Dan Michman

Angst vor den 'Ostjuden'

Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust
Cover: Angst vor den 'Ostjuden'
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
ISBN 9783596182084
Taschenbuch, 288 Seiten, 14,99 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Udo Rennert. Die Nazis haben bereits vor Beginn des Ostfeldzuges gegen die Sowjetunion allein bei der Eroberung von Polen 2,5 Mio. Juden (d.h. fünfmal so viele wie im Deutschen Reich) vorgefunden. Gleich nach der Besetzung des Landes im September 1939 begannen sich Ghettos auszubreiten, die schließlich zum Symbol für jüdisches Leben während des Holocausts werden sollten. Über die Ursachen für die Entstehung von Ghettos in den besetzten Ländern ist bislang kaum geforscht worden. Warum griffen die Nationalsozialisten auf die historische Bezeichnung Ghetto zurück? Warum nahm sie in der Verwaltungspraxis der Deutschen höchst unterschiedliche Bedeutungen an? Wie veränderte sich die Bezeichnung während des Holocausts, und welche Funktionen hatten die Ghettos? Warum blieb das Phänomen nahezu ausschließlich auf Ost(mittel)europa begrenzt?
Der Autor zeigt, dass die von den Nazis errichteten Ghettos eine Reaktion auf die Wahrnehmung der polnischen Juden als besondere Gefahr ( schädlicher Einfluss , Pestbeulen ) gewesen ist, die man durch Absonderung einzudämmen trachtete. Die Ghettos waren das Ergebnis der Verinnerlichung extrem antisemitischer Feindbilder als Folge eines antisemitischen Wahns (Michman), der den beflissenen Dienern des NS-Regimes vor Ort geradezu grenzenlose Handlungsspielräume eröffnete. Die neuen Ghettos trugen zur Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik bei und wurden zu Stätten entsetzlichen Leidens und hohen Todesraten. Gleichwohl waren sie anders, als dies die meisten Historiker bislang angenommen haben , keine Vorstufe der Endlösung der Judenfrage , die ab 1941 Millionen von Juden das Leben kostete.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.2011

Dan Michmanns Studie über "Die Entstehung der Ghettos" hat die Rezensentin Marie-Janine Calic komplett überzeugt. Anders als die ältere Forschung zum Thema betrachte Michmann die Errichtung der osteuropäischen Judenbezirke nicht als unausweichliche Vorstufe einer bereits in Planung befindlichen Totalvernichtung der Juden. Denn die Einrichtung von Ghettos seit 1939 sei aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen heraus erfolgt. Für ein "umfassendes Programm zur Internierung der gesamten jüdischen Bevölkerung" existiere jedenfalls kein einziger Beleg. Im Gegenteil waren es die Entscheidungsträger mittleren und niederen Rangs am jeweiligen Ort, die meist aufgrund ihrer antisemitischen Überzeugungen handelten, berichtet die Rezensentin. Für das Projekt "Endlösung" erwiesen sich die Ghettos letztlich dennoch als "monströs funktional", schreibt Calic; nur seien sie eben nicht von Anfang an daraufhin angelegt worden.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 20.08.2011

Verdienstvoll findet Rezensent Carlo Moos diese Studie über Entstehung und Funktion der NS-Ghettos, die Dan Michman vorgelegt hat. Er attestiert dem Historiker, das in der Holocaust-Forschung vorherrschende Bild der von den Nationalsozialisten betriebenen Ghettos zu korrigieren und zu einem komplexeren Urteil zu kommen. So zeige Michman den "verschlungenen und oft improvisierten" Weg zur Einrichtung der Ghettos, die zwar eine Verschärfung der "Judenpolitik" bedeuteten, nicht aber als Vorstufe zur "Endlösung" gedacht werden könnten. Für Michman sind die Ghettos Ausdruck der auf "Reinheit" bedachten Deutschen, die sich vor dem "Schmutz" der "Ostjuden" in den schon bestehenden Ghettos fürchteten. Moos schätzt die klare Struktur und die gute Darstellung des überzeugend dokumentierten Werks. Trotz auch einiger Einwände zieht der Rezensent das Fazit: eine Studie, die eine neue Perspektive auf die NS-Ghettos eröffnet.
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