9punkt - Die Debattenrundschau

Eine ominöse Substanz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2024. Die Bilder aus Hamburg und anderen Städten sind beeindruckend: Endlich wird gegen Rechtsextremismus demonstriert, freut sich die taz: "Es geht um die Frage, auf welcher Seite man steht." Auch der Rabbiner Pinchas Goldschmid, der aus Moskau emigriert ist und den Karlspreis bekommen wird, bekennt laut der Jüdischen Allgemeinen seinen Stolz, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Viel diskutiert wird über das neue deutsche Staatsbürgerschaftsrecht - die FAZ ist kritisch, der Tagesspiegel freut sich. Und Joschka Fischer redet in der Augsburger Allgemeinen Klartext über Israel und über Deutschland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.01.2024 finden Sie hier

Europa

Nachdem das Publikum beim Thema Antisemitismus eher zurückhaltend reagierte, mobiliseren nun wenigstens die Correctiv-Enthüllungen über die rassistischen "Remigrations"-Fantasien der AfD. Überall sind an diesem Wochenende weitere Demos geplant. Gereon Asmuth begrüßt sie in der taz ausdrücklich: "Es geht um die Frage, auf welcher Seite man steht. Die Spaltung kommt ja nicht aus der Mitte der Gesellschaft. Es geht nicht um Debatten wie pro oder kontra Atomkraft, pro oder kontra Verkehrswende, pro oder kontra 3 Cent mehr für Bürgergeldempfänger, über die man sich leidenschaftlich zerfetzen kann und muss. Es geht ums Ganze. Die Rechtsextremen haben die Axt an die Grundfesten der Gesellschaft angelegt. Nicht um sie zu verändern, sondern um sie und die ihr innewohnende Humanität zu zerstören."

Um hier kulturelle Vielfalt zu pflegen, braucht man nicht zwei Staatsangehörigkeiten, meint der CDU-Politiker Stefan Heck in einem FAZ-Kommentar zum neuen Staatsbürgerschaftsrecht, das angeblich von siebzig Prozent der Bevölkerung abgelehnt wird. "Alle wohlgemeinten Angebote deutscher Integrationspolitik konnten weder die türkischen Flaggenmeere verhindern, die zur Unterstützung Erdogans auf unseren Straßen zu sehen waren, noch Solidarisierungen mit der militanten Hamas nach dem schrecklichen Überfall auf Israel. Wenn Menschen sich sinnbildlich mit dem deutschen Pass in der einen Hand auf die Versammlungsfreiheit unserer Verfassung berufen und mit der anderen Hand ausländische Flaggen zur Unterstützung von autoritären Regimen oder gar Terroristen schwenken, ist Integration ganz offensichtlich gescheitert."

Liest man auch den FAZ-Leitartikel von Reinhard Müller, hat man den Eindruck, dass sich bei diesem Thema auch eine tiefe Spaltung in den bürgerlichen Fraktionen der Gesellschaft auftun wird: "Das jüngste Entsetzen über den hierzulande aufgeflammten Antisemitismus hat nur kurzzeitig zu neuem Nachdenken geführt. Schon ist ein neuer Grund gefunden: Die Grünen verkaufen den 'Anspruch auf Teilhabe' (die ist schon bisher niemandem verwehrt) als Antwort auf 'rechtsextreme Pläne zu millionenfacher Deportation'. Und deswegen soll Deutschland seine Tore weiter öffnen und den inneren Frieden aufs Spiel setzen?"

Sehr viel positiver dagegen Julius Betschka im Tagesspiegel: "Endlich verabschiedet sich das Land zudem vom antiquierten Abstammungsrecht. Wer nun in Deutschland (als Kind von Menschen mit unbefristetem Aufenthaltsstatus) zur Welt kommt, ist automatisch deutscher Staatsbürger. Staatsbürgerschaft wird damit neu gedacht: Bisher mussten sich selbst in Deutschland geborene, ausgebildete, arbeitende Menschen ausländischer Eltern einem Test unterziehen, wenn sie Deutsche werden wollten. Sie wurden darin nach den drei Farben der deutschen Nationalflagge gefragt. Dieses absurde Misstrauensvotum fällt weg."

Der Karlspreis der Stadt Aachen soll in diesem Jahr an den Rabbiner Pinchas Goldschmidt und die jüdischen Gemeinschaften Europas gehen. Michael Thaidigsmann kommentiert diese Entscheidung in der Jüdischen Allgemeinen als "faustdicke Überraschung" und würdigt den ehemaligen Oberrabiner von Moskau: "Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und seiner Weigerung, sich mit der Putin-Regierung zu solidarisieren, ging der Oberrabbiner im März 2022 notgedrungen ins Exil. Später wurde er nach 29 Jahren seines Amtes enthoben. Die Meldung, das russische Justizministerium habe ihn als 'ausländischen Agenten' gelistet, kommentierte Goldschmidt mit den Worten, er sei 'stolz darauf, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und sich in die Liste jener Menschen einzureihen, die sich diesem schrecklichen Krieg widersetzen, der Hunderttausende das Leben gekostet hat'."
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Kulturmarkt

Der Buchmarkt ist aufgestört, berichtet Julia Encke in der FAS. Angela Merkel und ihre Beraterin Beate Baumann hatten im Spiegel angekündigt, ihre Memoiren veröffentlichen zu wollen, aber ganz "ohne Ghostwriter, ohne Historiker, ohne Journalisten", und auch ohne Agenten, wie es sonst üblich wäre. Nun mussten sich die Verlage selber kümmern, und "die Verlage - darum ging es Frau Baumann und Frau Merkel - meldeten sich auch: kleine, mittlere und Konzernverlage, von denen einige eingeladen wurden, damit man sich kennenlernte und jeder darlegen konnte, wie das jeweilige Verlagshaus das zukünftige Buch positionieren und was es dafür in Bewegung setzen würde. Über diese 'Termine' mit der Bundeskanzlerin a. D. und ihrer politischen Beraterin kursieren seither Darstellungen, die in Hintergrundgesprächen mit Beteiligten bestätigt werden und die man sich gut als Theaterstück vorstellen könnte: 'Bewerbungsgespräch bei der Kanzlerin a. D.'
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Stichwörter: Merkel, Angela, Buchmarkt

Ideen

Der Begriff der "Identität" wurde in Deutschland nicht nur von der Neuen Rechten wie dem Grünen-Mitbegründer Henning Eichberg entwickelt, sondern auch von Linken, schreibt Ulrich Gutmair in der taz in einer tour d'horizon vor dem Hintergrund heutigen Proteste gegen die AfD: "Gegen ein Bedürfnis nach Überlieferung und Wissen über die eigene Geschichte ist nichts zu sagen. Problematisch ist seine Verknüpfung mit einem Identitätsbegriff, der eine ominöse Substanz postuliert, wo Gesellschaft ist. Der von Intellektuellen aus dem rechten wie dem linken Lager in den 1970ern ins Spiel gebrachte Begriff der 'Identität' wurde prompt von der Neuen Rechten genutzt, um Menschen aus dem nationalen Kollektiv auszuschließen. Nach Auschwitz war es nicht mehr opportun, Volk als biologische Tatsache zu postulieren. Da kam die zur Mode gewordene Rede von der 'Identität' gerade recht."

Ebenfalls in der taz würdigt der Soziologie-Professor und ehemalige Forscher am HIS Philipp Staab nochmal die Verdienste von Jan Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung, das nun par ordre de mufti in ein paar Jahren geschlossen werden soll (unsere Resümees).

Sehr sehr viel Spott gießt zugleich ein ganzes FAZ-Autorenkollektiv über das von dem Reederei-Erben Erck Rickmers vor zwei Jahren mit großen Getöse gegründete "New Institute", das in Hamburg in neun sehr schicken Villen residiert (unsere Resümees). "Kurz: Wir haben es mit einer schwer erträglichen Angeberei zu tun, die alle Werte zugleich zu verwirklichen behauptet, aber bislang so gut wie nichts zustande oder jedenfalls zu Papier gebracht hat." Es hat wohl auch mit der Person des Gründers zu tun. "Skurrile Szenen werden in diesem Zusammenhang geschildert: wie Rickmers in seinem Institut persönlich einen wissenschaftlichen Workshop eröffnet und die Gäste als seine begrüßt - in diesem Fall waren das beispielsweise der Krawallkünstler Jonathan Meese samt seiner Mutter, ein Zen-Mönch und der Philosophieprofessor Markus Gabriel: Hauskünstler, Hausphilosoph und Hausgeistlicher vor dem modernen Medici vereint."
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Geschichte

Israels Kriegsführung zu kritisieren, ist natürlich legitim, sagt der ehemalige Times-Chefredakteur und Leiter der Wiener Holocaust Library Daniel Finkelstein im Gespräch mit Jens Uthoff von der taz: "Oft aber haben Menschen mit diesen Ansichten eine Obsession mit Israel und mit keinem anderen Staat der Welt. Noch bevor Israel überhaupt auf den barbarischen Terror reagiert hat, begannen die Menschen bereits zu demonstrieren. Das ist blanker Antisemitismus." Finkelsteins Familie wurde teils von den Nazis, teils von den Stalinisten verfolgt, und er findet dafür eine schöne Formel. "Man könnte sagen: Die Nazis haben alle Juden verhaftet, von denen einige Ladenbesitzer waren; die Sowjets haben alle Ladenbesitzer verhaftet, von denen einige Juden waren. Viele Leute fragen, wer schlimmer war, Hitler oder Stalin? Meine Mutter hat immer gesagt: Das ist kein Wettbewerb. Sie lehnte den Versuch ab, herauszufinden, wer abscheulicher war. Viele Verbrechen, die die Nazis begangen haben, wurden auch von den Sowjets begangen. Aber die von den Nazis errichtete Todesfabrik ist etwas Einzigartiges."

Bei allen Hoffnungen, die sich mit der Figur Lenins (hundert Jahre tot und immer noch im Mausoleum) verbunden hatten und die in der 68er-Zeit noch mal aufflammten - für FR-Autor Arno Widmann ist klar: "Der Sieg war zu teuer erkauft. Jede Opposition war ausgelöscht worden. Rechts wie links. Es gab nur noch eine Partei: die Bolschewiki. Das war nicht die Tat Stalins. Das war das Werk Lenins. 'Lenin', so betitelte Stephane Courtois 2017 sein Lenin-Buch, war 'der Erfinder des Totalitarismus'. Ich glaube, das trifft den Kern der Sache."
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Gesellschaft

Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund, Ländern und Kommunen ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich um 14 Prozent gestiegen, berichtet ntv.de unter Bezug auf eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. 4,8 Millionen Menschen arbeiten aktuell als Beamte oder sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Das Fatale ist, dass gerade die zentralen Verwaltungen neben Polizei und Lehrerschaft zu jenen Bereichen gehören, die besonders stark gewachsen sind, zitiert der Artikel die Studie: "Beim Bund stieg die Anzahl um 11.000 (32 Prozent), bei den Ländern um 28.000 (21 Prozent) und bei den Kommunen gar um 79.000 (27 Prozent)." Hier die Studie als pdf-Dokument.
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Stichwörter: Öffentlicher Dienst

Politik

Der Historiker Omer Bartov fürchtet im Gespräch mit Daniel Bax von der taz, dass Israel angesichts des "Fiaskos" des 7. Oktober nun einen Genozid begeht. "Zahlreiche hochrangige israelische Politiker - der Premier und der Präsident, viele Minister und Generäle -, haben Dinge gesagt, die im höchsten Maße alarmierend waren. Es wurde dazu aufgerufen, Gaza auszulöschen und es dem Erdboden gleichzumachen... Wenn sie diese Sprache hören, dann haben sie das Gefühl, dass es keine roten Linien gibt. Das führt dann dazu, dass drei Geiseln erschossen wurden, die eine weiße Fahne geschwenkt haben. Der israelischen Öffentlichkeit ist das nur aufgefallen, weil es drei Geiseln waren und nicht drei Palästinenser."

Die in Berlin lebende Schriftstellerin Mirna Funk beklagt ebenfalls in der taz die Atmosphäre der Kälte nach dem 7. Okrober: "Für uns ist der 7. Oktober nicht vorbei, in der Öffentlichkeit hier aber schon. Wir trauern den Toten nach, wir machen uns Sorgen um die Geiseln, von denen immer noch rund 130 in Gaza sind. Wir verarbeiten den Schmerz über die Reaktionen in der Diaspora auf dieses Ereignis. Es ist viel. Aber diesen Dingen wird kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. ... Niemand wollte den Krieg, niemand will dort sein. Keine israelische Mutter will, dass ihr Sohn in Gaza stirbt. Dennoch muss Israel seine Grenze absichern, damit so etwas nicht wieder geschieht. Die Hamas erklärt seit drei Monaten öffentlich, dass das erst der Anfang war. Die Angst sitzt tief."

Ziemlich viel Klartext redet Joschka Fischer in einem langen Interview mit Margit Hufnagel und Peter Müller von der Augsburger Allgemeinen, das diese sogar online zugänglich gemacht hat. Zu Israel sagt er: "Wie bekämpft man eine Terrorgruppe, die sich innerhalb ihrer Bevölkerung versteckt? Israel muss die militärische Infrastruktur der Hamas zerstören. Es muss mit aller Härte zurückschlagen. Natürlich ist es humanitär eine gigantische Katastrophe. Aber ich meine, Israel hat keine Alternative. Auch, wenn es schwer auszuhalten ist." Und mit der Perspektive auf einen wiedergewählten Donald Trump dringt Fischer auf ein entschiedeneres Handeln in Deutschland: "Der wichtigste Beitrag, den Deutschland leisten kann, ist, dass wir unsere Sicherheit stärker in die eigenen Hände nehmen. Das heißt: Wir müssen verstärkt aufrüsten. Ich hätte es mir im Leben nicht träumen lassen, dass ich mit 75 Jahren einmal einen solchen Satz sage. Aber die Welt hat sich geändert."

Die amerikanische Demokratie ist bereits angeschlagen. Wird Donald Trump wiedergewählt, sieht auch der Politologe Michael Werz im Interview mit Michael Werz und Hannah Schmidt-Ott bei Soziopolis schwarz für das System der Checks and Balances: "Die große Autoritätsfülle des Präsidenten soll durch starke Parlamentarier und ein unabhängiges Justizsystem kontrolliert und eingehegt werden. Beide Kontrollinstanzen funktionieren aufgrund der Besetzung des Obersten Gerichtshofes mit konservativen Richterinnen und Richtern sowie durch die Einebnung von politischen Strömungen innerhalb der Republikanischen Partei allerdings nur noch eingeschränkt."
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