Hans-Ulrich Wehler

Deutsche Gesellschaftsgeschichte

Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949
Cover: Deutsche Gesellschaftsgeschichte
C.H. Beck Verlag, München 2003
ISBN 9783406322648
Gebunden, 1173 Seiten, 44,90 EUR

Klappentext

Der vierte Band der großen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" behandelt die Epoche von 1914 bis 1949, umspannt also die beiden Weltkriege, die Zerstörung der Weimarer Republik, die Führerdiktatur Hitlers, den Holocaust und die Nachkriegsjahre bis zur Gründung der beiden deutschen Neustaaten. Erneut werden Wirtschaft und Sozialstruktur, politische Herrschaft und Kultur als die dominierenden Dimensionen der deutschen Gesellschaft in ihrer historischen Entwicklung analysiert.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 01.11.2003

Hans-Ulrich Wehlers Deutung des Nationalsozialismus, die er im vierten Band seiner "monumentalen" deutschen "Gesellschaftsgeschichte" vorlegt, hat Hans Mommsen nicht immer hundertprozentig überzeugt. In einer ebenso umfangreichen wie sachlich-nüchternen Besprechung referiert Mommsen detailliert Thesen und Argumente Wehlers, um hier und da kritische Einwände anzubringen. Er hebt hervor, dass Wehler der NS-Zeit eine Sonderstellung einräumt, da er ihr ein Primat der politischen Prozesse zugesteht. So stelle er die NS-Herrschaft in einen engen Zusammenhang mit dem durch den ersten Weltkrieg und die Niederlage verschärften "Radikalnationalismus." Hinter Wehlers "relativ zugespitzter" Darstellung der Weimarer Republik erblickt Mommsen das "herkömmliche Bild" der Republik, die zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus zerrieben wird. Bisweilen erscheint ihm Wehlers Bild der Weimarer Verhältnisse ein wenig "zu chaotisch". Ausführlich setzt sich Mommsen mit Wehlers Interpretation von Hitler als "charismatischem Führer" und Individuum von "universalhistorischer Bedeutung" auseinander. Ob diese "personalistische Deutung" das Ausmaß an Zerstörung, das das NS-Regime entfachte, begreiflich machen kann, hält Mommsen für fraglich. Auch Wehlers These von einer fortschreitenden "Entstrukturierung des deutschen Regierungssystems", die zur Bildung einer auf den Führer zugeschnittenen, rationalen "NS-Staatlichkeit" scheint Mommsen kaum haltbar. Bedauerlich findet er schließlich, dass Wehler die von der jüngeren Forschung herausgearbeitete Rolle der lokalen und regionalen Potentaten des Regimes übergeht.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.10.2003

Als "grandioses Werk" preist Rezensent Volker Ullrich den nun vorliegenden vierten Band von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte". In einer ausführlichen Besprechung würdigt er zunächst einmal die vorangegangen Bände, die zu Recht als Ereignis gefeiert worden seien. Ullrich hebt hervor, dass Wehler den Vorrang der Gesellschaftsgeschichte gegenüber den historischen Kulturwissenschaften verteidigt, zugleich aber bemüht ist, Anregungen der Konkurrenzdisziplin aufzunehmen und in sein Konzept zu integrieren. Wobei das Grundgerüst, die Gliederung des Stoffs in die vier Grunddimensionen Wirtschaft, Sozialstruktur, politische Herrschaft und Kultur, geblieben sei. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes sieht Ullrich die Frage nach den Ursachen des faschistischen Zivilisationsbruchs in Deutschland gestellt. Dabei knüpfe Wehler an das Konzept der "Historisierung des Nationalsozialismus" an. Unter diesem Gesichtspunkt findet Ullrich schon das Kapitel über die mentalen und gesellschaftlichen Umbrüche während des Ersten Weltkrieges sehr "aufschlussreich". Die Weimarer Republik betrachte Wehler keineswegs nur unter dem Gesichtspunkt des Scheiterns. Ullrich hebt hervor, dass Wehler dabei nicht nur mit der Rechten, sondern auch mit der Linken scharf ins Gericht geht. Ohne in alte, Hitler-zentrierte Interpretationen zurückzufallen, stelle Wehler die Bedeutung Hitlers für den Nationalsozialismus heraus. Ullrich hält fest, dass auch der vierte, wiederum analytisch und problemorientiert angelegte Band "keine leichte Kost" ist und dem Leser "beträchtliche intellektuelle Anstrengungen" abverlangt. Den Ton der Darstellung charakterisiert er als "gleichbleibend rational-kühl" und nur gelegentlich "polemisch-sarkastisch". Alles in allem lobt Rezensent das Werk als "eines der bedeutendsten der deutschen Geschichtswissenschaft der letzten Jahre".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 08.10.2003

Trotz "all der Widersprüche", die der Band provoziere und "bis zu einem gewissen Grad" auch selbst enthalte, steht für Richard J. Evans am Ende seiner sehr ausführlichen Besprechung doch außer Frage, dass es sich hier um eine "Meisterleistung deutscher Geschichtsschreibung" handelt. Denn "fast zu jedem Punkt", den er behandelt, habe Wehler "etwas Anregendes und Originelles" zu sagen. Wie immer beeindrucke Wehler außerdem durch "die Klarheit seiner Thesen", die "Beherrschung einer enormen Fülle an Literatur", durch seine "gekonnten Zusammenfassungen von Ereignissen und Interpretationen" und seine "scharfen und entschiedenen Urteile". Außerdem hat den Rezensenten Wehlers "durchgehendes und unermüdliches Bedürfnis" beeindruckt, "zu erklären und zu interpretieren" - besonders, weil heute viele Historiker anscheinend nur noch daran interessiert sind, wie Evans schreibt, "moralische Urteile über die Vergangenheit" abzugeben, obwohl doch die "Hauptaufgabe" des Historikers für unseren Rezensenten darin besteht, "zu verstehen". Was die vielen Widersprüche angeht, in die Wehler sich nach Ansicht von Evans verstrickt, so kann man wohl sagen, dass sie sich für den Rezensenten, der dies mit vielen Beispielen belegt, fast alle und im wesentlichen aus dem Umstand ergeben, dass Wehlers "Versuch, den Aufstieg des Nationalsozialismus primär durch den Rückgriff auf die Kontinuitäten der deutschen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert" zu erklären, in diesem Band an seine Grenzen gerät.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 08.10.2003

Als "Meisterwerk" betitelt Micha Brumlik diesen vierten Band von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte. Dieser sei klar und informativ geschrieben, "verständlich und urteilsfreudig" und beinhalte zudem auch plausible und nützliche theoretische Weiterentwicklungen. Der einzige Vorwurf, den der Rezensent Wehler zu machen hat, ist der, dass dieser den Holocaust einzig auf Hitler zurückführe, die führende Rolle der deutschen Wissenschaftler dabei allerdings vernachlässige. Das Motiv für diesen Fehler scheint Brumlik ein apologetisches zu sein: Wehler ist seinem Lehrer Theodor Schieder verbunden, dessen Rolle im Dritten Reich keine ruhmreiche war. Trotz der Erwähnung dieser Schwäche betont der Rezensent jedoch unermüdlich die Vorzüge dieses Bandes und legt ihn allen Politikern und Pädagogen eindringlich ans Herz.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 06.10.2003

Ulrich Herbert hat Hans-Ulrich Wehlers vierten Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" gelesen, und er hat viel zu sagen. Gegenstand des Bandes, referiert der Rezensent, ist die Zeit von 1914 bis 1949, gegliedert in drei "auch separat lesbare" Teile: Erster Weltkrieg, Weimarer Republik und NS-Diktatur. Innerhalb der Teile folge Wehler seinem "Grundschema" - "Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaft, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft, Kultur" -, setzte aber in diesem Band stärkere politische Akzente. Und wieder einmal, schwärmt der Rezensent, erweist sich Wehler als "Meister der strukturierten Problemanalyse", der wie kein anderer deutschsprachiger Historiker in der Lage ist, "auch komplizierte historische Problemlagen präzise und kühl auf die zugrundeliegenden Kernfragen zurückzuführen". Nach einem "höchst plausiblen" ersten Teil, und dem Weimarer "Hexenkessel", bei dem der Rezensent allerdings eine intensivere Beschäftigung mit dem "Laboratorium" der Moderne vermisst, setze Wehler zu einer "veritablen Gesamtdarstellung des Dritten Reiches" an, die er als ganz auf die Person Hitlers gemünzte Entwicklung begreife. Dies allerdings missfällt dem Rezensenten. Er findet diese Herangehensweise stark einseitig und reduzierend, zumal es auch anderswo, etwa im zeitgenössischen Italien und der Sowjetunion, totalitaristische Diktaturen gegeben habe. Die abschließende "Parallelschaltung", die Wehler zwischen den Figuren Hitler und Bismarck vornimmt, als messianische Erlöserfiguren, sei angesichts der im frühen Kaiserreich und in der NS-Zeit sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten unhaltbar, eine "reduktionistische Verengung der Geschichte". Wehlers "multiperspektivisch" begonnene Arbeit verliert mit zunehmender Synthese an "Überzeugungskraft" und verwechselt Geschichte mit "Eindeutigkeit", findet Herbert.
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