in der FAZ. Viele Frauen widersetzen sich weiterhin dem Kopftuchzwang, während die Regierung ein neues Gesetz auf den Weg bringen will, das Strafen für Verstöße gegen die Kleiderordnung verschärft: "Verwarnungen kommen meist per SMS und klingen so: 'Veehrter Fahrzeugbesitzer mit dem Nummernschild XYZ: In Ihrem Auto ist es am 27. März um 00.38 in der Nähe der Taleshan-Brücke zu einem Gesetzesverstoß (Entschleierung) gekommen. Nutzen Sie im Falle eines Widerspruchs innerhalb von 48 Stunden den unten stehenden Link. Im Falle einer Wiederholung wird ihr Fahrzeug beschlagnahmt.' Das neue Gesetz, das in diesem Monat in Kraft treten soll, sieht Fahrverbote von bis zu drei Monaten vor. Bisher waren es nur zwei Wochen. Vor allem Taxifahrer trifft das hart, weshalb sich schon jetzt tagtäglich Konflikte in Taxis abspielen. 'Ich bitte die Frauen höflich, ein Kopftuch aufzusetzen', sagt ein Taxifahrer, der bereits zwei Verwarnungen erhalten hat. 'Aber die meisten weigern sich.'"

Anders als bei den Putschen in der Sahelzone geht es in Gabun nicht um das Problem terroristischer, oft islamistischer Gruppierungen, sagt im Tagesspiegel-Gespräch mit Viktoria Bräuner die Politologin Anja Osei: "In Gabun geht es um die Verteilung der politischen Macht und darum, dass nur eine kleine Gruppe von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft profitiert. Auch wenn das Land ein im Vergleich zum Sahel höheres Pro-Kopf-Einkommen hat und auch in Indikatoren wie Bildung oder Frauenrechten besser abschneidet, ist der Reichtum sehr ungleich verteilt. Die politische Elite in Gabun ist stark durch Familienbeziehungen geprägt - in der Regierung, aber auch in der Opposition. Selbst im Militär finden sich Verwandte des Clans: Der Anführer der Putschisten, Brice Oligui Nguema, ist ein Cousin von Ali Bongo."
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Gesellschaft

Saba-Nur Cheema stellte vor einigen Wochen einen Bericht zur Muslimfeindlichkeit vor, den sie im Auftrag des Bundesinnenministeriums erstellt hat. Die Islamismusexpertin und Bloggerin Sigrid Herrmann wehrt sich nun juristisch gegen diesen Bericht, erzählt Jonas Dörge bei den Ruhrbaronen, weil sie sich zum Teil mit falschen Behauptungen als Muslimfeindin dargestellt sieht. Der Bericht steht dafür, dass sich die Bundesregierung die ihr genehmen Diskurse zunehmend selbst organisiert, meint Dörge: "Es steht der Bundesregierung nicht nur nicht zu, die Qualifikation von Bürgern öffentlich in Frage zu stellen, Mutmaßungen über deren politische Gesinnung zu tätigen und darüber hinaus falsche Tatsachenbehauptungen zu verbreiten. Diese öffentliche Anprangerung widerspricht ganz offensichtlich dem grundgesetzlichen Gebot, die Meinungsfreiheit zu schützen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik schützt die Meinungsäußerung des einzelnen Bürgers und bedeutet nicht, dass es dem Staat zusteht, zutreffende oder unzutreffende Meinungen über Bürger zu äußern, oder 'Experten' zu beauftragen, dies zu tun."

Ein Verbot der AfD würde das Problem nicht lösen, sondern wäre reine "Selbsttäuschung", schreibt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in der SZ: "Staatliche Repression schafft immer wieder Innovation. Rechtsextremismus erfindet sich immer wieder neu, weil sich Einstellungen und Haltungen nicht verbieten lassen. Je größer die Zustimmungsraten zu einer Organisation, desto mehr verschärft sich die Problematik. Das Grundgesetz errichtet zu Recht eine hohe Hürde vor dem Parteienverbot. Es dürfte sich schwerlich der Nachweis führen lassen, dass der autoritäre Nationalradikalismus der AfD auf Gewalt setzt, wie der klassische Rechtsextremismus - obwohl die AfD schon jetzt Legitimationsbrücken durch Parolen des 'Untergangs' und der 'Umvolkung' liefert. Ohne diesen Nachweis aber wäre ein Verbot wohl unverhältnismäßig, so der Frankfurter Verfassungsrechtler Günter Frankenberg. Außerdem käme es ja nicht über Nacht. Ein Verbotsverfahren zöge sich über Jahre hin und gäbe der AfD die weitere Gelegenheit, die jetzt schon virtuos eingeübte Märtyrerrolle propagandistisch zu nutzen."

Die AfD profitiert auch davon, dass sich "große Teile der Bevölkerung .. angesichts des rapiden Wandels überrollt oder abgehängt fühlen", sagt der Soziologe Steffen Mau im SZ-Gespräch mit Tim Frehler: "Teile der Gesellschaft sind veränderungserschöpft, da kommt es an. In Ostdeutschland noch stärker. Das hat etwas mit der Biografie der Menschen zu tun. In Ostdeutschland leben häufig Menschen, die schon viele Lebenskrisen durchgemacht haben, die existenzielle Unsicherheit erlebt und sich da wieder rausgekämpft haben. Aber die in der Folge stark darauf achten, das, was sie besitzen, auch zu verteidigen. Viele von ihnen wollen deshalb nicht mehr Migration, wollen nicht, dass die Gesellschaft diverser wird oder der Staat ihnen diktiert, wie sie leben sollen." Heute fehle ein "ein gesellschaftspolitisches Projekt, ein Ziel, das alle vor Augen haben und mit dem man viele mitnehmen kann."
Archiv: Gesellschaft