9punkt - Die Debattenrundschau

Das Mittel des Aufschreis

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2023. Seit einem Jahr kämpfen iranische Frauen todesmutig um ihre Rechte. Wo bleibt eigentlich Ihre "feministische Außenpolitik", Frau Baerbock, fragt Norbert  Röttgen in der taz. Karl Schlögel ist nach Charkiw gereist und berichtet für die Welt.  Es dürfte schwierig werden, der AfD eine Parteistiftung vorzuenthalten, fürchtet die taz, nachdem sie ein für die Bundesregierung angefertigtes Gutachten gelesen hat. Sind die Münchner Olympia-Attentäter mit Hilfe deutscher Behörden freigepresst worden, fragt die SZ. Im Freitag unterhalten sich Bernd Stegemann und Mithu Sanyal über Identität. Zum Fall Constantin Schreiber gibt es sehr unterschiedliche Kommentare.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2023 finden Sie hier

Politik

Seit einem Jahr führen die iranischen Frauen ihren historischen und todesmutigen Kampf gegen ihre Unterdrückung. Aber die europäische und deutsche Politik reagiert sehr verhalten, konstatiert der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen in der taz mit Blick auf Annalena Baerbock: "Wo, wenn nicht im Iran, einem Land, in dem sich ein ganzes Volk, angeführt von Frauen, gegen ein brutales Machtregime auflehnt, könnte es einen offensichtlicheren Anwendungsfall für feministische Außenpolitik geben? Aber anstatt den Frauen im Iran ihre Stimme zu leihen und damit die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf die Proteste zu lenken, war die Außenministerin auffallend zurückhaltend. Das hat einen einfachen Grund: Die Bundesregierung und die Europäische Union haben sich dazu entschieden, die revolutionäre Bewegung im Iran zugunsten von neuen Atomverhandlungen mit dem Regime auszusitzen."

Die taz bringt ein kleines Dossier zu "Frau Leben Freiheit" (Editorial). Gilda Sahebi schildert einen Tag im Leben einer jungen Frau in einem unterdrückerischen System. Daniela Sepehri bilanziert die mangelnde Solidarität deutscher Politik. Iran sei keineswegs so gespalten, wie es in der westlichen Öffentlichkeit oft dargestellt wird, schreibt Katajun Amirpur in der SZ: "Es gibt tatsächlich in der Gesellschaft - wenn auch nicht innerhalb des Regimes - inzwischen eine große Mehrheit dafür, dass man Frauen kein Kopftuch aufzwingen darf."
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Europa

Charkiw war die blühende Hauptstadt der Sowjetrepublik Ukraine, in die berühmte Schriftsteller aus dem Westen reisten, um stalinistische Bauprojekte zu bewundern, und zugleich potemkisches Dorf, das den gleichen Autoren den Holodomor und die Säuberungen verbarg, erinnert Karl Schlögel in der Welt, der nun gerade wieder nach Charkiw gereist ist: "Der Taxifahrer meint, es sei heute ruhiger in der Stadt; für das Charkiwer Gebiet, wo die Front verläuft, meldet die 'Airalert'-App allerdings fast alle paar Stunden Alarm. Man gewöhnt sich fast an den Sirenenton, und orientiert sich über nächstgelegene Bunker und andere Zufluchtsmöglichkeiten. Vom Hotel im Stadtzentrum sind es nur wenige Schritte in jene Bezirke, die systematisch von russischer Artillerie und Raketen beschossen worden sind."

Mehr oder weniger unbemerkt haben sich die großen Parteien in Deutschland mit den parteinahen Stiftungen ein äußerst komfortables Ausweichquartier für ihre politische Arbeit geschaffen: Auf 700 Millionen Euro pro Jahr beziffert Christian Rath in der taz inzwischen das Budget von Adenauer-, Böll-, Ebert-, Naumann- und Rosa-Luxemburg-Stiftung. Einige Dutzend Millionen Euro stünden also auch der AfD für ihre Desiderius-Erasmus-Stiftung zur Verfügung, doch dagegen gibt es Gegenwehr, weil die AfD nicht demokratisch ist und darum nicht am Luxus der anderen partizipieren soll. Das Bundesverfassungsgericht hatte inzwischen verlangt, dass die Finanzierung der Stiftungen nicht mehr nur durch einen mauscheligen "Vermerk im Haushaltsgesetz" geregelt werden darf, sondern ein Gesetz braucht. Innenministerin Nancy Faeser hatte vorher ein Gutachten bei den Berliner Rechtsprofessoren Christoph Möllers und Christian Waldhoff in Auftrag gegeben, ihr Ergebnis: "Das Gutachten stellt klar, dass die Entscheidung über den Ausschluss einer Stiftung von der Förderung nicht schon im Gesetz erfolgen könnte; hierfür sei diese Entscheidung viel zu komplex. So müsse eine 'Gesamtschau' der Stiftungsaktivitäten vorgenommen werden, punktuelle Verstöße gegen die gesetzlichen Vorgaben genügten nicht. Im Verfahren müsse auch die Stiftung angehört werden." Die Parteien sind unter Druck. Bis 1. Dezember soll das Stiftungsgesetz beschlossen sein.

Außerdem: In Zeit online berichtet Michael Thumann, dass sich Armenien von seinem einstigen Verbündeten Moskau ab- und dem Westen zuwendet. Hintergrund ist die Krise in Bergkarabach: "Russland griff nicht ein, als Aserbaidschan die Zufahrt nach Bergkarabach blockierte."
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Geschichte

Die Historiker-Kommission zur Aufarbeitung der Olympia-Attentate von 1972 hat ihre Arbeit aufgenommen (unser Resümee). Die SZ-Reporter Roman Deininger und Uwe Ritzer setzen ihre Serie im Lokalteil fort. Eine der Fragen, die die Kommission klären muss, ist die nach der schnellen Befreiung der palästinensischen Terroristen: Ein Flugzeug war entführt worden, und die deutschen Behörden gaben die Attentäter sehr schnell frei. Geschah diese Entführung mit Einverständnis der deutschen Behörden? In Israel war die Empörung über die Deutschen jedenfalls groß: "Warum saßen nur 13 Passagiere in der 'Kiel', allesamt Männer? Wie konnte jemand so einfach die Waffen für die Entführer unter Sitzen deponieren? Warum hatten die bayerischen Behörden die Ausreisepapiere der drei Olympia-Terroristen bereits gut eine Woche vorher ausgestellt? War die Entführung nur inszeniert, damit die Deutschen die Gefangenen loswurden? Gab es womöglich sogar einen Deal zwischen der Bundesregierung und den Palästinensern? Viele Jahre später wird Drahtzieher Abu Daoud sogar behaupten, die Deutschen hätten ihm neun Millionen Dollar für die Inszenierung der Entführung bezahlt. Seine Glaubwürdigkeit ist natürlich zweifelhaft."

Der Historiker Norbert Frei erinnert in seiner SZ-Kolumne an das geschichtspolitische Klima in den achtziger Jahren: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus fing im Grunde gerade erst an, gewann aber rasch an Dynamik unter anderem mit Schülerwettbewerben zur Lokalgeschichte: "Die NS-Debatte in den Jahren, in denen die Aiwanger-Brüder sich aufs Abitur vorbereiteten, war ebenso aufgeladen wie ambivalent. Einerseits deutete vieles bereits in Richtung jener 'Erinnerungskultur', die sich die Republik in den kommenden drei Jahrzehnten zugutegehalten hat, die heute aber erneut infrage zu stehen scheint. Andererseits war noch nicht ausgemacht, wie weit die Deutschen auf diesem Weg tatsächlich gehen würden. Der 'Historikerstreit' über die Singularität des NS-Judenmords hatte 1986/87 die intellektuellen Fronten zugunsten derer geklärt, die sich der 'Vergangenheit, die nicht vergehen will' wirklich stellen wollten. Doch was akademisch erledigt schien, blieb unter den Rechten Gegenstand der Verharmlosung und Leugnung. Mochten die Zeitgenossen der NS-Zeit weniger werden - ihre Rechtfertigungserzählungen wirkten weiter." Die Linke brauchte dagegen noch ein Weilchen bis zum "Historikerstreit 2.0".

Claus Leggewie besucht für die FR das runderneuerte Musée de l'histoire de l'immigration (Website) in Paris: "Die wichtigste Neuerung der Ausstellung besteht in der globalen Perspektive auf das Wechselspiel von Ein- und Auswanderung, das den hexagonalen Rahmen sprengt und bis in die jüngste Vergangenheit Europas reicht. Morgen können alle Flüchtlinge werden und Einwanderer sein. Diverse Weltkarten ziehen die Netze vom 'Mutterland' in weltweite Handelsexpeditionen und transatlantische Destinationen. " Auch Deutschland wünscht Leggewie einen ähnlichen Ort der historischen Reflexion.
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Ideen

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Bernd Stegemann, Autor von "Identitätspolitik", und Mithu Sanyal, Autorin von "Identitti" denken im Gespräch mit Michael Angele vom Freitag über ihr gemeinsames Thema, die Identitätspolitik, nach. Beide beobachten eine ungute Verabsolutierung der Opferperspektive. Stegemann: "Das Mittel des Aufschreis wird nicht nur zum Selbstzweck, sondern es ist auch kein Privileg der 'guten' Opfer. Auch die AfD stilisiert sich als Opfer einer Lügenpresse, und die Trump-Wähler fühlen sich als Opfer einer New Yorker Elite. Der Opferstatus wird als Machtmittel genutzt, weil wir eine Öffentlichkeit haben, die ein sehr großes Ohr für die Opfererzählung hat." Sanyal: "Wenn wir in einem öffentlichen Raum sprechen, haben wir aber eben auch Macht, und Macht bedeutet Verantwortung. Ein Wort wie Opfer - das ja aus einem religiösen Kontext kommt: das Opferlamm - impliziert jedoch absolute Machtlosigkeit. Das ignoriert die Dialektik von Macht. Es gibt immer Macht auf allen Seiten, egal wie klein sie manchmal ist. Das zu ignorieren, ist gefährlich."
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Medien

Der halbamtliche Charakter der "Tagesschau", die aufs Publikum einredet, als wäre sie das Verlautbarungsamt der Bundesregierung, kommt auch in Reflexen zutage, wie ihn heute der Tagesspiegel-Redakteur Malte Lehming produziert. Er findet, dass Constantin Schreiber (mehr zum Tortenattentat hier) sich in seiner Eigenschaft als 'Tagesschau'-Sprecher zurückhalten sollte, als wäre er so etwas wie ein Kronprinz: "Der Sprecher von Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung sollte sich politisch nicht allzu prononciert positionieren. Sein Renommee verdankt er dem öffentlich-rechtlichen System. Was immer er sagt: Das Publikum denkt, er repräsentiert die 'Tagesschau'. Das verpflichtet zur Neutralität."

Der Autor Peter Mathews sieht das Problem im Perlentaucher ganz woanders: Er kann Constantin Schreibers Beschluss, zum Thema Islam zu verstummen, sehr gut verstehen: "Andere, von allen Medien als 'Islamkritiker' stigmatisierte Autoren oder Wissenschaftler, hatten bisher schon Schlimmeres auszuhalten, ohne dass ihnen die 'Zivilgesellschaft' beigesprungen ist. Von Anschlag (Seyran Ates) über Entführung (Hamed Abdel Samad), Morddrohungen, Diffamierung, Rufmord, Fälschungsvorwürfen (Necla Kelek, Ahmed Mansour, Susanne Schröter, Abdel Hakim Ourghi), beruflicher Ausgrenzung und Auftrittsverbot sind - das ist auffällig - inzwischen alle sich mit dem Islam kritisch auseinandersetzenden Protagonisten betroffen."
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