9punkt - Die Debattenrundschau

Ausdruck eines Krisengefühls

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2024. Die Zeit der Geheimbündelei ist vorbei. In ihren neuesten Schriften tritt die extreme Rechte offen und aggressiv an, beobachtet die Zeit. Die Parole "From the River to the Sea" ist "nicht per se" antisemitisch, findet geschichtedergegenwart.ch. FAZ und taz diskutieren über die Proteste gegen die AfD und die Frage, was sie mit der Partei machen. Russland schikaniert Regimegegner nun auch noch mit der Enteignung von Besitztümern, berichtet die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2024 finden Sie hier

Ideen

Die Zeit der Geheimbündelei ist vorbei. in ihren neuesten Schriften tritt die extreme Rechte offen und aggressiv an, beobachtet Mariam Lau in der Zeit. An zwei Büchern exemplifiziert sie diese These, "Regime Change von Rechts" vom Identitären Martin Sellner, und "Politik von rechts" des Europa-Spitzenkandidaten der AfD, Maximilian Krah: Dem Katholiken Krah gehe "es nicht mehr nur um das behutsame Bewahren, das Abfedern der Wucht des Fortschritts, wie es Konservative in der Union wollen. 'Es geht um eine organische Ordnung auf Basis dessen, was sich aus Natur, Tradition und Kultur ergibt.' Nicht das 'formal korrekte Verfahren' ist für Krah die Legitimationsquelle staatlicher Entscheidungen, nicht eine 'veränderbare' (und daher schwache) Verfassung, sondern der Staat als kollektive Ordnung, die 'nicht permanent neu ausgehandelt' werden müsse. Gegenüber der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik mit ihrer Wertschätzung des Individuums ist das kein 'Zurück zu'. Es ist eine Revolution, ein kompletter Systemwechsel, in der Tat ein 'anderes Deutschland'.

Das Völkische steht dabei in einer Kontinuität seit dem 19. Jahrhundert und ist als eine Gegenreaktion zu den Zumutungen der Moderne zu verstehen, sagt der Historiker Michael Wildt im Gespräch mit Christian Staas und Carlotta Wald ebenfalls in der Zeit: "Die aggressiv gestellte Frage, welche Minderheiten zu 'uns' gehören und welche nicht, ist stets Ausdruck eines Krisengefühls. Im späten 19. Jahrhundert wandelten sich die Lebensumstände rasant: das neue Tempo von Verkehr und Kommunikation, die boomenden Großstädte, sich verschärfende soziale Konflikte, der technologische Fortschritt, der altehrbare Berufe abwertete. Ähnlich wie heute erlebten viele Menschen die beschleunigte Modernisierung als überfordernd."

So wie die postkoloniale Fraktion gleich nach dem lustigen Morden vom 7. Oktober "Kontextualisierung" forderte, erläutern nun die Postkolonialisten Amos Goldberg und Alon Confino bei geschichtedergegenwart.ch, dass die auf propalästinensischen Demos skandierte Parole "From the River to the Sea" "nicht per se" antisemitisch sei: Hier sei "viel Raum für Interpretationen". "Dieser Slogan wird seit Jahren von vielen, auch jüdischen Menschen, bei Demonstrationen und Kundgebungen auf der ganzen Welt gerufen. Er spiegelt die Tatsache wider, dass aus palästinensischer Sicht das besetzte Heimatland nicht nur die Westbank und der Gazastreifen sind, sondern das gesamte Mandatsgebiet Palästina, aber er sagt nichts über die politische Art und Weise, wie dieses Heimatland befreit werden soll."
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Politik

Südafrika handelt nicht mehr im Sinne Mandelas, wenn es Israel vor Gericht zerrt, ruft uns Ulrich Schmid in der NZZ zu. Dieser respektierte nämlich Juden als Kampfgefährten und auch die Existenz eines jüdischen Staates. "Der Hinweis, dass nur Länder - und keine Gruppen wie die Hamas - beim IGH angeklagt werden können, läuft ins Leere. Pretoria interessiert sich in offener Nonchalance weder für die Hamas noch für ein Kriegsverbrechen, das jedem jemals aufgeschriebenen Recht hohnspricht. Nein, Pretoria betreibt einfach Politik. Hier geht es nicht eine Sekunde um Recht oder Gerechtigkeit, sondern einzig und allein darum, Israel zu dämonisieren, zu isolieren und an den Pranger zu stellen. Das ist Verrat am Erbe Mandelas. Zur Erklärung der südafrikanischen Klage bleibt einzig das sinistere Hobby südlicher, meist autokratischer Nationen übrig: der Postkolonialismus, das neue linke Eilverfahren, das Täter und Opfer stets schon kennt, bevor zu Gericht gesessen wird."

In der NZZ erinnert der Historiker Edward Luttwak, dass Israel 1967 und 1973 international isoliert war, als es von arabischen Staaten attackiert wurde. "Heute, fünfzig Jahre später, ist alles anders. Die USA, das Vereinigte Königreich und die Europäische Union haben keinen Versuch unternommen, die israelische Gegenoffensive gegen die Hamas zu stoppen. Die USA lieferten Militärgüter, und die italienische Regierung unterstützte das Vorgehen der IDF in Gaza uneingeschränkt."

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann forderte im Spiegel-Interview, dass die Deutschen immer auch an die "Nakba" denken sollten, wenn sie des Holocaust gedenken (unser Resümee), weil sie gewissermaßen indirekt auch am Leid der Palästinenser schuld seien. Dem widerspricht Alan Posener in der Welt scharf: "1948 haben die arabischen Staaten den gerade erst von den Vereinten Nationen etablierten Staat Israel überfallen, um 'die Juden ins Meer zu treiben'. Die arabische Bevölkerung Israels forderten diese Möchtegern-Judenvernichter auf, ihre Dörfer zu verlassen, bis der Krieg gewonnen wäre. Einige Hunderttausend folgten der Aufforderung, die Mehrheit nicht. Einige wurden im Verlauf der Kampfhandlungen von israelischen Truppen vertrieben. Am Ende konnte sich der jüdische Staat gegen seine Feinde behaupten. Dieses Scheitern eines Angriffs- und Vernichtungskriegs bezeichnen die Araber als 'Nakba': Katastrophe. Es gibt nicht den geringsten Grund, dafür ausgerechnet in Deutschland, wo wir die Niederlage von 1945 als Tag der Befreiung begehen, Verständnis aufzubringen."

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Im Spiegel ermahnt sich Richard C. Schneider, lange Zeit Israel-Korrespondent der ARD und Autor des Buchs "Die Sache mit Israel", selbst: Krieg polarisiert wie nichts sonst, gerade darum muss Empathie für die andere Seite bleiben. "Wir stehen vor der Gefahr zu verrohen und uns vom Kriegsgeschehen emotional davontragen zu lassen. Atavistische Emotionen kochen schnell in jedem von uns hoch. Noch schlimmer aber ist es, wenn man zum Zyniker wird."
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Medien

Der Journalist Farhad Payar betreibt in Deutschland das Iran Journal. Im Interview mit Clara Löffler von der taz spricht er über seine Nichte Ghazaleh Zarea, ebenfalls Journalisin, die im Iran von den Behörden schikaniert wird und offenbar auch Drohungen gegen ihn hörte. Er setzt weiter seine Hoffnung in die iranische Opposition: "Die Gesellschaft ist sehr aktiv. Die landesweiten Proteste gehen in anderer Form weiter, weil die Probleme, weshalb die Menschen auf die Straße gingen, nicht gelöst sind. Ich habe meine Nichte gefragt: 'Willst du nicht rauskommen?' Sie sagte: 'Nein, das ist auch mein Land. Warum sollte ich das Land verlassen?' 'Du kommst vielleicht drei Jahre ins Gefängnis', sagte ich. Sie antwortete: 'Wenn das der Preis ist, um in diesem Land zu leben, dann bezahle ich ihn.' Und sie ist nicht die Einzige, die so denkt."
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Stichwörter: Iran, Payar, Farhad

Europa

Jan Feddersen macht in der taz darauf aufmerksam, dass die Demos gegen die AfD "keine linken Umzüge sind". Hier demonstriere "eine deutsche Mehrheit, die den fantasierten naziähnlichen Krawall nach Gusto der AfD ablehnt". "Die bundesdeutsche Mehrheit befürwortet, in Ruhe gelassen zu werden, dann hält sie auch Menschen aus, die anders sind, als sie selbst sich sieht. Deportationen und anderen nazihaft anmutenden Kram lehnt sie ab: Das wäre alles nicht im Sinne bürgerlichen Einvernehmens, allen gelegentlichen Nervereien zum Trotz. Der bürgerliche Deutsche, der sieht sich weltläufig, auch im eigenen Land. Das Selbstideal ist 'Frieden im Land'."

In der FAZ hat man unterdessen Angst, dass die Sache mit der AfD der Partei eher nützt. Kira Kramer beschreibt auf der Medienseite die von der AfD betriebene "Skandalumkehr": "Die AfD und parteinahe Medienorgane, ihre sogenannten Alternativmedien, verbreiten eine Gegenerzählung zur Berichterstattung der Medien. Dabei handelt es sich nicht um einzeln gestreute Desinformationen, sondern um orchestrierte Propaganda, die nicht auf Wahrheit oder die Abbildung der Wirklichkeit zielt, sondern auf Empörung, Wut und Angst. Die AfD hat verstanden, was andere Parteien in Deutschland erst allmählich begreifen: Im Internet, vor allem auf Social Media, verbreiten sich emotionale Inhalte viel schneller als nüchterne Fakten." Und im Leitartikel fürchtet Andreas Ross, dass sich wiederholt, "was zuletzt dem Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger widerfuhr, dem die Enthüllungsgeschichte über ein antisemitisches Flugblatt in seiner Schultasche satte Wahlgewinne bescherte: Viele Bürger stärken jenen den Rücken, die 'mundtot gemacht' werden sollen."

Der russische Staat holt zu einem weiteren Schlag gegen die russische Exil-Opposition aus, berichtet Markus Ackeret in der NZZ. Konnten diese sich ihrer Vermögenswerte noch sicher sein, sieht ein Gesetz nun anderes vor. "Konkret geht es darum, eine Reihe strafrechtlicher Vergehen, die seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine eingeführt oder ausgeweitet wurden, mit der Enteignung von Besitztümern zu ahnden. 'Diskreditierung der Armee' und 'vorsätzliche Falschnachrichten' über die Tätigkeit der Streitkräfte sind die am häufigsten genannten Straftatbestände. Sie sind zum Symbol für die Repression gegen Andersdenkende seit Februar 2022 geworden." Das neue Gesetz erfasse nun außerdem: "unter anderem Desertion, illegalen Grenzübertritt, Spionage und Hochverrat, aber auch geheime Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und Beihilfe zur Erstellung von Sanktionslisten. Zusätzlich zu oftmals unverhältnismäßig langen Lagerhaftstrafen sollen die Verurteilten künftig auch den Besitz verlieren, mit dem sie die Straftat begingen, oder die Mittel, die sie durch das Vergehen erworben haben."

Dieses akkurat ausgeführte Graffito prangt offenbar schon seit fünf Tagen an der Bahn-Station der TU Dortmund:

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