9punkt - Die Debattenrundschau

Mythos der unerbittlichen Grausamkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2023. Wir müssen "die Sprache verstehen, die ein Verbrechen ausdrückt", sagt der Historiker Raphael Gross im Spiegel im Blick auf Naziverbrechen, aber ausdrücklich auch im Blick auf den 7. Oktober und kritisiert scharf die postkolonialen "Kontextualisierungen". Ebenfalls im Spiegel denken Meron Mendel und Richard C. Schneider über das Trauma des 7.Oktober nach. Das Verbrechen des 7. Oktober war auch eindeutig als Femizid gemeint, der Hass auf Frauen, der ihm zugrundeliegt, muss auch der Integrationspolitik zu denken geben, fordert Necla Kelek in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.11.2023 finden Sie hier

Geschichte

"Wir müssen bei Verbrechen grundsätzlich genauer hinschauen, müssen verschiedene Formen von Gewalt genau unterscheiden und unterschiedliche Begriffe dafür finden. Die Sprache verstehen, die ein Verbrechen ausdrückt", sagt der Schweizer Historiker und Leiter des Deutschen Historischen Museums in Berlin Raphael Gross im Gespräch mit Ulrike Knöfel und Tobias Rapp vom Spiegel. Gross bezieht das ausdrücklich auf den 7. Oktober, nachdem er zuvor über das geplante Dokumentationszentrum zum Zweiten Weltkrieg gesprochen hat - auch hier geht es um verschiedene Formen der Gewalt, die die Nazis gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen in Europa ausgeübt haben. Scharf kritisiert Gross, der sich seinerzeit beim "Weltoffen"-Aufruf zurückhielt, heutige postkoloniale Diskurse: "Man kann auch davon sprechen, dass hier eine antikoloniale Tradition missbraucht wird, um Antisemitismus zu schüren. Das steht in einer Verbindung mit dem Versuch, die NS-Zeit als Kolonialverbrechen zu verstehen. Eine immer stärker verbreitete Theorieentwicklung führt dazu, dass die Unterscheidungen zwischen Rassismus und Antisemitismus, zwischen Genozid und Massaker, zwischen Krieg und Terror verwischt werden."

Die diesjährige Schiller-Rede in Marbach hielt Abdulrazak Gurnah - der auf den deutschen Kolonialismus zu sprechen kam. Der Literaturnobelpreisträger, der im Gebiet des früheren Deutsch-Ostafrika aufgewachsen ist, fragt sich, warum ein Staat wie Deutschland zum "Mythos der unerbittlichen Grausamkeit" werden kann, auch wenn die Kolonisatoren moralische Bedenken hatten. Nur reiche ein moralischer Zwiespalt oft nicht aus, um die Kollaboration aufzugeben: "Sich auflehnen würde schließlich bedeuten, sich gegen seine Gemeinschaft zu stellen, gegen die gemeinsame soziale Identität, gegen die gesellschaftlichen Institutionen, die einen schützen und zu seinem Tun berechtigen. Der gefühlte Zwiespalt stünde im Widerspruch zu jahrzehntelanger europäischer Selbstdarstellung - und der Darstellung des Angriffsobjekts, also der Afrikaner und Afrikanerinnen. (...) Eine Kolonie war immer ein Polizeistaat, durch Dekrete und bei Bedarf durch Gewalt regiert: Was in Deutschland das Gesetz verbat, war in Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika legal. Die deutsche Kolonialpraxis in Afrika trieb dies auf die Spitze."
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

Warum hat es in Deutschland, beim "Erinnerungsweltmeister", so wenige Bekundungen der Empathie nach dem 7. Oktober gegeben, fragt Meron Mendel und sucht in einem fast etwas ratlos wirkenden Spiegel-Essay nach Erklärungen. Die Empathie mit Frankreich sei nach den Charlie-Hebdo-Massaker und den Bataclan-Morden so viel größer gewesen. Für Mendel liegt es daran, dass die Aussöhnung mit Israel, anders als die mit Frankreich gesellschaftlich nicht verinnerlicht wurde: "Mehr als siebzig Jahre nach dem Wiedergutmachungsabkommen ist festzustellen, dass der parteiübergreifende Konsens über die Verbundenheit mit Israel wenig Rückhalt in der Gesellschaft hat. Die Mehrheit der Deutschen verbindet das Land nicht mit realen Menschen und Orten, vielmehr wird Israel zum Symbolbild: Für einen Teil der Bevölkerung wurde die Unterstützung Israels zum Symbol der erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung und Verantwortungsübernahme für die Naziverbrechen. Für einen anderen Teil stiftet die Feindschaft gegenüber Israel ein Zugehörigkeitsgefühl zum Kollektiv des Globalen Südens oder zur 'antikolonialen' Bewegung."

Der bekannte Soziologe Oliver Nachtwey reagiert mit einem Tweet auf Mendels Essay:

Anders als in Deutschland artikulierte sich in Frankreich immerhin eine breite Empathie in Solidaritätsdemos in Paris und anderen Städten. Der Bericht von Solenn de Royer in Le Monde klingt dennoch etwas strange: "Die Franzosen ignorierten die Polemik und folgten dem Aufruf. 182.000 Menschen (nach Angaben der Polizei) demonstrierten in Stille und Ernsthaftigkeit. Auch wenn die Soziologie der Demonstranten nicht alle Teile der Gesellschaft widerspiegelte, ist die entschlossene Mobilisierung eines Teils der Gesellschaft zu einer Zeit, in der antisemitische Vorfälle seit einem Monat explosionsartig zugenommen haben, eine gute Nachricht, die von vielen in den Demonstrationszügen als 'beruhigend' empfunden wurde." Mit "nicht alle Teile der Gesellschaft" spricht de Royer den klaren Eindruck an, dass in der Demo viele ältere Menschen unterwegs waren und so gut wie ausschließlich Weiße.

Es handelte sich beim 7. Oktober nicht einfach um ein Pogrom, sondern um ein lang vorbereitetes eliminatorisches Verbrechen, zu dessen Effekten es auch sofort gehörte, geleugnet oder "kontextualisiert" zu werden. Für die Juden, nicht nur in Israel wiederholt sich damit ein Trauma, schreibt Richard C. Schneider ebenfalls im Spiegel. Zum Trauma gesellt sich die sofort einsetzende Täter-Opfer-Umkehr in Teilen des Westens: "Gewiss, ob Juden oder Muslime, der Tod eines Kindes, des Partners oder der Eltern ist für alle derselbe unendliche Schmerz. Da gibt es nichts aufzurechnen oder abzuwägen. Das bedarf keiner Diskussion. Während die israelische Armee nun das militärische Ziel hat, die Mördertruppe Hamas zu vernichten, war die Intention der Hamas, jüdisches Leben an sich auszulöschen. Das stellt sie in eine Reihe mit all den anderen in der Geschichte, die Juden umbringen wollten, weil sie ihnen als das Böse schlechthin galten."

"No climate justice on occupied land." Zu den Charakteristiken des 7. Oktobers gehört, dass einige Linke sich, wie hier Greta Thunberg, als entschlossene Israel-Feinde demaskierten und damit auch ihr eigentliches Engagement in ein neues Licht stellen:

Derartige Äußerungen haben ihre Logik, schreibt Lennart Pfahler in der Welt, sie zeigen, dass auch Bewegungen wie "Fridays for Future" sich heute vor allem in die postkolonialen Diskurse einreihen wollen: "Fridays for Future hat sich im eigenen Selbstbild von einer Klima- zu einer globalen 'Gerechtigkeitsbewegung' gewandelt. Aktivisten haben das Wort 'Klimaschutz' weitestgehend durch die Vokabel 'Klimagerechtigkeit' ersetzt. Dahinter steckt die Annahme, dass vor allem hoch industrialisierte westliche Länder Verantwortung für den Klimawandel tragen - und vor allem Menschen in Ländern des globalen Südens unter diesem leiden."

Über Thunberg kursieren nun auf Twitter einige Memes:

Auch der Publizist Safer Zenocak, der in der Vergangenheit oft vor Islamismus warnte, will angesichts der jüngsten Ereignisse vor allem "kontextualisieren". In der taz schreibt er: "Jeder von uns weiß, dass der Konflikt nicht an diesem schrecklichen 7. Oktober begonnen hat und dass es brutalisierte Kräfte auf beiden Seiten gibt, die ihn schüren. Unsere Lebenslüge aber heißt: Israel ist das Opfer, Palästinenser sind Aggressoren, Terroristen."

Katrin Sohns, Kulturchefin des Tagesspiegel (und früher Kuratorin, die laut Selbstbeschreibung "im globalen Süden gelebt und gearbeitet" hat) nimmt sich eine Doppelseite, um über Kunstfreiheit zu schreiben. Im gegenwärtigen Konflikt sei es kaum möglich (linke) Diskursräume zu erhalten, in denen sich die Künstler austauschen könnten, Institutionen und Künstler sähen sich einem Positionierungsdruck ausgesetzt. "Deutsche Medien würden einseitig berichten, heißt es. So hat sich hier in Deutschland eine Debatte, die mit dem Fall um Achille Mbembe bei der Ruhrtriennale begann und über die Documenta eskalierte, in den vergangenen Wochen weiter verschärft, die Fronten verhärten sich zunehmend. Viele ziehen sich aus der öffentlichen Debatte zurück oder wollen sich zur politischen Lage nicht mehr äußern. Andere diagnostizieren, auch die linke Kunstwelt zerlege sich." Es gehe darum, einen "zukunftsweisenden Umgang mit dem Thema BDS zu finden". Und: "Dass sich Juden in Deutschland nun auch die Frage stellen, ob sie Opfer von Gewalttaten werden könnten, die mit der 'anhaltenden Unterdrückung der Palästinenser' legitimiert werden, dass sie sich auch in Deutschland nicht mehr sicher fühlen -, dies sind Tatsachen, denen sich auch Kunst- und Kultureinrichtungen als Orte der Zivilgesellschaft ehrlich stellen müssen." Vielleicht sollte man ihr nochmal eine Doppelseite geben, um genauer zu erläutern, worauf sie eigentlich hinaus will.

Der Staat hat zu lange dabei zugeschaut, wie sich Islamismus in Deutschland ausbreitet, erklärt die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek im NZZ-Interview mit Roman Bucheli. Regeln müssen respektiert werden, sagt sie mit Blick auf Integration: "Dabei ist entscheidend die Gleichberechtigung von Mann und Frau, ein Verbot von Kinderehe, Zwangsverheiratung oder Polygamie". "Wenn sie uns und unsere Lebensweise nicht aushalten können, müssen sie das Land verlassen. Und sie haben es sehr schwer, uns auszuhalten. Es waren junge Frauen und Mädchen, die in Israel an einem Rave in Freiheit gesungen und getanzt haben. Die Terroristen der Hamas haben sich an dieser Art des Lebens gerächt. Sie können es nicht aushalten. Es sind Männer, die uns Frauen vorschreiben, wie wir zu leben haben. Und wenn sie das nicht aushalten, dann sollen sie da leben, wo sie herkommen."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Jeder, der sich in den letzten Jahren mit der Linken befasst hat, überrascht deren gegenwärtiger Antisemitismus nicht, schreiben die Journalisten Christopher Ziedler und Tristan Fiedler im Tagesspiegel. Nach dem Zweiten Weltkrieg feierte die Linke immer wieder Anschläge auf Juden und Israel als emanzipatorischen Befreiungskampf. Dies änderte sich nach dem Kalten Krieg nur wenig: "Eine erste größere Aufarbeitung des antijüdischen Denkens und Handelns in der eigenen Szene erfolgte nach dem Mauerfall. Mit dem Ende der Sowjetunion gewannen jene Einzelstimmen an Einfluss, die die anti-israelische Politik Moskaus wie der westdeutschen Linken kritisiert hatten. Es kam zu einer regelrechten Spaltung mit Gründung unterschiedlicher Zeitungen für die einzelnen Strömungen.(...) Auf der anderen Seite verlor der traditionelle Marxismus-Leninismus an Einfluss. Zugleich erstarkte eine neue Linke, die eher postkoloniale Thesen vertrat. Vertreterinnen dieser Strömung wie Judith Butler bezeichneten Hamas und Hisbollah früh als 'Teil der globalen emanzipatorischen Linken' - die theoretische Grundlage veränderte sich, die Gegnerschaft zum jüdischen Staat blieb."

Die Rufe nach Verhältnismäßigkeit richten sich im Moment nur an Israel, konstatiert der katholische Philosoph Martin Rhonheimer in der NZZ. Israels Ziel ist es in diesem Krieg die Hamas zu vernichten, mit "schreckliche Folgen für die Zivilbevölkerung. Doch sind es in Kauf genommene Nebenfolgen, keine Mittel zum Zweck. Es geht Israel in diesem Krieg also nicht um Vergeltung oder Rache - zumindest nicht, was die Bevölkerung anbelangt. Es gibt nun aber in den westlichen Ländern einen eigenartigen Reflex. Dieser ist dem traditionell christlich sozialisierten Westen tief eingewurzelt und vielleicht sogar ein Relikt des ebenfalls typisch christlichen Antijudaismus. Der Reflex ist, sobald Juden im Spiel sind - sonst normalerweise eher weniger -, sich plötzlich an die Bergpredigt zu erinnern."
Archiv: Ideen