9punkt - Die Debattenrundschau

So viele vermeintliche Experten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2023. "Es geht nicht um Kritik an Israel. Es ist Antisemitismus", konstatiert die Historikerin Hedwig Richter, die auf SpiegelOnline einige Doppelstandards zerlegt. Ihr Kollege Heinrich August Winkler befürchtet im Tagesspiegel zwar eine "Entwestlichung" des Westens, gibt die Hoffnung in die freiheitlichen Kräfte der Demokratie aber noch nicht auf. Im Guardian glaubt Jörg Lau: Deutschlands Unterstützung für Israel habe auch damit zu tun, dass die Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik zusammengebrochen sind. Und die taz zieht Parallelen zwischen den Deutschen unter Hitler und den Palästinensern unter der Hamas.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.11.2023 finden Sie hier

Politik

"Es geht nicht um Kritik an Israel. Es ist Antisemitismus", hält auf SpiegelOnline die Historikerin Hedwig Richter fest, die das ständige Abwiegeln, etwa wenn es um Gaza geht, nicht mehr hören kann: "Hier treibt ein Doppelstandard wilde Blüten, der für den neuen Antisemitismus essenziell ist. Da werden an Israel Standards angelegt, die für keinen anderen Staat der Welt gelten, schon gar nicht für die, die Israel feindlich gesonnenen sind, und noch viel weniger für das Hamas-Regime. An erster Stelle steht, dass das Dilemma der Israelis nicht beachtet wird. Keinem anderen Staat würde man das Selbstverteidigungsrecht aberkennen, aber Israel schon. Was soll der jüdische Staat machen, nachdem er so angegriffen wurde? Wie gefährlich wäre es für sein Überleben, wenn er die Botschaft der Handlungsunfähigkeit sendet? Und vor allem: Wie soll er eine Terrorbande bekämpfen, die sich systematisch hinter der Zivilbevölkerung versteckt? (…) Entscheidend ist auch: Die Hamas will genau jene Bilder, die momentan in Gaza entstehen, sie will diese Opfer. Die Hamas ist für jedes tote Kind in Gaza mitverantwortlich."

Dunja Ramadan beleuchtet in der SZ die Vermittlerrolle, die Katar zwischen Israel und der Hamas einnimmt. Zum Frieden im Nahen Osten trüge Katar gerade um einiges mehr bei als Deutschland, meint Ramadan: "Katars pragmatische Diplomatie hat - anders als Deutschlands einseitige Parteinahme - Menschenleben gerettet, gerade weil das Emirat Gesprächskanäle zur Hamas und Israel offen hält. Der israelische Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi nannte die diplomatischen Bemühungen Katars 'entscheidend'. Berlin pocht derweil auf das Selbstverteidigungsrecht Israels - trotz horrender Opferzahlen in der palästinensischen Zivilbevölkerung und besorgniserregender Aussagen israelischer Minister. So sagte der Landwirtschaftsminister: 'Wir führen jetzt tatsächlich die Gaza-Nakba ein.' Erst als der fürs Kulturerbe zuständige Ressortchef eine Atombombe auf Gaza als 'Option' bezeichnete, verurteilte Berlin das als 'inakzeptabel'."

"Was ist los in den Köpfen von Studentinnen und Studenten, die im Namen von 'Postkolonialismus' und 'Anti-Apartheid' hinter 'Free Palestine'-Bannern herlaufen, als könnten sie es gar nicht erwarten, dass Israel und seine Menschen verschwinden und einem weiteren Terrorstaat Platz machen, in dem Frauen verprügelt werden, weil sie sich nicht an die Kleidervorschriften halten, Homosexuelle ermordet und Kritiker*innen gefoltert werden?", fragt sich Georg Seeßlen zunehmend hoffnungslos in der taz: "Palästinensische genauso wie israelische Menschen fühlen sich "verdammt alleingelassen. Denn für palästinensische Menschen, die sich eine friedliche, demokratische und kooperative Heimat wünschen, ist die antiisraelische Stimmungswelle aus dem Westen genauso mörderisch wie für die Israelis selbst. Diese Bewegung überschreitet die zwei roten Linien bei der berechtigten und notwendigen Kritik an der Regierung Netanjahu, der Siedlungspolitik und der fanatisch religiösen Stimmungsmache. Sie schwächt in Israel die demokratische Zivilgesellschaft, und sie stärkt die Kräfte in Palästina, die Israel nicht besiegen, sondern vernichten wollen. Was indes am meisten erschreckt, ist ihre menschliche Kälte. Als wäre das Leiden von Menschen, hier wie dort, nur Baumaterial für eine ideologische Rekonstruktion der Welt."

Niger hält zukünftig keine Flüchtlinge mehr auf ihrem Weg zum Mittelmeer auf, die Militärregierung erklärte das Abkommen von 2015 mit der EU für ungültig. Es ist richtig, dass der Deal Europa mehr half als dem afrikanischen Land, schreibt Paul Munzinger in der SZ. Die EU lehnte Verhandlungen mit der der Junta ab - prinzipiell eine richtige Entscheidung nicht mit Putschisten zu verhandeln, meint Munzinger, aber "im Fall Nigers wären Verhandlungen dennoch besser gewesen. Und das liegt nicht nur daran, dass die ehemalige Kolonialmacht Frankreich eher beleidigt als prinzipienfest wirkt. Es liegt vor allem daran, dass der Preis, den Europa nun zahlen muss, sehr hoch ist: Sollte die Junta in Niamey Ernst machen, dann ist nicht nur der Flüchtlingsdeal verloren. Dann droht auch Niger ins Lager Russlands zu wechseln - so wie zuvor schon Mali und andere Staaten der Region. Und wenn es ganz schlecht läuft, dann droht demnächst Wladimir Putin Europa über seine neuen nigrischen Freunde mit steigenden Flüchtlingszahlen aus Afrika. Europa macht derzeit nicht den Eindruck, als könnte es eine solche Drohung verkraften."
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Europa

Sicherheitsbehörden und die unabhängige Meldestelle Rias verzeichnen seit dem 7. Oktober einen drastischen Anstieg antisemitischer Straftaten, meldet Konrad Litschko in der taz: "So zählt das Bundeskriminalamt seitdem rund 1.600 Straftaten mit Bezug zum Nahostkonflikt - 700 davon wurden als antisemitisch eingestuft. Es sind vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen, die meisten wurden 'ausländischer' oder 'religiöser Ideologie' zugeordnet. Im ganzen Vorjahr waren es 2.641 antisemitische Straftaten. Und die BKA-Zahlen dürften noch steigen. (…) Zugleich häufen sich seit dem 7. Oktober antimuslimische Delikte. So erhielten zuletzt mehrere Moscheen in Nordrhein-Westfalen und Berlin Drohschreiben mit angebrannten Koranseiten, Hundekot oder Schweinefleisch."

Es ist eine "gefährliche Verschwörungstheorie" die deutsche Solidarität mit Israel mit deutscher Schuld zu begründen, schreibt Zeit-Korrespondent Jörg Lau im Guardian. Berlin hat Israel immer wieder kritisiert, erinnert er. Die Gründe für die Unterstützung liegen woanders, so Lau: "Das außenpolitische Establishment Deutschlands hat einen tiefen Schock erlitten, und zwar den zweiten, nachdem im vergangenen Jahr erkannt wurde, dass Russland nicht durch diplomatische Annäherungsversuche, Pipeline-Deals und 'Wandel durch Handel' besänftigt werden konnte. (…) Ähnlich hatte Deutschland auf Diplomatie gedrängt, um mit Irans nuklearen und regionalen Ambitionen umzugehen. Berlin war einer der Hauptsponsoren des Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA)-Abkommens mit Teheran. Um das Abkommen zu retten, weigerte sich Deutschland, die iranischen Revolutionsgarden als Terrororganisation einzustufen. Dann griff der Gazastreifen, der zur iranischen Widerstandsachse gehört, am 7. Oktober Israel an. (…) Die Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik sind zusammengebrochen. Das Engagement gegenüber Russland und dem Iran ist gescheitert. Das ist die Ansicht aus Berlin: Diese beiden Mächte müssen gestoppt werden, und dazu gehört auch die Zerstörung der Hamas."

"Muss, wer Gaza sagt, auch Dresden sagen?", fragt Steffen Greiner, der in einem taz-Essay zunächst Parallelen zwischen den Deutschen unter Hitler und den Palästinensern unter der Hamas zieht: "Wie hat die Hamas die Gesellschaft seit ihrer Machtergreifung aus Wahlen heraus umstrukturiert, abseits islamistisch-patriarchaler Klassiker? Basiert das System nur auf Unterdrückung oder hat die jahrelange Propaganda gefruchtet, sodass die Zivilgesellschaft in ihrem alltäglichen Handeln still Zustimmung gibt, Mitläufertum, Denunziantentum belohnt wird? Sicher ist: Breite, offensiv geführte Widerstandsbewegungen sind nicht erkennbar. In Deutschland sind Menschen in Gaza zu Spielsteinen der alten Debatte geworden, wie sich Schuld in einem System verteilt, das auf kollektive Komplizenschaft aufbaut." Schließlich glaubt Greiner, die "verdrängte deutsche Trauer" wirke sich auf die Wahrnehmung des Krieges aus: "Wie viel Identifikation mit den 'ausgebombten' mitlaufenden Vorfahr*innen steckt in den überschießenden deutschen Reaktionen auf die Bilder aus Gaza, die bei Social Media als 'Menschlichkeit' verklärt werden? Wie viel von der überschießenden Reaktion, die in jedem Palästinenser nur den potenziellen Täter sieht, hat mit der Abwehr dieser Identifikation zu tun? Das ungeklärte Verhältnis von Gesellschaft, Täterschaft und zerstörerischer Konsequenz zeigt sich nicht nur in der ignoranten Forderung, Palästina von deutscher Schuld zu befreien."

Der Nahost-Experte des Spiegels, Richard C. Schneider, bekennt ebenda, weshalb er zumindest privat nicht mehr über den Krieg in Israel sprechen will: "In Europa kennen die meisten Menschen Gaza nicht, sie kennen die Moschavs und Kibbuzim nicht, die heute verwüstet brachliegen. Es ist für sie irgendein Krieg, sie haben keine Ahnung, was völlig in Ordnung ist. Aber ziemlich viele glauben, eine Ahnung zu haben. Es gibt kaum einen anderen Konflikt, bei dem es so viele vermeintliche Experten gibt wie beim palästinensisch-israelischen. Diese angeblichen Fachleute fühlen sich bemüßigt, das auch ständig kundzutun. Ihre Expertise besteht häufig aus Halbwissen oder Vorurteilen. Palästinenser sind für sie entweder verfolgte Heilige oder blutrünstige Terroristen, die Israelis entweder das Licht, das der Himmel der Menschheit geschenkt hat, oder die schlimmsten Kriegsverbrecher der Welt, schlimmer als Putin, Assad und Kim Jong Un zusammen. Spätestens da verstumme ich, wenn diese Experten mich in ein Gespräch verstricken wollen. Es ist sinnlos. Die meisten stellen keine Fragen, sie glauben alles zu wissen, weil sie ein paar Mal im Urlaub in Nahost waren."

Vor einem Jahr verurteilte der Deutsche Bundestag den Holodomor als "Völkermord". Christian Thomas zeichnet in der FR die historischen Umstände des grausamen Hungertodes von Millionen Menschen in der Ukraine nach. Russland versucht bis heute, das Gedenken an diesen Teil der stalinistischen Kampagne gegen die Ukraine zu verhindern: "In der heutigen Ukraine ist der Holodomor von elementarer Bedeutung für die nationale Identität. Es gibt in jedem Jahr am letzten Novembersamstag einen Holodomor-Gedenktag, seit 1993 mahnt am Michaelskloster in Kiew ein Holodomor-Denkmal. … Basiert doch die Autonomie der Ukraine fundamental auf ihrer Erinnerung an den Holodomor. Umso aggressiver der Revanchismus Russlands, so wurde im Oktober 2022 im sowieso niedergemachten Mariupol ein Holodomor-Denkmal durch die russischen Besatzer gestürzt. Kein Einzelfall, Russland will die Erinnerung an den Holodomor eliminieren, wie bereits im Donbas-Krieg, als prorussische Separatisten im August 2015 in Snischne ein Mahnmal für die Hungeropfer zerstörten."
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Ideen

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So bedroht war der "transatlantische Westen, wie er nach 1945 entstanden ist, bis heute noch nie", sagt der Historiker Heinrich August Winkler, dessen Buch "Die Deutschen und die Revolution" gerade erschienen ist, im Tagesspiegel-Interview mit Hans Monath und Christoph von Marschall. Die demokratischen Systeme sind in Europa und den USA durch nationalistische Bewegungen massiven Gefahren ausgesetzt. Winkler hat trotzdem Hoffnung, dass sich die westlichen Demokratien als wehrfähig erweisen: "Ich setze nach wie vor darauf, dass die freiheitlichen Kräfte der westlichen Demokratie sich als stärker erweisen als die Gegner der Errungenschaften der Aufklärung. Aber ich bin deutlich skeptischer als vor 30 Jahren nach den friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa und der Wiedervereinigung. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass nationalpopulistische Parteien ihre Stärke heute aus allen politischen Lagern beziehen. Insofern kann man von der Gefahr einer Entliberalisierung oder 'Entwestlichung' des Westens sprechen."

Der israelische Autor Etgar Keret verurteilt im SZ-Interview mit Johanna Adorján die Unfähigkeit der heutigen Gesellschaft, komplizierte Probleme als solche begreifen zu können: "Wirklich, die Fähigkeit, jegliche Art von Komplexität zu erfassen, ist momentan erschreckend wenig verbreitet. Es ist, als hätte ein Virus die Intellektualität der Menschheit befallen. Was vorherrscht, sind Emotionen, die niemandem guttun: Hass, Frustration, Entfremdung." Vor allem auf Social Media und zeige sich eine unglaubliche Einseitigkeit, vor allem bei selbsternannten "Aktivisten": "Aktivismus bedeutete, aktiv zu werden, um die Welt zu verändern. Heute ist Aktivismus, wenn man auf Facebook die Flagge postet, für die man gerade ist. Das Allerwichtigste dabei: sich ganz und gar der Einseitigkeit zu verschreiben. Es darf nicht die geringste Mehrdeutigkeit zugelassen werden. Aktuell ziehst du dir den meisten Hass zu, wenn du auf Social Media schreibst, dass du um die getöteten Kinder vom 7. Oktober weinst und um die Kinder in Gaza. Dafür werden sie dich in Stücke reißen."
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Kulturpolitik

Die Ausschreitungen an der Universität der Künste in Berlin schockierten in ihrer Agressivität sowohl den Präsidenten als auch andere Studierende und Mitarbeiter (unser Resümee). Annabel Wahba und Carlotta Wald sprechen auf Zeit Online mit vier Personen, die die Aktion erlebten. Tania Elstermeyer, UdK-Absolventin und Performancekünstlerin, die ihre jüdische Kommilitonin an diesem Tag zur Uni begleitete, ist fassungslos: "Wir trafen eine andere jüdische Studentin, die vor Angst zitterte. Meine Freundin und sie sahen dort ihre Kommilitoninnen, viele mit schwarzen Masken vor dem Gesicht und mit blutrot bemalten Händen...Wir hatten sofort ein Bild im Kopf, als wir die roten Hände sahen: Sie sind ein Symbol der zweiten Intifada, ein Symbol für einen Lynchmord an zwei israelischen Reservisten in Ramallah im Jahr 2000. Die beiden hatten sich mit dem Auto verfahren, waren von palästinensischen Polizisten festgenommen worden und nach Ramallah gebracht worden. Dort verbreitete sich wie ein Lauffeuer, die beiden seien israelische Spione. Eine aufgebrachte Menge, bewaffnet mit Messern und Eisenstangen, stürmte die Polizeistation und brachte die Israelis um. Schließlich hielt ein Mann seine blutrot verschmierten Hände aus dem Fenster und wurde von der draußen stehenden Menge bejubelt. Das Bild der blutroten Hände ist für Israelis eine Drohung: Nehmt euch in Acht. Ich bin davon überzeugt, dass das den Organisatorinnen und Organisatoren des Protests bewusst war."
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