9punkt - Die Debattenrundschau

Kritiklos hingenommene Ermächtigungsphrasen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2024. Es ist "absoluter Unsinn", dass die arabische Seite im Krieg von 1948 nur Opfer der Israelis war, sagt der Historiker Benny Morris in der taz. In der FR behauptet der Nahostexperte Olivier Roy, die zivilen Opfer in Gaza seien der israelischen Regierung egal. Auch die Welt analysiert das Gutachten Christoph Möllers' zur Kunstfreiheit. Die FAS fragt, warum Frauenfeinde attraktiv für Jugendliche sind. Die pädagogische Rhetorik, mit der Steinmeier und Scholz bei ihren Leipziger Reden auf Zwischenrufer reagierten, ist nicht demokratisch, sondern bieder repressiv, meint auch die FAS.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.03.2024 finden Sie hier

Politik

Buch in der Debatte


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Im taz-Interview mit Till Schmidt spricht der israelische Historiker Benny Morris über seine Forschungen zum arabisch-israelischen Krieg 1948, die er in einem Buch zusammengefasst hat. Als Teil der "Neuen Historiker" war er einer der ersten, die die offizielle zionistische Darstellung kritisch aufarbeiteten und das "klassische" Narrativ ("Die Araber griffen an, die Juden verteidigten sich. Die Araber waren böse, wir waren nett und agierten heroisch.") in Frage stellten. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit der Verklärung des Konfliktes von arabischer Seite: "Die Behauptung, die Palästinenser und die Araber seien jederzeit nur 'Opfer' fremder Aggressionen gewesen und hätten keine Handlungsmacht gehabt, ist absoluter Unsinn. Denn in jeder Phase des Krieges, aber auch schon vor 1948, erhoben sich Palästinenser und griffen Juden an. In den 1920ern verübten sie eine Reihe von Pogromen. Die arabische Seite lehnte die Peel-Kommission und deren Empfehlungen für eine Zweistaatenlösung von 1937 ab; genauso die von der UN-Generalversammlung 1947 vorgeschlagene Zweistaatenlösung. Schließlich begann die arabische Seite den Bürgerkrieg und griff Israel in Folge seiner Unabhängigkeitserklärung 1948 an, um den jüdischen Staat ungeschehen zu machen."

Trotz erdrückender Beweislast werden die Sexualverbrechen, die die Terroristen der Hamas am 7. Oktober begangen haben, weiter geleugnet oder zumindest heruntergespielt, ärgert sich Birgit Schmid in der NZZ. Unter anderem drehen sich die Diskussionen nun darum, ob die Gewalt gezielt als Kriegswaffe eingesetzt wurde: "Wenn nun darüber gestritten wird, ob die Gewalt 'zufällig' oder 'systematisch' war, ist das zynisch. So wird Leid relativiert. Entsprechend fragwürdig ist das Vorgehen der Uno. Die Uno ist jene Organisation, die zwei Monate brauchte, um die sexualisierte Gewalt durch die Hamas zu verurteilen. UN Women, ihrer Frauenrechtskommission, lag von Beginn des Kriegs an mehr am Leid der Palästinenserinnen in Gaza als daran, das Massaker der Hamas an israelischen Frauen und Mädchen auch nur zu erwähnen. Das eine soll nicht gegen das andere abgewogen werden. Aber es bleibt augenfällig, wie offenbar nicht jedes Opfer gleich viel Mitgefühl verdient."

Israels Regierung sind die zivilen Opfer im Gaza-Streifen egal, sagt der Nahost-Experte Olivier Roy im FR-Interview mit Michael Hesse. Die Bodenoffensive in Rafah wird stattfinden, prophezeit er außerdem, auch, weil eine "echte Gegenreaktion" der internationalen Gemeinschaft ausbleiben wird. Eine zumindest kurzfristige israelische Besatzung nach dem Krieg hält er für unausweichlich: "Solange die derzeitige Regierung in Israel an der Macht ist, wird die Besatzung andauern. Die Politik der rechten Regierung besteht darin, die Zivilbevölkerung zu erschöpfen und zu zermürben, um einen Exodus auszulösen. Die israelische Seite hat nicht die Absicht zu verhandeln, denn die einzig mögliche politische Lösung ist die Zweistaatenlösung, und die israelische politische Rechte ist völlig gegen diese Idee. Das erste Problem ist also ein Regierungswechsel in Israel, aber das könnte nicht ausreichen."

Justus Bender benennt in der FAS das Dilemma der liberalen Demokratie in Bezug auf den Umgang mit demokratiefeindlichen Parteien wie der AfD. Nur mit viel Bedacht kann eine Demokratie gegen solche Kräfte vorgehen, so Bender, denn oft spielt die Empörung über extremistische Aussagen ihren Urhebern lediglich in die Hände: "Man muss das einmal mit den Augen eines Extremisten betrachten: Kaum sagt er, was er denkt, zerlegt sich die Gesellschaft vor seinen Augen. Das bestätigt natürlich jedes Vorurteil über eine schwächliche Staatsform, die Minderheiten nur schützt, wenn sie ihr in den Kram passen." Gegenmaßnahmen müssten mit Vorsicht getroffen werden: "Wer in der liberalen Demokratie repressive Härte gegenüber der AfD fordert, darf also nicht vergessen, wie viel Genauigkeit und Klarheit dafür notwendig sind. Sonst wird die Republik von denen mitbeerdigt, die sie eigentlich verteidigen wollen. Das ist die Misere der wehrhaften Demokratie."
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Kulturpolitik

Marcus Woeller schaut sich für die Welt auch noch einmal das von Claudia Roth in Auftrag gegebene Gutachten des Juristen Christoph Möllers über etwaige präventive Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus an (unsere Resümees). Viel gebracht hat die Untersuchung nicht, stellt Woeller fest: "Dieses Gutachten löst für Claudia Roth die Probleme nicht, und ebenso wenig für die Landesminister. Ein gesetzlich verankertes Kunstrichtertum kann niemand wollen. Mit Gesetzen, Verwaltungsvorschriften, Klauseln wird dem Kulturbetrieb der inhärente Antisemitismus nicht ausgetrieben werden können. Der Entzug von Fördergeldern ist ein Druckmittel, dass Roth bislang gescheut hat. Die Herausforderungen beginnen also jetzt erst. Vertrauen und Verantwortung sind die Stichwörter: Das Vertrauen des Staats und damit der demokratischen Öffentlichkeit in die von ihm geförderten Institutionen kann nur bewahrt werden, wenn letztere sich ihrer Verantwortung wieder bewusst werden. Ein erster Paradigmenwechsel wäre, wenn die Kunstfreiheit nicht von Kulturschaffenden selbst zu weithin kritiklos hingenommenen Ermächtigungsphrasen ausgehöhlt würde."

An die Stelle der in vieler Hinsicht mangelhaft arbeitenden Beratenden Kommission zur NS-Raubkunst tritt nun eine Schiedsgerichtsbarkeit aus Experten, was Hannes Hartung in der Welt nur begrüßen kann: "Die Entscheidungen dieses Schiedsgerichts sollen gerichtlich überprüfbar sein und damit in einen verbindlichen rechtsstaatlichen Rahmen kommen. Das bedeutet nichts anderes als einen Paradigmenwechsel in Deutschland im Umgang mit Raubkunst. Bislang waren die Anspruchsteller darauf angewiesen, dass das Museum, in dessen Besitz sich ein fragliches Kunstwerk befindet, einem Verfahren um Rückgabe bei der Kommission zustimmte, was oft nicht der Fall war. Kernpunkt des neuen Verfahrens ist indes die Möglichkeit, auch gegen den Willen des gegenwärtigen Besitzers das Schiedsgericht einseitig anzurufen."
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Gesellschaft

Im Anschluss an Frank-Walter Steinmeiers am Rande von "Palästina"-Brüllern gestörte, literarisch grundierte Rede auf der Leipziger Buchmesse zum Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland diskutierten die Schriftsteller Ingo Schulze, Anne Rabe und Marcel Beyer zum Thema - und langweilten damit offenbar eher. Es ging um "Gerechtigkeit, Kapitalismus, Landflucht, Rechtsradikalität, den Volksbegriff, die Verfassung, Zivilcourage, Freiheit, also everything everywhere all at once", schreibt Jan Wiele auf FAZ.net. "Das wirkt dann an diesem ohnehin schon strapaziösen Abend wirklich etwas viel. Und es bleibt, bei allem Verständnis für Anekdoten-Empirie, einfach zu disparat." Alexander Cammann von Zeit Online musste schon bei Steinmeiers Rede mehrfach gähnen, deren "realitätsferne, sonntagspredigthafte Rhetorik" auch nur in etwa dem entspricht, wie seit 1990 zum Thema gesprochen wird. "Steinmeier ist nicht der einzige Spitzenpolitiker, Ost wie West, der ein bestimmtes ritualisiertes, mittlerweile einschläferndes Sprechen über Ost und West nicht durchbrechen kann. Ähnlich erging es dem Schriftstellertrio, das nach der Rede eher ratlos diskutierte" und "recht unkoordiniert durch die deutschen Zustände ruderte. ... Kein Fanal also, der Weckruf blieb aus bei dieser Rede, an diesem Abend. Auch Frank-Walter Steinmeier wird uns nicht retten."

Die beschwichtigende bis pädagogische Rhetorik, mit der Steinmeier und Scholz bei ihren Leipziger Reden auf Zwischwnrufer reagierten, mag staatsmännisch und demokratisch besonnen wirken, aber demokratisch ist sie eigentlich nicht, sondern vielleicht am ehesten noch bieder repressiv, meint Julia Encke in der FAS. "Denn Demokratie bedeutet auch Störung und Provokation - und gegebenenfalls eben auch Spaltung. Natürlich war das laute Dazwischenrufen in Leipzig dem Bundeskanzler und den meisten Zuhörern lästig, aber selbstverständlich lag es im demokratischen Rahmen, auch wenn die Störer damit rechnen mussten, von Ordnern aus dem Gewandhaus gewiesen zu werden. Dass Demokratie auch offen ausgetragener Dissens ist, führen die aktuellen gesellschaftlichen Debatten ja leb- und oft auch schmerzhaft vor Augen."

Constanze von Bullion hat für die SZ Lahav Shapira besucht, der sich immer noch von der Prügelattacke eines Kommilitonen erholt, der ihn krankenhausreif geschlagen hatte, vermutlich aus antisemitischen Motiven. Shapira geht mittlerweile mit einem Bodyguard in die Universität, berichtet Bullion: "Anderthalb Monate sind seither vergangen, zwei Leben sind aus der Bahn geraten. Lahav Shapira will jetzt zurück ins Studium, irgendwie. Der Tatverdächtige soll exmatrikuliert werden, findet er, und die Universität soll die Sicherheit jüdischer Studenten garantieren. Ein Verein hat ihm jetzt einen Personenschützer zur Seite gestellt, ein freundlicher Kerl mit einem wilden Tatoo. Angst? Lahav Shapira schüttelt den Kopf. Nicht vor denen."

Warum sind Maskulinisten wie Andrew Tate eigentlich so erfolgreich, will Joshua Schößler in der FAS wissen. Gerade für Jugendliche sind die Identitätsangebote gefährlich, der ausgestellte finanzielle Erfolg und die vermeintliche Unverletzbarkeit sind für sie verlockend, sagt die Publizistin Veronika Kracher und betont, dass die Misogynie auch eine antidemokratische Tendenz hat: "Männer wie Andrew Tate behaupten, der Mensch befinde sich mit allen anderen Menschen in einem permanenten Kriegszustand. Demnach denken sie Beziehungen zu anderen Menschen ausschließlich instrumentell und zelebrieren daher hemmungslos ihre eigene Rücksichtslosigkeit.' Kracher betont, dass dieses Ideal starke antidemokratische Tendenzen hat: 'Innehalten, Reflexion und Selbstzweifel haben hier keinen Platz. Das ist auch eine Gefahr für unsere Demokratie.'"
Archiv: Gesellschaft