9punkt - Die Debattenrundschau

Die defizitäre Konzernsparte Religion

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2023. Israels Gegenschlag sei "prinzipiell gerechtfertigt", schreibt Jürgen Habermas in einem offenen Brief, in dem er auch antisemitische Reaktionen verurteilt. Den wesentlichen Fragen aber weicht Habermas aus, kommentiert die SZ. Es gibt keine westliche und keine arabische Regierung, die die Palästinenser unterstützt, beklagt Sayed Kashua, israelischer Schriftsteller mit arabischen Wurzeln, in der FAZ. Die Welt wirft Emmanuel Macron, der die Israelis zu einem dauerhaften Waffenstillstand auffordert, Scheinheiligkeit vor. Die Mehrheit der Deutschen hat mit Religion nur mehr wenig am Hut, entnimmt die FAZ einer aktuellen Untersuchung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.11.2023 finden Sie hier

Politik

Auch Jürgen Habermas äußert sich nun zu den Ereignissen in Nahost als Mitunterzeichner einer Stellungnahme des Forschungszentrums "Normative Orders" der Frankfurter Goethe Universität. Der Text betont die "recht verstandene Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland". Da die Massaker der Hamas dezidiert darauf zielten jüdisches Leben zu vernichten, sei der militärische Gegenschlag "prinzipiell gerechtfertigt" heißt es, dabei müssten allerdings "Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden leitend sein. Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden." Antisemitismus auf deutschen Straßen ist durch nichts zu rechtfertigen, betonen die Verfasser, denn "mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindet sich eine politische Kultur, für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind. Das Bekenntnis dazu ist für unser politisches Zusammenleben fundamental."

In der SZ kommentiert Jens-Christian Rabe: "All das kann dieser Tage vermutlich nicht oft genug gesagt werden. Allerdings weicht die Stellungnahme den wesentlichen strittigen Fragen aus. Was etwa 'Verhältnismäßigkeit' und ein 'künftiger Frieden' für Habermas und seine Mitunterzeichner bedeuten - dazu gibt es keine weiteren Ausführungen. Angesichts der dramatischen Verzwicktheit der Situation ist das aber vielleicht auch nur ehrlich."

Niemand spreche darüber, wie beängstigend es sei, jetzt Palästinenser zu sein, sagt Sayed Kashua, in Boston lebender israelischer Schriftsteller mit arabischen Wurzeln im FAZ-Gespräch mit Lena Bopp, in dem er auch bekennt, wie wenig Hoffnung er noch hat: "Es gibt Stimmen in Palästina, die sagen, dass nach dem, was jetzt passiert, die westliche Welt der palästinensischen Frage Aufmerksamkeit schenken wird, dass es nach einem Waffenstillstand eine Art von Lösung geben wird und dass das palästinensische Volk es verdient, ein Mitspracherecht zu haben. Aber nein, nein, es wird sich nichts ändern. Es gibt keine westliche Stimme und keine arabische Stimme, die uns unterstützt - ich spreche nicht von den Menschen, sondern von den Regierungen. Es gibt keine israelische Stimme, auf die man zählen oder mit der man zusammenarbeiten könnte, um die Demütigung, Palästinenser zu sein, zu beenden. Ich glaube, Israel zielt vor allem auf die palästinensische Hoffnung. Es tötet die palästinensische Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das heißt nicht, dass ich ein so schreckliches Verbrechen wie am 7. Oktober rechtfertigen will, ganz und gar nicht. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die ethische Haltung von jemandem, der Lebensmittel kaufen kann und über Strom und Internet verfügt, dieselbe ist, die man von einer Person erwarten kann, die nicht weiß, wie sie ein Kilo Tomaten für ihre Familie in Gaza kaufen soll. Es sind also wahrscheinlich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt."

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Um den Nahost-Konflikt zu verstehen, empfiehlt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten dringend die Lektüre von Amos Oz' letztem Buch "Liebe Fanatiker" als luzide und vorausschauende Analyse der Situation. Kurz vor Oz' Tod 2018 erschienen "beschreibt es die Irrtümer und Illusionen, die Irrwege und den Irrsinn, in und mit dem Israel existieren muss". Oz verwendet, so Rheinberg, das Bild von Dr. Jekyll und Mr. Hyde als Metapher für Israels "Tragödie": "Man kann an diesem Bild einiges aussetzen, aber es erklärt die Tragödie ganz gut. Die Palästinenser führen, so Oz, quasi zwei Kriege (heiß wie kalt) gegen Israel: einen berechtigten gegen die Besatzung im Westjordanland und einen fanatischen für die Auslöschung Israels und die Errichtung eines islamistischen Staates zwischen den Ufern des Jordan und den Stränden des Mittelmeeres. Aber fast das Gleiche ließe sich, so Oz weiter, auch über Israel sagen: 'Auch Israel kämpft zwei Kriege gleichzeitig: einen mehr als berechtigten Krieg für das Recht des jüdischen Volkes, ein freies Volk im eigenen Land zu sein, und einen zweiten Krieg der Unterdrückung, des Unrechts und des Raubs, dessen Ziel es ist, unserer Wohnung noch zwei, drei Zimmer hinzuzufügen…'"

Die Linke ist nicht mehr das, was sie mal war, stellt Josef Joffe in der NZZ wütend fest. Während früher die Werte der Aufklärung als Leitsatz galten und die "universellen Menschenrechte, unabhängig von Herkunft und Glauben", bejubelt man heute die Hamas, schreibt Joffe und erklärt, warum: "Die  falschen Erben malen ein manichäisches Weltbild, das nur 'Unterdrücker' und 'Unterdrückte' kennt. Der globale Schinder ist der weiße Mann, seine Opfer sind alle People of Color (POC), als wenn Pigmentierung Schicksal sei… Auf der Anklagebank sitzen allein der Westen und Israel als sein jüdischer Erfüllungsgehilfe, das ein 'kolonialer Siedlerstaat' sein soll, was ebenfalls Geschichtsklitterung ist. Diese Siedler sind nicht von Kaiser und König unter Flottenschutz entsandt worden. Sie sind die Nachfahren von Ausgestoßenen. Die Hälfte ist arabischer Herkunft - so weiss wie die Nachbarn. Der renommierte britische Historiker Simon Sebag Montefiore zieht das dürre Fazit: 'Die Israeli sind weder 'Kolonialisten' noch 'weisse' Europäer.' Man muss ihnen dennoch die Besiedlung des Westjordanlands ankreiden, ein Giftstachel im eigenen wie im Fleisch der Palästinenser. Den zu ziehen, machen die Brutalos auf beiden Seiten tagtäglich undenkbarer."

Sagt nicht Antisemitismus, sondern Judenhass, fordert Jaques Schuster in der Welt. Und überhaupt: hört auf mit der Heuchelei, ärgert er sich: "Es ist zumindest scheinheilig, wenn nicht sogar vorurteilsbeladen, wenn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der grundsätzlich immer sofort bereit ist, der Welt alle Pfauenfedern seiner Eitelkeit zu präsentieren, die Israelis zu einem dauerhaften Waffenstillstand auffordert und dabei in Kauf nimmt, dass die Terroristen der Hamas wieder einmal davonkommen. Wollte man die Zahl der Menschen auf Frankreich hochrechnen, die in Israel am 7. Oktober ermordet worden sind, wären an einem Tag 8680 Franzosen getötet worden. Jeder, der die französische Politik seit dem Terroranschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo 2015 verfolgt, kann sich leicht ausmalen, auf welche Weise Frankreichs Regierung nach einem solchen Terrorakt gegen eine Gruppe vorginge, die wie die Hamas in einem begrenzten Gebiet tätig wäre, ohne viel Federlesen."
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Europa

Der Weggang von Sahra Wagenknecht ist für die Partei Die Linke mitnichten der Untergang, wie überall behauptet wird, glaubt Christian Bangel auf ZeitOnline. Im Gegenteil, es könnte die Chance auf einen Neubeginn sein, denn eine neue starke (und glaubhafte) Linke wird angesichts der aktuellen Krisen dringend gebraucht, so Bangel: "Die Linke könnte, wenn sie wollte, eine klaffende Lücke schließen: Derzeit ist sie zwar ein trauriger Anblick, aber sie hat auch vieles, worum sie Sahra Wagenknecht mit ihrem Verein in Gründung insgeheim beneiden dürfte: einen leidlich funktionierenden Parteiapparat, politische und parlamentarische Erfahrung, Menschenfänger wie Gregor Gysi oder Bodo Ramelow, aber auch Kommunal- und Landespolitiker, die sich damit auskennen, wie man Verordnungen und Gesetze formuliert. Noch fehlen Köpfe, die einen Neuanfang verkörpern könnten. Aber warum sollte sich da niemand finden? Die Linke hat gute Verbindungen in die Gewerkschaften, in migrantische und antirassistische Milieus, in die Klimaschutzszene."

In Italien vergeht kaum ein Tag ohne antisemitische Vorfälle, berichtet Karen Krüger in der FAZ: "Die Austragungsorte für die Auseinandersetzung über den Krieg in Gaza sind auch in Italien zunehmend die Universitäten. Die Rektorenkonferenz hatte früh ihre Solidarität mit allen Universitätsgemeinschaften in den Krisengebieten zum Ausdruck gebracht. Doch nun spaltet ein Aufruf die akademische Welt, den bisher 4000 Universitätsdozenten und Professoren verschiedener Hochschulen unterschrieben haben. Der Text liest sich wie eine Anklage an die Entstehungsgeschichte des jüdischen Staates. Die Unterzeichner, darunter namhafte Wissenschaftler wie der Archäologe Paolo Matthiae, die Arabistin Isabella Camera D'Afflitto oder die Juristin Chantal Meloni, verlangen, die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten und Forschungszentren unverzüglich und so lange einzustellen, bis 'die Achtung des internationalen und humanitären Rechts wiederhergestellt' sei. Israelische Wissenschaftler sollen isoliert werden. Der Boykott sei ein friedliches, gewaltfreies Druckmittel, andere stünden nicht zur Verfügung, sagte der Soziologe Pierluigi Musarò. Der Vorstoß der Akademiker wird auch auf die fehlenden Zwischentöne und Differenzierungen in der politischen Debatte zurückgeführt. Mit Bewunderung blickt man nach Deutschland, wo genau das in der Auseinandersetzung eingelöst werde."
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Gesellschaft

Die deutsche Gesellschaft ist angesichts des Nahost-Konflikts tief gespalten - wie kann man beide Seiten wieder näher zusammenführen, fragt sich Kristin Helberg im Tagesspiegel. Das Problem liegt auch darin, dass die deutsche Holocaust-Erinnerungskultur die Sichtweisen von Zugewanderten nicht ausreichend berücksichtigt: "Was es braucht, ist eine multiperspektivische Erinnerungskultur, die den Holocaust nicht nur aus deutscher Sicht betrachtet, sondern auch den Blick von außen zulässt. Dadurch würde der Holocaust zum Menschheitsverbrechen, und Zugewanderte ohne biografischen Bezug zum Nationalsozialismus könnten die gleichen Lehren daraus ziehen wie Deutsche mit Nazi-Vorfahren. Häufig identifizierten sich junge Migranten und Muslime beim Besuch von Holocaust-Gedenkstätten mit den jüdischen Opfern, sagt die Soziologin Esra Özyürek bei 'Zeit Online'. Als Mitglieder einer Minderheit, die selbst Ausgrenzung und Diskriminierung erfahre, sei das naheliegend, so Özyürek."

Mohammed Chahrour ist Mitherausgeber des Buches "Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird". Dieser Mythos sei auf einen "subtilen und latenten Rassismus" in der Gesellschaft zurückzuführen, meint er im taz-Gespräch: "Wir sprechen jetzt nicht mehr von den 'kriminellen Ausländern' sondern von 'kriminellen Clans' - deswegen sprechen wir von einem Mythos. Gemeint sind mehrheitlich muslimisch gelesene Gruppen und Roma. (…) Für mich steht die sogenannte Clankriminalität in einer rassistischen Kontinuität mit den Hürden und der Kriminalisierung, die diese Gruppen bereits mit ihrer Ankunft in Deutschland erfahren haben. Diese Gruppen bekamen kein Asyl, sondern nur Duldungen, die immer wieder verlängert wurden, weil man sie als Staatenlose nicht abschieben konnte, zudem war im Libanon bis 1990 Bürgerkrieg. Sie bekamen nur Sachleistungen, also das, was heute viele wieder für Asylbewerber fordern. Sie durften über Jahre und Jahrzehnte nicht arbeiten, es gab keine Schulpflicht, die Wohnsitznahme war eingeschränkt. Es waren also unglaublich schwierige Umstände."

Martin Hyun macht im Tagesspiegel auf ein Kapitel der deutschen Geschichte aufmerksam, das bis heute viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt: das der koreanischen Gastarbeiter: "Vor sechzig Jahren trugen sie maßgeblich zum Wirtschaftswunder bei. Als Botschafter ihres Landes machten sie Taekwondo, Kimchi und Kimbab in Deutschland populär und legten damit den Grundstein für den Erfolg von K-Pop und der Hallyu-Welle." Die deutsche Gesellschaft ist auf diesem Auge allerdings blind, so Hyun: "Während Projekte zum deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vom Auswärtigen Amt finanziell gefördert wurden, erfuhren Anfragen für deutsch-koreanische Kulturprojekte regelmäßig Ablehnung. Das Desinteresse und die Ablehnungen, obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales maßgeblich am südkoreanischen Anwerbeabkommen beteiligt war und derzeit aktiv um Pflegefachkräfte aus Brasilien und Indien wirbt, sprechen hier Bände."
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Religion

Alle zehn Jahre beauftragt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eine große Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, erstmals wurden nicht nur Protestanten und Konfessionslose befragt, sondern auch Katholiken und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, berichtet in der FAZ Reinhard Bingener, der die Kirchen angesichts der Umfrage an einem "historischen Kipppunkt" sieht: "Die neue KMU teilt die Bevölkerung in vier große Religiositätstypen auf: 'Kirchlich-Religiöse' (13 Prozent), 'Religiös-Distanzierte' (25 Prozent), 'Alternative' (sechs Prozent) sowie 'Säkulare' (56 Prozent). Die Mehrheit der Deutschen hat also mit Religion nur mehr wenig am Hut. Auch mehr als ein Drittel der Kirchenmitglieder zählt zu der Gruppe der 'Säkularen'. Die mit Abstand größte Untergruppe der 'Säkularen' sind die 'Säkular-Geschlossenen', von denen viele ein streng naturalistisches, geradezu religionsfeindliches Weltbild vertreten. Es geht in dieser Gruppe nicht lediglich um einen Bedeutungsverlust des Religiösen im Sinne einer 'Transzendenzschrumpfung', bei der religiöse Fragen allmählich aus dem persönlichen Horizont entschwinden, sondern um einen jeglicher Religion entgegengesetzten Säkularismus, der normative Orientierung oft bei der 'Wissenschaft' finden möchte." "Findige Organisationsberater würden beiden Kirchen angesichts der Studienergebnisse womöglich raten, sich künftig konsequent als Sozialdienstleister zu verstehen und die defizitäre Konzernsparte Religion abzustoßen", kommentiert Bingener.

Jahrzehntelang hatte sich die deutsche evangelische Theologie auf das "Individualisierungsparadigma" zurückgezogen, schreibt der Soziologe Detlef Pollack in der FAZ: "Die soziale Bedeutung der Kirche nehme ab, aber die individuelle Religiosität sei gegenständlich unverfügbar und gehe daher in Kirchlichkeit nicht auf." Aber mit der aktuellen Studie habe auch diese "hochgemute Position" einen Dämpfer erhalten, so Pollack weiter: "Nicht nur das Vertrauen in die Kirchen ist auf einem Tiefpunkt gesunken. Nicht nur die Zahl der Kirchenaustritte erreicht nie dagewesene Höhen. Nicht nur der Gottesdienstbesuch ist so niedrig wie noch nie. Auch der Glaube an Gott hat sich dramatisch abgeschwächt. Waren es 1949 noch knapp 90 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, die sich zum Glauben an Gott bekannten, so sind es heute nur noch die Hälfte und nur noch 20 Prozent (!), die an einen Gott glauben, wie ihn die Bibel verkündigt."
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