Sorj Chalandon

Am Tag davor

Roman
Cover: Am Tag davor
dtv, München 2019
ISBN 9783423281690
Gebunden, 320 Seiten, 23,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Brigitte Große. Der Tag vor der Katastrophe: Der 16-jährige Michel fährt mit seinem geliebten großen Bruder Joseph auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Gemeinsam fühlen sie sich unbesiegbar. Am Tag darauf kommen bei einem Grubenunglück 42 Bergmänner aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung ums Leben - Joseph stirbt infolge seiner Verletzungen. Michel flüchtet sich nach Paris, auch um die Worte des Vaters zu vergessen: "Du musst uns rächen!" Sein Schmerz aber vergeht nicht, und so beginnt Michel Jahre später einen Rachefeldzug. Noch weiß er nicht, dass die Nacht vor dem Unglück anders war, als er es in Erinnerung hat.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.2019

Weshalb Sorj Chalandon in Frankreich mit den höchsten Preise ausgezeichnet, beziehungsweise für diese nominiert wurde, will sich Rezensent Niklas Bender nicht ganz erschließen: Zu "kurzatmig" und pointenfixiert erscheint ihm dessen Stil, zu "linear-schlicht" die Handlung, zu deutlich das Setting. Dass Chalandons neuer Roman zu alledem auch noch "rührselig" ist, hält Bender dennoch nicht davon ab, eine Leseempfehlung auszusprechen: Zum einen, weil sich der Autor hier jenen Menschen widme, die durch miserable Arbeitsbedingungen oder Unglücke in den Kohleminen in den Siebzigern im Norden Frankreichs umkamen. Davon erzählt Chalandon gut recherchiert und fesselnd, meint der Kritiker. Zum anderen, weil der Autor das Grubenunglück, in Folge dessen seine Hauptfigur zum Mörder wird, im zweiten Teil des Romans differenziert beleuchtet, alle gesicherten Annahmen auf den Kopf und Fragen nach der Verantwortung stellt, so Bender. Auch wenn der Rezensent diesen Roman nicht unbedingt in einem Atemzug mit Emile Zolas Bergbauroman "Germinal" nennen möchte, lobt er den Autor doch dafür, dass er hier eine heikle ethische Problematik aufdeckt.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 10.07.2019

Glänzend gelungen findet Rezensent Jürgen Ritte, wie Sorj Chalandon das schwere Grubenunglück in der Zeche von Saint-Amé literarisch verarbeitet. Chalandon verbindet in seinem Roman die Hommage an die Grubenarbeiter, mit einer spannenden Erzählung und einer komplexen Reflexion über Schuld und Erinnerung. Ritte kennt sich gut aus und bietet viel Hintergrund: Bei dem Unglück waren 42 Kumpel am 27. Dezember 1974 ums Leben gekommen, ihre Witwen haben in einem ausgesprochen zynischen Akt von der Bergwerksleitung Lohnabrechnungen bekommen, bei denen drei Tage abgezogen waren. Nach jahrelangen Protesten sprach ein Gericht der Betreibergesellschaft die Verantwortung für das Unglück zu. Chalandon, weiß Ritte, war damals noch nicht der große Kriegsreporter, der er heute ist, sondern Layouter bei Libération. Wie er heute dieses Kapitel verarbeitet, bewundert der Rezensent ebenso wie die nuancierte Übersetzung von Brigitte Grosse.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 14.06.2019

Sorj Chalandons Roman "Am Tag davor" handelt von Michel Flavent, der den Tod seines Bruders Joseph verschuldet hat und diesen Umstand nie verwinden kann, erzählt Rezensentin Dina Netz. Dass er den fiktiven Joseph als Minenarbeiter aus Liévin entwirft, gibt dem Autor der Kritikerin zufolge Gelegenheit, neben der, wie sie findet, anrührenden Geschichte über Schuld auch eine Hommage an die 42 Bergbauarbeiter zu verfassen, die am 27. Dezember 1974 tatsächlich bei einem Grubenunglück in Liévin ums Leben kamen. Netz empfindet diese Mischung aus politisch engagiertem Text, der gegen das Vergessen eines aus Profitgier entstandenen Unglücks anschreibt, und tragischer Familiengeschichte äußerst gelungen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 06.05.2019

Carolin Fischer ist tief bewegt von Sorj Chaladons Roman über das Grubenunglück vom Dezember 1974 im nordfranzösischen Lievin. Wie der Autor den kleinen Bruder eines Opfers die Erinnerung an das Unglück und die Verantwortlichen wachhalten und schließlich Rache üben lässt, scheint Fischer literarisch packend, politisch und alles andere als plakativ oder pathetisch. Die Langsamkeit, mit der der Autor dem Leser das Innenleben des Icherzählers erschließt, findet die Rezensentin bemerkenswert. Seinem Prozess im zweiten Teil, der die Wahrheit Stück für Stück enthüllt und soziale Spannungen offenbart, wohnt sie mit Bewegung und Spannung bei.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 27.04.2019

In Sorj Chalandons Roman geht es laut Rezensentin Cornelia Geissler um einen Jungen, dessen älterer Bruder 1974 bei einem Grubenunglück ums Leben kommt. Der Ärger darüber, dass dieses Unglück allein der Profitgier der Kohlemagnaten anzulasten ist, die die Sicherheit ihrer Arbeiter zugunsten von Ersparnissen vernachlässigten, wird zum Fliehpunkt aller Gedanken des Protagonisten, der die Ereignisse Jahrzehnte später wieder aufrollt, erzählt die Kritikerin. Geissler findet sehr gekonnt, wie Chalandon zuerst das Mitgefühl seiner Leser für seinen Protagonisten einfordert, um es dann auf die Probe zu stellen. Außerdem hat er in ihren Augen mit seinem Roman "ein Denkmal für eine vergessene Arbeitswelt" gesetzt, denn das Unglück gab es ihr zufolge wirklich.