9punkt - Die Debattenrundschau

Donald Trumps Schwestern im Geiste

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2024. Judith Butler möchte gern die Beweise für die Vergewaltigungen am 7. Oktober sehen und überprüfen. In der Welt rechnet Mirna Funk mit den Feministinnen der dritten Welle ab, die zu den Vergewaltigungen der Hamas schweigen. Die FAZ erklärt, warum vor allem weibliche Politiker den Rechtspopulismus in Europa und den USA befeuern. Die FR beklagt die Lage palästinensischer Frauen in Gaza. Kurz: Man hat schon bessere Weltfrauentage erlebt. Außerdem berichtet Andreas Umland in der Welt über die systematische Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2024 finden Sie hier

Ideen

Wer dachte, Judith Butler hätte den absoluten Tiefpunkt der Debatte erreicht mit ihrer Behauptung, die Hamas-Massaker am 7. Oktober an israelischen Zivilisten seien ein Akt des Widerstands gewesen (unser Resümee), hat sich getäuscht. In ihrem Pariser Vortrag bezweifelte sie auch, dass Vergewaltigungen stattgefunden hätten: Dafür wolle sie erst mal die Beweise sehen. (Die UNO hat lange gebraucht, "berechtigten Grund für die Annahme" zu finden, dass sexuelle Gewalt stattgefunden hat, sie hat inzwischen aber einen entsprechenden Report veröffentlicht, eine Zusammenfassung finden Sie hier). Butler erklärte nun bei ihrem Auftritt: "Whether or not there is documentation for the claims made about the rape of Israeli women (*sie verzieht das Gesicht*), OK, if there is documentation then we deplore that, but we want to see that documentation and we want to know that it is right." Ein Incel, der einen Vergewaltigungsvorwurf bestreitet, hätte das genauso formuliert.


Auch dies ist eigentlich nichts, was man am Weltfrauentag lesen will, aber leider Realität: Eva Ladipo überlegt in der FAZ, welchen Anteil Frauen (Alice Weidel, Marine LePen, Giorgia Meloni, Isabel Diaz Ayuso, Riikka Purra, Suella Braverman und Priti Patel, Nikki Haley) am Höhenflug des rechten Populismus haben: "Ausländerfeindliche Politik, gespickt mit Ressentiments gegen vermeintliche Eliten, hat einen immensen Aufschwung erfahren, seit sie keine reine Männerdomäne mehr ist und nur von glatzköpfigen Kerlen mit Springerstiefeln vertreten wird." Ihre Wut und Ressentiments verkleiden diese Politikerinnen gerne als Sorge um ihre Kinder, so Lapido, was sie sympathischer wirken lässt. Und weil Frauen eh so emotional sind, können sie gern auch mal für (wenn es gegen Migranten geht), mal gegen den Feminismus sein (wenn es gegen LGBTQ-Rechte geht). "So gesehen besitzen rechte Politikerinnen größere Bein- und Bewegungsfreiheit als ihre männlichen Kollegen. Sie geraten weniger schnell in Verruf und können sich Widersprüche leisten. Ihre wachsende Anhängerschaft scheint nicht zu stören, dass weder die lesbisch lebende Alice Weidel noch die zweimal geschiedene Marine Le Pen oder die alleinerziehende Giorgia Meloni das traditionelle Familienbild leben, das sie hochhalten. Der Vorwurf der Heuchelei kann Donald Trumps Schwestern im Geiste nichts anhaben. Im Gegenteil: Je widersprüchlicher ihre Positionen, desto menschlicher und wählbarer wirken sie."

In Geschichte der Gegenwart denkt der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer über die juristische Bedeutung des Wortes "Genozid" nach. "Als jemand, der sich, ohne ausgebildeter Jurist zu sein, seit über zwanzig Jahren mit Verwendungen des Genozid-Wortes beschäftigt, tendierte ich bis vor wenigen Wochen zum resignativen Ergebnis, dessen juristische Bestimmung sei zunehmend unklarer geworden und seine implizite politische Funktion habe sich entleert. Einige Etappen, die mich dazu geführt haben, seien hier kurz rekapituliert." Das tut Stockhammer dann auch und hofft am Ende, dass die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem IGH wieder etwas mehr Klarheit bringt.

Der "Global Assembly", die ihre Veranstaltung aus Sorge als antisemitisch gebrandmarkt zu werden, abgesagt hatte, hat offenbar die Courage gefehlt (unser Resümee), meint der Historiker Moshe Zuckermann in der FR. Aber gab es überhaupt Vorwürfe gegen die Veranstaltung? Für Zuckermann jedenfalls ist auch so klar, dass sich Martin Walsers "Auschwitz-Keule" inzwischen bewahrheitet, da "sich der Antisemitismus-Vorwurf im öffentlichen Diskurs Deutschlands immer mehr verdinglicht hat und mittlerweile zum regelrechten Fetisch der ihn Erhebenden geronnen ist… Mit Antisemitismusbekämpfung hat dieses Diktum längst nichts mehr zu tun, mit der zynischen Maulkorb-Taktik der sich in ihrer Rolle offenbar sehr gefallenden 'Antisemiten'-Jäger dafür umso mehr."

Im FR-Gespräch mit Michael Hesse betont die Philosophin Kristina Engelhard die Aktualität von Kant: "Kant ist der Meinung, dass es unsere Aufgabe als Menschen ist, unsere Vermögen zu entwickeln, also einen höheren kulturellen Status zu erreichen, gerade indem wir in der Lage sind, von unseren individuellen Neigungen abzusehen. Was er als Kultivierung bezeichnet, sieht er als einen fortschreitenden Prozess. Ein wichtiger Auftrag, besonders wenn man die zahlreichen Krisen unserer Gegenwart betrachtet. Wir leben in einer Zeit, in der die negativen Seiten des Partikularismus offensichtlich sind, beispielsweise in zunehmenden internationalen Konflikten und Umweltkrisen, die ihren Ursprung in Partikularinteressen haben. Daher ist Kants Auftrag, von den eigenen Interessen zu abstrahieren und stattdessen unsere Fähigkeiten als handelnde Subjekte in den Blick zu nehmen, d. h. uns bewusst zu werden, dass wir fähig sind, vernünftig, auf der Grundlage unseres sichersten Wissens und unter der Maßgabe von Moralität und Freiheit zu handeln, von unschätzbarem Wert."
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Gesellschaft

Auch die Welt bringt einige Beiträge zum Weltfrauentag, darunter einen Text von Mirna Funk, die mit jenen Feministinnen der dritten Welle abrechnet, die bis heute kein Wort über die brutalen Schändungen der Hamas an Frauen verloren haben: "Während es sonst wegen jedes falsch angewendeten Pronomens von den Feministinnen dieser Welt lautes Aufbegehren gab und man selbst wegen der Mikroaggression 'Auf den Po starren' sofort mit einer Cancel-Fackel durch die Gegend jagte, kam es nach dem 7. Oktober zu keinem kollektiven Schweigen. Das liegt insbesondere daran, dass die aktuell führenden feministischen Bewegungen marxistisch-anti-imperialistisch geprägt sind. Und für sie gibt es nur Unterdrücker und Unterdrückte und den Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Dieser Kampf darf mit allen Mittel geführt werden. Und weil die Israelis die Unterdrücker sind, sind die Israelinnen, denen man in ihre Genitalien schoss auch nur gemeine Unterdrücker, die den 'Befreiungsvergewaltigungen' zum Opfer fielen."

Ebenfalls in der Welt ergänzt Anna Staroselski, Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft: "Das Trauma jüdischer Frauen findet keine Anerkennung. Dieser Schmerz und diese Ungerechtigkeit sind kaum auszuhalten. Seit dem 7. Oktober kämpfen jedoch jeden Tag mutige Frauen dafür, den ermordeten und misshandelten Frauen ihre Würde und den ihnen zustehenden Respekt einzufordern und zurückzugeben. Und sie zwingen die Welt, hinzuschauen."

In der FR macht Maria Sterkl derweil auf das Schicksal der Frauen in Gaza aufmerksam: "Besonders schwer betroffen sind die mehr als 50.000 Schwangeren in Gaza. Die anhaltende Unterversorgung mit Nahrung und sauberem Wasser führt laut Angaben der Al-Helal-Geburtenklinik zu einem gehäuften Auftreten von Fehlgeburten und Stillgeburten. Viele Babys kommen aufgrund von Komplikationen so früh auf die Welt, dass sie nicht am Leben erhalten werden können. Laut UN-Angaben bringen jeden Tag durchschnittlich 180 Frauen in Gaza ein Kind zur Welt. Humanitäre Helferinnen erzählen von Entbindungen unter schwersten Bedingungen - im Freien, in öffentlichen Toiletten, in überfüllten Massenlagern."
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Europa

"Zwischen dem 24. Februar 2022 und heute hat Russland mindestens 19.546 unbegleitete ukrainische Kinder und Jugendliche innerhalb der besetzten Gebiete der Ukraine verschleppt oder nach Russland deportiert", weiß der Osteuropa-Spezialist Andreas Umland, der in der Welt Putins "demografischen Eroberungsfeldzug" nachzeichnet: "In den Jahren 2022 und 2023 wurden in Russland Gesetze und andere Rechtsakte verabschiedet, um die Assimilierung ukrainischer Kinder zu erleichtern. Diese Regelanpassungen haben dazu geführt, dass laut eines Berichts der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kinder 'praktisch kein Mitspracherecht bei dem gesamten Prozess [des Wechsels der Staatsangehörigkeit] haben, und dasselbe gilt für ihre Eltern oder andere (ursprüngliche) Erziehungsberechtigte in Fällen, in denen Kinder von ihnen getrennt wurden'. Mit der Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft haben Adoptiveltern ukrainischer Kinder Anspruch auf 'soziale Garantien', das heißt Zugang zu staatlichen Subventionen. Dies schafft für russische Bürger auch finanzielle Anreize für Adoptionen. Nach dem russischen Familiengesetzbuch sind adoptierte Kinder biologischen Kindern der Eltern gleichgestellt. Damit ist unter anderem eine Änderung des Namens sowie Geburtsdatums und -ortes des Kindes durch die Adoptiveltern möglich."

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Die SZ bringt einen aktualisierten Essay aus Rafik Schamis im Jahr 2021 erschienenem Buch "Gegen die Gleichgültigkeit". "Die Gleichgültigen sind die schlimmsten Feinde der Demokratie", schreibt Schami gerichtet an Demokratien, die mit Diktaturen Geschäfte machen, aber auch gegen Rechtspopulisten, Stichwortgeber und Mitläufer: "Der Aufstieg der Rechten in diesem Land baute weitgehend auf dem bereits existierenden Fremdenhass und der Gleichgültigkeit weiter Teile der Gesellschaft auf. Das geschah weder plötzlich noch überraschend. Medienerfahrene Angstmacher waren die besten Helfer. Prominente, die viele im Nebel der verbalen Beteuerungen für Linke gehalten hatten, erwiesen sich im Gegenteil als Stichwortgeber für die AfD. So wurde beispielsweise der Begriff 'Lügenäther', den Peter Sloterdijk 2016 prägte und auch später noch verteidigte, zum Wegbereiter des Lügenpresse-Begriffs."

Ukrainische Kriegsopfer warten seit zwei Jahren darauf, etwas von den zwei Milliarden Pfund zu sehen, die der erzwungene Verkauf des FC Chelsea durch seinen Besitzer, den russischen Oligarchen Roman Abramowitsch eingebracht hat, berichtet Stefan Boscia in Politico. "Stattdessen, liegt das Geld auf einem eingefrorenen Londoner Bankkonto, an das weder die britische Regierung noch der frühere Besitzer des Klubs kommen. Die Frage ist, wie das Geld in Bewegung gebracht werden kann, ohne jahrhundertealte Präzedenzfälle zu zerreißen, in denen der westliche kapitalistische Grundsatz verankert ist, wonach Enteignung vor einer Verurteilung illegal ist. Bislang wurde Abramowitsch noch nicht wegen einer Straftat angeklagt, obwohl er im März 2022 formell sanktioniert wurde, weil er angeblich von seinen engen Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin profitiert und zur Kriegskasse des Kremls beigetragen hat. Das bedeutet, wenn die Politiker den guten Ruf Britanniens für internationale Investoren bewahren wollen, brauchen sie die Zustimmung des Milliardärs, um das Geld zu verteilen. Dies bringt die britischen Behörden jedoch in ein Dilemma: Abramowitsch verlangt, dass ein Teil der Gelder auch an russische Opfer fließen soll. Die Optik eines solchen Zugeständnisses ist für die Behörden alles andere als angenehm. Daher der Stillstand."

Jene Russen, die wider alle Gefahren öffentlich um Alexej Nawalny trauerten, sind enttäuscht über fehlende Unterstützung aus Europa, konstatiert Michael Thumann in seiner Zeit Online-Kolumne. Denn: "Die europäische Politik hat bisher kein Konzept, keine Idee und oft noch nicht mal praktische Vorschläge, wie man den russischen Bürgern helfen kann, die nicht mit dem Putin-Regime einverstanden sind." Inzwischen lassen die öffentlichen Proteste nach: "An den Metroausgängen zum Repressionsdenkmal am Moskauer Gartenring standen FSB-Beamte und fotografierten jeden, der Blumen brachte. Am Borissowskoje-Friedhof wurde ebenfalls fleißig gefilmt. Die Verhaftungen, erst Einzelfälle, geschehen nun regelmäßig. Die Menschen kommen nur noch spärlich. Stück für Stück erobert sich die Macht die totale Kontrolle über den öffentlichen Raum zurück. Mit nachträglichen Verhaftungen und Strafverfahren ist zu rechnen. Die hat es schon vor zwölf Jahren nach den Bolotnaja-Aufständen in Moskau gegen die gefälschte Wahlen gegeben. Putin hat da Erfahrung. Seine Rache kommt auf Raten, aber sicher."
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Politik

Nachdem der Staat Nicaragua Deutschland vorgeworfen hat, es leiste Beihilfe zu israelischen Kriegsverbrechen sowie zu einem israelischen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen, muss sich Deutschland nun vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten. Die Erfolgsaussicht der Klage dürfte allerdings mäßig sein, erfährt Ronen Steinke in der SZ von dem deutsch-britischen Völkerrechtler Stefan Talmon: "Für den Vorwurf des Völkermords brauche es den klaren Beleg einer entsprechenden Absicht, und auch sonst seien die Hürden sehr hoch. 'Ganz sicher' werde der IGH nicht dem Wunsch Nicaraguas entsprechen, Deutschland zu verbieten, generell weiter Waffen an Israel zu liefern, meint Krajewski. 'Denn es bleibt ja dabei, dass Israel grundsätzlich ein Selbstverteidigungsrecht hat.' Aber: In der Zwischenzeit biete der Gerichtssaal eine große Bühne, um politischen Druck aufzubauen auf Deutschland und andere Unterstützer Israels."
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