9punkt - Die Debattenrundschau

24 Stunden am Tag unter ständiger Beobachtung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2024. Europa hätte auch ganz allein die Mittel, sich Russland entgegenzustellen, mahnt der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel in der FAZ, es muss nur wollen. Glaubt man der FAS, ist Deutschland aber nur bedingt abwehrbereit. Die SZ fragt, was das AfD-Programm zum Thema Frauen zu bieten hat und wendet sich mit Grausen ab. Die  Abhöraktion gegen die eigene Redaktion war total richtig, insistiert die SZ in eigener Sache. In Berlin kam es laut Jüdischer Allgemeiner zu einer antisemitischen Attacke gegen einen Studenten. In Zeit Online spricht Jewgenija Kara-Mursa über die drakonischen Haftbedingungen ihres Mannes Wladimir Kara-Mursa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.02.2024 finden Sie hier

Europa

"Es ist falsch, von Europa aus auf Washington zu schauen wie auf ein Schicksal", schreibt der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel in einem ganzseitigen Essay für die FAZ. "Selbst ohne die Amerikaner hätten die Europäer die Wirtschaftskraft, das russische Vordringen zu stoppen und der Ukraine zum Sieg zu verhelfen ." Schulze Wessel skizziert in seinem Artikel nochmal die ideologischen Gründe, warum Putin von seinem Krieg nicht ablassen kann. Die neuen europäischen Finanzhilfen für die Ukraine trotz der Obstruktion Ungarns sind für Schulze Wessel ein gutes Zeichen. Europa kann sich für ihn nur pragmatisch und so geeint wie möglich dem drohenden Unheil entgegenstellen und muss Versäumnisse gutmachen: "Viel Zeit ging verloren bei der Bestellung von Rüstungsgütern und speziell Munition. Warum gab es bislang keinen Rüstungsgipfel im Kanzleramt, der die Akteure aus Politik und Wirtschaft an einen Tisch bringt? Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, einen Nationalen Verteidigungsrat zu gründen? Es gibt für die Unterstützung der Ukraine keine 'Wunderwaffe', trotzdem fragt man sich, weshalb sich die Bundesregierung beharrlich weigert, den Marschflugkörper Taurus an die Ukraine zu liefern."

Weniger optimistisch ist man allerdings, wenn man Morten Freidels FAS-Aufmacher über die bedingt abwehrbereite Bundesrepublik liest. Deutschland müsste längst aufrüsten und seine Armee stärken, wenn es einem möglichen russischen Angriff, den Verteidigungsminister Boris Pistorius für plausibel hält, zuvorkommen will. Selbst die Einführung einer Dienstpflicht würde die Armee erstmal zurückwerfen, geschweige denn die Einführung einer Wehrpflicht: "Sollte die Politik sie wiedereinführen, müsste die Bundeswehr jedes Jahr Hunderttausende junge Männer aufnehmen und ausbilden. Dafür fehlen schon die Unteroffiziere. Es fehlen die Kasernen, die Uniformen und die Kreiswehrersatzämter, um die Männer überhaupt zu erfassen. Die Bundeswehr wäre für Jahre mit sich selbst beschäftigt, um all diese Probleme zu lösen. Die Dienstpflicht hätte immerhin den Vorteil, dass die Bundeswehr festlegen könnte, wie viele Rekruten sie braucht. Für 20.000 Leute im Jahr lassen sich schneller Kasernen bereitstellen als für mehrere Hunderttausend. Trotzdem wäre auch die Dienstpflicht eine enorme logistische Herausforderung."   

"Proteste können den Stimmenanteil von Rechtsaußenparteien durchaus negativ beeinflussen", hofft der Politologe Werner Krause im Gespräch mit Dinah Riese von der taz. Den demokratischen Parteien rät er überdies, das Thema Migration zu meiden: "Was Rechtsaußenparteien vor allem hilft, sind mediale Aufmerksamkeit und Framing. Für viele von ihnen ist Migration ein zentrales Thema, das sie wie einen Trichter nutzen: Jedes andere gesellschaftliche Thema muss diesen Trichter passieren, sei es Wohnen, Bildung oder der Arbeitsmarkt. Je präsenter das Thema im Diskurs ist, desto besser für Parteien wie die AfD... Stünde es nicht auf der Tagesordnung, würde der AfD ein Stück weit die Existenzgrundlage wegbrechen." Reden solle man statt dessen "über Integration, über Problemlösungen für den Bildungs- oder Wohnungsbereich". Über die Anti-AfD-Demos vom Wochenende berichten in der taz Benno Stieber und Lilly Schröder.

In der SZ liest Susan Vahabzadeh im AfD-Programm, was die Partei zum Beispiel berufstätigen Frauen zu bieten hat. Sie kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: "Nun ist die gesamtwirtschaftliche Situation in Deutschland und anderswo derzeit so, dass viele Frauen mit Kindern auch mit berufstätigen Lebenspartnern ihrer Arbeit keineswegs als Selbstverwirklichung nachgehen. Die einzige Antwort, die die AfD dafür hat: mehr Kinder, mehr Abhängigkeit, mehr Wille zu traditionellen Geschlechterrollen. Das ist nicht nur rückständig, das ist weltfremd und menschenverachtend."

Im Tagesspiegel-Interview mit Nora Ederer erklärt die Linguistin Ruth Wodak, wodurch sich die Sprache von Rechtspopulisten und Rechtextremisten auszeichnet: "Sehr oft werden vorschnelle Generalisierungen von Eigenschaften ganzer Gruppen vorgenommen. Ihnen wird damit ihre Diversität abgesprochen. Sie werden damit auf Vorurteile reduziert, etwa: 'Die … sind alle faul und können nichts'. Auch Strohmann-Trugschlüsse werden häufig verwendet. In der Migrationsdebatte heißt es zum Beispiel immer wieder: 'Die Grünen/Linken/Gutmenschen wollen alle zu uns hereinlassen.' Dabei steht das in keinem Parteiprogramm. Wenn jemand das aber behauptet, dann bringt er oder sie das Gegenüber in die Defensive. Denn die Behauptung steht ja im Raum und man muss sich nun verteidigen."

Vier Jahre nach Inkrafttreten ist der Brexit mehr oder weniger ein Flop, der von britischen Politikern nicht mehr so gern erwähnt wird, bilanziert FAZ-Korrespondent Johannes Leithäuser. Den Briten war versprochen worden, ihre Inseln künftig nur noch mit 100.000 Neueinwanderern zu teilen, aber es blieb bei 750.000 jährlich. Europäer kommen allerdings seltener als früher: "Während Hunderttausende aus allen Winkeln des einstigen Commonwealth sich auch durch mühsame Visaprozeduren nicht entmutigen lassen, zeigen sich viele Europäer, die einst bürokratiefrei in Großbritannien lernen und arbeiten konnten, ob neuer Hürden verstimmt. Die Zahl deutsch-britischer Schülerreisen und Jugendaustausche ist wegen der Passpflicht für alle und der Visaerfordernisse etwa für türkische oder syrische Mitschüler um drei Viertel gesunken."

Im Zeit Online-Interview mit Anastasia Tikhomirova spricht Jewgenija Kara-Mursa über die erschwerten Haftbedingungen ihres Mannes: "Mein Mann wurde mehrere Monate in einer winzigen Strafisolationszelle gefangen gehalten. Eigentlich darf niemand länger als 15 Tage in einer solchen Zelle ohne Fenster sein. Aber die Gefängnisbehörden haben Wolodjas Strafzelle nach 15 Tagen einfach umbenannt, so galt die Regel nicht mehr. Der Unterschied: Er hatte nun eine kleine Kommode, durfte zwei statt ein Buch aus der Gefängnisbibliothek ausleihen. Ansonsten ließ man ihn nur anderthalb Stunden am Tag Briefe lesen und schreiben und genauso lang spazieren. Der Rest der Zeit war absolut leer. Selbst wenn Wolodja sich tagsüber nur auf einen Hocker gesetzt hat, um kurz die Augen zu schließen und zu meditieren - das Bett wird tagsüber hochgeklappt -, brüllt sofort jemand aus den Lautsprechern, dass man tagsüber nicht schlafen darf. Er steht 24 Stunden am Tag unter ständiger Beobachtung. Das ist Tortur. Die Haftbedingungen im russischen Gefängnissystem sind für einen gesunden Menschen schon ungeheuerlich. Für jemanden mit gesundheitlichen Problemen wie meinen Mann sind diese lebensgefährlich."

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In ihrem neuen Essay "Putins Krieg gegen die Frauen" prangert die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen die Normalisierung sexueller Gewalt gegen Frauen im Ukraine-Krieg an, die vom russischen Staat gezielt eingesetzt wird (Unser Resümee). Im Welt-Interview mit Hannah Lühmann ist sie außerdem fassungslos, dass die UN es nicht mal hinbekomme, die Vergewaltigungen an Frauen durch die Hamas zu verurteilen: "Ich habe keine besonders hohe Meinung von den UN. Was machen die überhaupt? Was Institutionen sagen, ist ein Teil der Veränderung, klar. Aber in gewisser Weise ist es der moralische Kompass in unserem Kopf, der sich verändern muss." Es braucht deswegen, so Oksanen, eine neue Gedenkkultur in Bezug auf die Vergewaltigungen an Frauen: "Mein Thema ist das historische Erinnern, die Frage, wie sich unser moralischer Kompass herausbildet. Unsere Auffassung etwa vom Holocaust ist auch geformt von Filmen, die wir gesehen haben. Von Büchern, die wir lesen. (...) Wenn man jetzt über die genozidalen Vergewaltigungen nachdenkt, muss man sich fragen: Welche Bücher haben wir? Wie viele Filme? Es gibt so viele Bücher über Krieg, über Waffen, über Panzer. … Was ist mit der Waffe der Vergewaltigung?"
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Medien

Die SZ steht nach Berichten des Online-Magazins Medieninsider im Verdacht, ihre eigene Redaktion, immerhin im Einvernehmen mit dem Betriebsrat, abzuhören, um einen "Maulwurf" zu finden, der Informationen nach außen gibt (Unser Resümee). Heute veröffentlicht die SZ ein "In eigener Sache", in der sie sich rechtfertigt. So wurden nach dem Durchsickern von Informationen aus der Redaktionskonferenz Maßnahmen angeordnet: "Wie bei anderen Unternehmen auch gibt es für diesen Fall bei der SZ Regeln, wie vorzugehen ist (...). Diesen Regeln folgend, entschied die Chefredaktion, im Einvernehmen mit dem Betriebsrat, überprüfen zu lassen, ob es Datenverkehr zwischen den IP-Adressen der Redaktion und des Branchendienstes gegeben habe. Diese Überprüfung erbrachte kein Ergebnis, weitergehende Maßnahmen erfolgten nicht. (...) Die gesamte Redaktion wiederum erfuhr in einer vom Ausschuss einberufenen und veranstalteten Redaktionsvollversammlung am 30. Januar von dem Vorgang. (...). Erneut wurden aber auch aus dieser Versammlung vertrauliche Informationen, zum Teil im Wortlaut, nach außen gegeben." Die SZ scheint derweil weitermachen zu wollen: "Das Abhören einer Redaktionskonferenz beziehungsweise die Weitergabe des Wortlauts dieser Konferenz nach außen ist ein Angriff auf das Redaktionsgeheimnis, den wir nicht tolerieren können."

Die Expertin Saba-Nur Cheema hatte für das Bundesinnenministerium einen Bericht über grassierende Muslimfeindlichkeit verfasst. Dagegen hatte der Autor Henryk Broder geklagt, der in dem Bericht kritisiert wurde, er habe "Aufrufe zur Deeskalation und Rücksichtnahme offen verhöhnt und Muslim*innen pauschal als unwissende, ehrversessene, blutrünstige Horden dämonisiert". Vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin hat Broder Recht bekommen, meldet Michael Hanfeld in der FAZ: "Die Qualifizierung Broders im Bericht des Expertenkreises stelle einen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht dar, befand das OVG. Das Urteil über Broder sei erlaubt. Das Innenministerium müsse jedoch deutlich machen, dass dies keine 'amtliche' Position sei. Dieser Pflicht habe das BMI nicht Genüge getan. Im Gegenteil: Auf dem Bericht prangt das Logo des Ministeriums, im Vorwort spricht Ministerin Nancy Faeser davon, es gelte, sich mit den Empfehlungen der Experten ernsthaft auseinanderzusetzen."
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Ideen

Stefan Reinecke schreibt für die taz den Nachruf auf den Soziologen Oskar Negt und attestiert ihm den "geglückten Versuch, Kritische Theorie mit Gewerkschaftsarbeit in der Bundesrepublik der sozialliberalen Ära zu verbinden, die IG Metall mit Adorno". In der FAZ schreibt Jörg Später.
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Stichwörter: Negt, Oskar

Gesellschaft

Der FU-Student Lahav Shapira ist von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen worden, meldet unter anderem die Jüdische Allgemeine, auch auf Twitter kursiert das Thema. Der Kommilitone hatte Shapira in einer Bar erkannt. Shapira hatte sich vor einigen Wochen propalästinensischen Saalbesetzungen in der FU entgegengestellt und mit seinen antiisraelischen Kommilitonen diskutiert. "Zum genauen Tathergang kursieren leicht unterschiedliche Versionen", notiert die Jüdische Allgemeine. "So teilte die Berliner Polizei mit, dem körperlichen Angriff sei ein Streitgespräch zwischen beiden Studenten vorausgegangen. Die Begleitung des Betroffenen und zwei Familienmitglieder widersprechen dem: Lahav Shapira sei bereits hoch aggressiv angesprochen worden, es habe keine politische Diskussion gegeben. Dann habe der Angreifer S. unvermittelt mehrmals ins Gesicht geschlagen, sodass dieser stürzte. Auf den am Boden liegenden Shapira soll der Mitstudent dann eingetreten haben und schließlich geflüchtet sein."

Shapira ist der Bruder des Komikers Shahak Shapira und Enkel des israelischen Leichtathletiktrainers Amitzur Shapira, der beim Münchener Olympia-Attentat von palästinensischen Terroristen ermordet wurde. Shahak Shapira äußert sich auf Twitter:



Tobias Rapp lässt im Spiegel noch mal die erbitterten Debatten um Israel in der Kulturszene Revue passieren. Als Gegner macht er einerseits das kleine Blog Ruhrbarone aus, das von der Mbembe-Debatte bis zur Documenta vieles ins Rollen brachte, andererseits die "weltoffenen" Kulturinstitutionen, die sich nun nicht mehr trauen, ihre postkoloniale Idylle zu veranstalten. Und dann kommt der Aufruf "Strike Germany", der nun auch noch einen Boykott Deutschlands wegen mangelnder Israelkritik fordert. Zu ihren Unterzeichnern gehören die beiden Suhrkamp-Autorinnen Judith Butler und Annie Ernaux. Suhrkamp sagt dazu nichts, und daran soll man sich ein Beispiel nehmen, findet Rapp: "Auf Anfrage will Suhrkamp sich weder zu Butler noch zu Ernaux äußern. Hört man sich im Umfeld des Hauses ein wenig um, heißt es: alles halb so wild. Man habe die Kontroversen um Martin Walsers Paulskirchenrede überstanden, in der er von der 'Moralkeule Auschwitz' sprach. Man halte den Rechtsausleger Uwe Tellkamp aus. Und nun werde man auch diesen Sturm irgendwie überwintern. Was wahrscheinlich eine vernünftige Haltung ist."

Die Wohnungspreise steigen weiter in astronomische Höhen von bis zu 20 Euro pro Quadratmeter für Standardausstattungen. Diese Preise sind auch zu erklären durch den Anstieg der Baupreise - Investitionskosten lassen sich kaum mehr einspielen, schreibt Matthias Alexander im Feuilletonaufmacher der FAZ: "Unter diesen Umständen ist nicht der Rückgang der Wohnungsbauzahlen erstaunlich, sondern eher die Tatsache, dass überhaupt noch gebaut wird. Etliche große Unternehmen, darunter solche der öffentlichen Hand, haben ihre Neubauplanungen bis auf Weiteres komplett eingestellt. Im Getöse um die Signa-Pleite geht fast unter, dass eine ganze Branche dramatische Verwerfungen erlebt. Wer sich etwa unter Architekten umhört, erfährt von Büros mit besten Referenzen, die den Großteil ihrer Belegschaft entlassen haben."
Archiv: Gesellschaft