9punkt - Die Debattenrundschau
Wie weit 'Nie wieder' von der Realität entfernt ist
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Für alle, die auf "Kompromiss" mit der Hamas setzen, hat der Tagesspiegel heute eine schlechte Nachricht. Benjamin Lamoureux zitiert aus New-York-Times-Interviews mit Hamas-Führern, die unmissverständlich ihre andauernde und durch nichs zu besänftigende Vernichtungsabsicht gegenüber Israel betonen. Der Tagesspiegel zitiert wie folgt: "'Das Ziel der Hamas ist es nicht, den Gazastreifen zu regieren und ihn mit Wasser und Strom zu versorgen', sagt Khalil al-Hayya, ein Mitglied des Politbüros der Terrorgruppe in Katar. 'Die Hamas, die Qassam und der Widerstand haben die Welt aus ihrem Tiefschlaf geweckt und gezeigt, dass dieses Thema auf dem Tisch bleiben muss'. Und, in den Worten des Hamas-Beratera Taher El-Nounou: "Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft wird und dass die arabische Welt an unserer Seite steht." Hier der Link zum New-York-Times-Artikel.
Nach einer "politischen Ethik des Friedens durch Recht" haben alle Staaten die Pflicht, "nach besten Kräften zum Schutz und zur Verteidigung der grundlegenden Rechte von Menschen nicht nur innerhalb der eigenen Grenzen, sondern auch weltweit beizutragen", schreibt der Philosoph Wilfried Hinsch in der FAZ. Voraussetzung ist aber: "Die Forderung der Verhältnismäßigkeit des Gewalteinsatzes und die Aussicht auf einen gerechten Frieden". Mit Blick auf Israels Kampf gegen die Hamas sei die Bedingung der Verhältnismäßigkeit nicht gegeben, meint er: "Wie viele von den nach eigenen Angaben der Hamas rund 40.000 Kämpfern der Terrororganisation müsste man in knapp vier Wochen töten und wie viel ihrer Strukturen und Ressourcen zerstören, um den Tod von mehr als 10.000 Menschen, die nicht zur Hamas gehören und die nahezu vollständige Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen im Gazastreifen in diesem Zeitraum gerechtfertigt erscheinen zu lassen? (Die Zahl ist der Website des UN-Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten entnommen). Wenn man bedenkt, dass der Kampf um Gaza Stadt gerade erst beginnt, muss man zu dem Schluss gelangen, dass die israelische Führung der Verhältnismäßigkeit des Gewalteinsatzes keine große Bedeutung beimisst."
Wie genau soll Israel denn auf das schlimmste Pogrom seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges reagieren, fragt Henryk Broder indes in der Welt: Mit "einem Falafel-Wettessen in Gemeinde-Zentrum von Sderot? Und retrospektiv gesehen: Haben die Juden angemessen auf den Holocaust reagiert, indem sie Israel gründeten? Oder haben sie damals schon total überzogen? Ich habe da einen furchtbaren Verdacht. Ich fürchte, alles unterhalb einer bedingungslosen Kapitulation verbunden mit einer sofortigen Schlüsselübergabe an die Hamas wäre für die großen Verteidiger der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung 'inakzeptabel' gewesen, für Putin, Erdogan, Lula da Silva, den brasilianischen Präsidenten, der sich mit einer einfachen Botschaft an die Welt wandte: Nur 'weil die Hamas einen Terrorakt gegen Israel verübt hat, muss Israel nicht Millionen unschuldiger Menschen töten'."
"Es gilt, wieder menschlich zu werden", schreibt in der taz der Autor und ehemalige Liberation-Nahostkorrespondent Selim Nassib, der die "Gräueltaten" nicht "gegeneinander aufrechnen" will, sondern daran erinnert, dass Frieden in der Vergangenheit wiederholt möglich schien: "Schon David Ben-Gurion, Israels erster Regierungschef, hatte sich 1967 nach dem Sechstagekrieg für die Rückgabe der besetzten Gebiete ausgesprochen als Gegenleistung für die Anerkennung Israels, die die arabischen Staaten damals jedoch ablehnten. 25 Jahre später, im Jahr 1993, unterzeichnete der damalige Premierminister Jitzhak Rabin mit dem früheren PLO-Chef Jassir Arafat die Osloer Prinzipienerklärung, die zu einem Ende der Besatzung und schließlich zu zwei Staaten führen sollte. Rabin wie Ben-Gurion sahen realistisch voraus, dass die fortgesetzte Kontrolle von Millionen Palästinenser*innen die jüdische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer früher oder später zur Minderheit werden lassen würde. Rabins Kritiker*innen, allen voran Israels heutiger Regierungschef Benjamin Netanjahu, verfolgen das genaue Gegenteil, nämlich die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Das heißt: den Frieden zu verhindern. Das ist ein Ziel, das die Hamas weitgehend teilt."
Julia Fermentto-Tzaisler, Gründerin des PEN Israel, zeigt sich in einem Gastbeitrag in der SZ entsetzt über die Gleichgültigkeit der Welt über die Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung. Zudem kritisiert sie, dass viele Organisationen, zum Beispiel der PEN International, Israel verantwortlich machen, die Linke sei sowieso ein Totalausfall. "Während die Tage vergehen, nehmen die pro-palästinensischen Demonstrationen, bei denen die Hamas nicht verurteilt wird, an Lautstärke zu. Immer mehr offene Briefe werden veröffentlicht, die das Vorgehen Israels verurteilen und in denen kein einziger ermordeter Israeli erwähnt wird. Mir ist klar geworden, dass ich nicht länger in meiner geistigen Heimat bleiben kann. Ich kann nicht länger durch diesen Morast der Linken waten, weder in Israel noch im Ausland. Die Linke ist zu einer Eisdiele geworden, in der man sich aussuchen kann, auf welche Geschmacksrichtung von Menschenrechten man gerade Lust hat."
Die humanitäre Lage im Gaza-Streifen schildert Philippe Lazzarini vom UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im SZ-Interview mit Peter Münch als "katastrophal". Auch spricht er über die Arbeitsbedingungen für die UN vor Ort. "Zunächst einmal: 92 unserer Angestellten sind schon getötet worden. Die Vereinten Nationen haben weltweit noch in keinem Konflikt in nur einem Monat so viele Todesfälle zu verzeichnen gehabt. Und was können die andern noch tun? Unsere Schulen sind keine Schulen mehr, unsere Lehrer unterrichten nicht mehr. Sie versuchen jetzt, das Leben zu organisieren in den Schulen, die zu Schutzzentren geworden sind. Mehr als 700 000 Menschen haben sich inzwischen in unsere Einrichtungen geflüchtet, um unter der blauen UN-Flagge sicher zu sein. Unglücklicherweise sind auch schon mehr als 50 unserer Einrichtungen getroffen worden. Dutzende Menschen wurden dabei getötet, Hunderte verletzt."
Geschichte
Die Erinnerung an die Novemberpogrome jährt sich zum 85. Mal, aber angesichts des Massakers der Hamas und der antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland soll das Gedenken dieses Jahr anders aussehen, schreibt Hauke Friedrichs, der für ZeitOnline unter anderem mit Daniel Sheffer gesprochen hat: "'Wir können diesen 9. November nicht begehen wie in den vergangenen Jahren, der grausame Angriff auf Israel und die Reaktionen darauf in Deutschland machen deutlich, dass die Mehrheit stärker die jüdische Minderheit schützen muss', sagt Daniel Sheffer, Vorsitzender des Stiftungsrats Bornplatzsynagoge, der den Wiederaufbau des 1938 stark beschädigten Gotteshauses plant. 'Die Untaten von palästinensischen Terroristen am 7. Oktober in Israel, die Morde an Babys, die Vergewaltigungen, das Anzünden von Familien und die Verschleppungen von Menschen, all das hat gezeigt, wie weit 'Nie wieder' von der Realität entfernt ist, dass es ein 'Schon wieder' gibt.'"
"Das Bild von den kulturvollen Deutschen zersprang" heute vor 85 Jahren und wieder müssen Jüdinnen und Juden um ihr Leben fürchten, meint auch Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel. Deshalb sei es Zeit, Antisemitismus als Straftatbestand ins deutsche Recht zu integrieren und uns "klarmachen, dass jeder Antisemit ein Feind der Demokratie ist". "Bis heute kommt Antisemitismus im Strafgesetzbuch nicht vor. Antisemitische Handlungen sind nicht zwangsläufig verboten oder strafbar. Es gibt keine Definition des Antisemitismus. Rechtlich gesprochen: Er ist kein Straftatbestand, nur ein Strafverschärfungsgrund. Das reicht nicht mehr aus, die Wirklichkeit ist eine andere, das Recht muss ihr folgen."
In der Geschichtsschreibung wurde erstaunlich wenig beachtet, dass am 08. November 1938 die gesamte jüdische Presse in Deutschland verboten worden war, erinnert Reiner Burger in der FAZ: "Auf einen Schlag hörten an jenem Tag vor 85 Jahren 65 Zeitungen und Zeitschriften mit einer Gesamtauflage von zuletzt rund einer Million Exemplare auf, zu existieren. Das Presseverbot war ein Menetekel für das, was die Kreis- und Ortsgruppenleiter der NSDAP und die SA-Stäbe im ganzen Deutschen Reich auf Goebbels Wink hin dann in der Nacht vom 9. auf den 10. November organisierten." An die Stelle der jüdischen Presse trat das von Goebbels total kontrollierte Jüdische Nachrichtenblatt: Ein "Spiegel der immer verzweifelteren Lage der Juden. Die nationalsozialistischen Machthaber nutzten die Zeitung als Werkzeug für ihre sich nun immer rascher radikalisierende Judenpolitik. Zunächst war Auswanderung das verordnete Hauptthema. Das blieb auch so, als nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs kaum noch Fluchtwege blieben. Gleichwohl ordnete das Propagandaministerium an, es hätten mehr Artikel zum Thema zu erscheinen."
Außerdem: In der NZZ erinnert Martin Steinacher vom Comité Maurice Bavaud an das gescheiterte Hitler-Attentat des Schweizer Theologiestudenten Maurice Bavaud vom 9. November 1938 in München.
Gesellschaft
Es ist nicht sinnvoll über "importierten Hass" zu sprechen, meint die Philosophin Hilge Landweer im FAZ-Gespräch: "Gefühle können nicht importiert werden, sondern entstehen aus bestimmten Situationen heraus, die nicht unbedingt an geographische Räume gebunden sind. Diejenigen, die hier nicht integriert sind, fühlen sich sehr stark mit ihrer Herkunftskultur verbunden. Allein durch Migration ändert sich der geschichtliche Kontext und die kulturelle Sozialisation nicht schlagartig. Für diese Menschen ist die Reaktion auf den schrecklichen und mit nichts zu entschuldigenden Terrorangriff der Hamas eine Frage der Loyalität und Zugehörigkeit. Das ist furchtbar, aber wenn man Gefühle verstehen möchte, dann ist es wenig sinnvoll, von vornherein mit Normen zu arbeiten. Man muss sich zuerst fragen: Aus welcher Situation heraus entsteht welches Gefühl? Und Hass ist ein Gefühl, das tendenziell aus Ohnmacht entsteht; gehasst wird zumeist von 'unten' nach 'oben'. Wenn nacheinander mehrere Generationen einer Gruppe in Lagern aufwachsen, dann wird der Hass gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen."
Gerade erst ist Heinrich August Winklers Buch über die Geschichte der Revolutionen in Deutschland von 1848 bis 1989 erschienen. Im FR-Interview spricht er unter anderem über das Scheitern der Revolution von 1848, über dies Zäsur des Jahres 1989 und macht Hoffnung, was den gegenwärtigen Rechtsruck nicht nur in Europa betrifft: "Unumkehrbar ist der Trend in Richtung halbautoritärer Regime, die die Unabhängigkeit der Justiz und damit den Rechtsstaat infrage stellen, nicht. Das zeigt die Niederlage der PiS, der Partei Kaczynskis, bei der jüngsten Parlamentswahl in Polen. Unter einer von Donald Tusk geführten Regierung wird sich Polen reliberalisieren und wieder eine europafreundliche Politik verfolgen. Illiberale, nationalpopulistische Kräfte haben inzwischen aber auch in Nord- und Südeuropa an politischem Einfluss gewonnen. (...) Der Aufstieg der AfD zeigt, dass auch Deutschland nicht immun ist gegen nationalpopulistische Bewegungen. Sie profitieren davon, dass Teile der Gesellschaft die 'politische Klasse' als 'abgehoben' empfinden. Es liegt an den demokratischen Parteien, diesen verbreiteten Eindruck zu überwinden. Vor allem von ihren Antworten auf die Migrationskrise hängt es ab, ob der Zulauf zur Rechten eingedämmt werden kann."