9punkt - Die Debattenrundschau

Die Nase zuhalten vom üblen Gestank

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2024. Nawalnys Tod wird Putin stärken, glaubt Viktor Jerofejew in der Welt und befürchtet: Bald wird auch der Westen die Beziehungen zu Putin wieder aufnehmen. In der FAS setzt der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergei Guriev auf strengere Sanktionen gegen Russland. Die deutsche Iranpolitik ist mitverantwortlich für das Massaker der Hamas, meint der Politologe Stephan Grigat in der taz. Ebenfalls in der taz blickt der Soziologe Jens Kastner auf die antisemitischen Aspekte in der postkolonialen Theorie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.03.2024 finden Sie hier

Europa

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Viktor Jerofejew, aktueller Roman "Der große Gopnik", stellt in der Welt eine düstere Diagnose. Nawalnys Tod wird Putin stärken, glaubt er: "Putin ist klug genug, um für lange Zeit an der Macht zu bleiben. Bei den bevorstehenden Wahlen im März wird die Opposition wieder einmal die Unrechtmäßigkeit des Präsidenten erklären - aber ihn lässt das kalt. Sollte der russisch-ukrainische Krieg mit einer Kompromissvereinbarung enden, ähnlich dem Ende des Koreakrieges nach Stalins Tod 1953, wird der Westen recht schnell die Beziehungen zu Putin regeln, sich dabei die Nase zuhalten vom üblen Gestank oder auch nicht, denn die Atommacht Russland ist ein riesiges Land und eine permanente Bedrohung, aber zugleich auch eine große Kultur in der Vergangenheit. Die kulturellen Beziehungen zum Westen und dann auch die gesellschaftlichen werden noch vor dem endgültigen Abgang Putins von der politischen Bühne aufblühen. Der Westen hat sich als ebenso unfähig wie Nawalny erwiesen, mit Putin fertigzuwerden. Aber falls Putin aus irgendeinem Grund einen Moment der Schwäche zeigt, wird die zivilisierte Welt ihn mit dem größten Vergnügen verschlingen."

Irgendwann wird Russland frei sein, hofft hingegen der inhaftierte Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Murza, mit dem die Novaya Gazeta Baltic über die Ermordung von Nawalny und Nemzow sprechen konnte: "Man kann die Zukunft nicht aufhalten, egal wie sehr man es versucht. Nicht mit Kugeln, Gift oder Gefängnis. Auch wenn keiner von uns überlebt, werden andere unseren Platz einnehmen. Einige dieser jungen Leute, die im Januar Schlange standen, um Boris Nadeschdin zu unterstützen, sind die Zukunft."

"Je strenger die Sanktionen, desto weniger Tod und Zerstörung in der Ukraine", schreibt auf den Wirtschaftsseiten der FAS der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergei Guriev, der vorrechnet, dass die Sanktionen gegen Russland sehr wohl Wirkungen zeigen. Während Putin "das Geld ausgeht, die Ausgaben für Bildung, Gesundheitswesen und Infrastrukturinvestitionen weiter kürzen. Dies wird jedoch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung erhöhen, sodass mehr Geld für die Bereitschaftspolizei ausgegeben werden muss. In jedem Fall wird die Beschränkung der Geldmenge in Putins Taschen seine Fähigkeit zur Zerstörung der Ukraine verringern. Putins Krieg in der Ukraine ist ein heißer Krieg, der auf dem Schlachtfeld gewonnen werden muss. Die Ukraine braucht Waffen und Geld. Aber es ist auch ein Wirtschaftskrieg, in dem Sanktionen den Krieg für Putin noch teurer machen können und sollten."

Weshalb Olaf Scholz der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern eine Absage erteilt hat, kann Wladimir Klitschko im Welt-Gespräch beim besten Willen nicht verstehen: "Die Zögerlichkeit und Unentschlossenheit immer wieder aufs Neue ertragen zu müssen, ist wirklich frustrierend. Es ist auch schlecht für unsere Demokratie, für unsere Werte, für unser Leben. Zum jetzigen Zeitpunkt kann der Westen Putin noch relativ billig in der Ukraine Paroli bieten. Nämlich ohne dass beispielsweise deutsche Soldaten dabei ums Leben kommen. Aber wenn wir uns in der freien Welt nicht stärker mobilisieren, wird es bald zu spät sein. Dann werden die Kosten später sehr viel höher sein. Ich spreche jetzt nicht nur von finanziellen Kosten, sondern von Menschenleben. Heute ist es noch billig: Wir Ukrainer erledigen den Job, geben Sie uns die dafür nötigen Waffen, wir erledigen den Job."

Ebenfalls in der Welt zerlegt Klaus Wittmann die Bedenken gegen eine Tauruslieferung, etwa die Behauptung "Taurus-Marschflugkörper könnten bis nach Moskau fliegen. Irrelevant, denn die Ukraine hat bisher noch jede mit der Lieferung besonderer Waffensysteme verbundene Auflage eingehalten, besonders die Verpflichtung, sie nicht gegen russisches Gebiet einzusetzen. Dass man deutscherseits offenbar Kiews Zusicherung nicht glaubt, ist schmählich."
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Politik

Die deutsche Iran- und Nahostpolitik sei mitverantwortlich für den 7. Oktober, meint der Politologe Stephan Grigat in der taz, denn die Mordaktionen der Hamas "waren nur durch jahrelange Unterstützung aus Teheran möglich, und die Voraussetzung für diese Unterstützung waren unter anderem die Milliardengeschäfte deutscher Unternehmen mit dem iranischen Regime, die in den vergangenen Jahrzehnten von ausnahmslos allen deutschen Parteien und Regierungen gefördert wurden." Und: "Die Weigerung der Bundesregierung, die iranischen Revolutionsgarden auf jene Terrorliste zu setzen, auf die sie schon seit Jahrzehnten gehören, lässt dem Regime weiterhin freie Hand - auch nach dem 7. Oktober. Das iranische Regime ist immer noch mit Zentren, Moscheen und Kulturvereinigungen in Deutschland präsent. Die Vernichtungsaktion vom 7. Oktober wurde in sämtlichen Medien des Regimes als vorbildliche Tat gepriesen - aber zu keinem Augenblick wurde in Deutschland erwogen, zumindest den Botschafter eines solchen Regimes aus dem Land zu werfen und neue umfassende Sanktionen zu verhängen, die den ökonomischen Lebensnerv Irans treffen und letztlich auf den Sturz des Regimes zielen müssten. Solange es zu keiner 180-Grad-Wende in der deutschen Politik gegenüber dem Holocaustleugner-Regime in Iran kommt, ist das ganze Gerede von der Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson genauso hohle Rhetorik wie die formelhaften Beschwörungen eines 'Nie wieder' und 'Wehret den Anfängen'."
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Ideen

Buch in der Debatte

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Den BDS hält der israelische Historiker Moshe Zimmermann, der gerade das Buch "Niemals Frieden? Israel am Scheideweg" veröffentlicht hat, nicht für "per se antisemitisch", die deutsche Staatsräson für eine "hohle Phrase". Aber auch an der postkolonialen Sicht des Nahostkonflikts übt er im taz-Gespräch Kritik: "Der Zionismus entstand nicht als Kolonialbewegung. Er war national motiviert. Ihm Zugrunde liegt der Wunsch von Juden, sich als Nation zu definieren. Dieser Wunsch ist legitim. Die Auswanderer nach Palästina waren - wie ich im Buch betone - keine Gesandten eines europäischen Imperiums, sondern sie waren Verfolgte und Vertriebene, die gezwungen waren, Europa zu verlassen. Das ist eine Situation, die man nicht eine typisch kolonialistische nennen kann, und deswegen ist diese pauschale postkoloniale Betrachtung des Zionismus im Nahen Osten oder Israel mindestens undifferenziert und im Endeffekt auch unfair. Der Kampf der zionistischen Bewegung gegen die englische Mandatsmacht war sogar ein Kampf gegen Kolonialismus. Die postkoloniale Leseart der Siedlungsbewegung im Westjordanland seit 1967 halte ich, im Gegensatz, für berechtigt."

Ebenfalls in der taz blickt der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner auf antisemitische Aspekte in der postkolonialen Theorie, die er etwa im Buch "Epistemischer Ungehorsam" des argentinischen Literaturwissenschaftlers und dekolonialistischen Theoretikers Walter D. Mignolo ausmacht: "Zu den Denkern, die die 'Dekolonialität klar formuliert' hätten, zählt Mignolo in einer Nebenbemerkung auch den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini. Chomeini ist bekanntlich für die Inhaftierung Zehntausender und die Exekution von Tausenden Gegner:innen der Islamischen Revolution verantwortlich. Mehrfach hatte er Israel als 'Krebsgeschwür' bezeichnet und zu dessen Vernichtung aufgerufen. Ein weiterer dieser 'islamischen Denker', auf die Mignolo sich en passant beruft, ist Sayyid Qutb (1906-1966). Der islamistische Theoretiker hatte die ägyptische Muslimbrüderschaft stark beeinflusst und in seinem Pamphlet 'Unser Kampf mit den Juden' (1950) wüste Verschwörungstheorien verbreitet. Diese gipfeln in der Behauptung, 'Allah hat Hitler gebracht, um sie [die Juden] zu beherrschen'. Chomeini und Qutb spielen im Werk Mignolos, das muss zu seiner Verteidigung betont werden, ansonsten keine Rolle. Umso mehr muss es daher verwundern, dass er deren Schriften neben anderen dekolonialen Perspektiven als entscheidend 'für die Entwürfe einer globalen Zukunft' einstuft."
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Medien

Im FAZ-Gespräch bezieht Correctiv-Geschäftsführer David Schraven deutlich Stellung zu den Vorwürfen, Correctiv habe Meinungen statt Fakten verbreitet und zur Propaganda der Rechten: "Wir wurden in einen Konflikt gezwungen, den wir nicht wollten, einen Konflikt, in dem es nicht mehr um die Integrität der Fakten geht, sondern um irgendwelche Belanglosigkeiten, die auf breiter Ebene dazu dienen sollten, den Diskurs zu setzen. Wenn ich mir angucke, wie die Rechtsanwälte der Kanzlei Höcker über Instagram oder Twitter arbeiten, da wird viel Aufwand betrieben. Wir wollen diesen Konflikt nicht. Wir wollen, dass die Leute sich die wesentlichen Sachen angucken: Millionen Menschen sollen vertrieben werden, wenn es nach diesem Masterplan geht. Uns ist sehr wichtig, dass wir diesen Nebenpfad verlassen. Wir müssen zu der wesentlichen Diskussion zurückkehren. Deshalb ist dieses Urteil so hilfreich, weil es klarstellt, dass der Versuch gescheitert ist, auf diese Nebengleise abzugleiten."

Ebenfalls in der FAZ beleuchtet Frauke Steffens ein besonderes edles Plätzchen: Das New Yorker People's Forum, ein Treffpunkt linker Aktivisten am Times Square, dank dem in Schanghai ansässigen amerikanischen Multimillionär Neville Roy Singham eine der reichsten Vereinigungen der außerparteilichen Linken. Zwischen Reisschnaps und Espresso, Marx-Schulungen und Gebärdensprachkursen wird hier das Hamas-Massaker als "Befreiungskampf" gefeiert und Judenhass geschürt. Überraschend sei zudem "wie intensiv das Mediennetzwerk um das People's Forum mit chinesischer Parteipropaganda befasst ist. ... Breakthrough News publiziert regelmäßig Talkshow-Formate, in denen Aktivisten die immer gleichen Behauptungen wiederholen: China sei ein Modell für Sozialismus, ein wunderbarer Partner für Afrika, eine formidable Alternative zur US-amerikanischen Hegemonie - und es werde von den Amerikanern immer mehr in einen hybriden Krieg gedrängt. Taiwan ist in dieser Erzählung selbstverständlich ein Teil von China, der von den Vereinigten Staaten als 'Flugzeugträger' missbraucht werde. Und in der Region Xinjiang gebe es keine Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren - sondern ein friedliches Zusammenleben mit neuen Chancen für die Bevölkerung."
Archiv: Medien

Gesellschaft

99,5 Prozent der amerikanischen Eliteuniversitäten seien links orientiert, und als progressiv gelte alles, was sich um Identitäten dreht, also "Rassen", Ethnien, Gender und LGBTQ, beklagt der in den USA lehrende Soziologe Andreas Wimmer im NZZ-Gespräch. Dabei sei die wirtschaftliche Ungleichheit viel maßgeblicher: "Die Aspekte Einkommen, Vermögen und die Verteilung von Bildungschancen sind für das Verständnis der USA zentral. Wenn man Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft untersuchen will, ist das wichtigste Kriterium immer noch die Schichtzugehörigkeit, also Klasse, und nicht Rasse oder Geschlecht. Es sind bezeichnenderweise vor allem schwarze Forscher, die auf diesem Punkt insistieren, zum Beispiel der Politologe Adolph Reed aus marxistischer Sicht oder aus liberaler Perspektive der Soziologe William Wilson. Denn einerseits ist es für weiße Akademiker politisch gefährlich, sich dem herrschenden Rasse-Diskurs entgegenzustellen, andererseits ist es für afroamerikanische Forscher frustrierend, dauernd bloß als Repräsentanten der schwarzen Bevölkerung auftreten zu müssen. Es ist auch eine Entwertung ihrer Individualität und ihrer eigenen Leistung, wie der Linguist John McWorther in seinem Buch 'Die Erwählten - Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet' betont."
Archiv: Gesellschaft