Thomas Hürlimann

Fräulein Stark

Novelle
Cover: Fräulein Stark
Ammann Verlag, Zürich 2001
ISBN 9783250600756
Gebunden, 192 Seiten, 19,43 EUR

Klappentext

Ein 13jähriger Junge verbringt bei seinem Onkel den Sommer, bevor er in eine strenge Klosterschule eintreten muss. Der Onkel, ein wunderbar erzählter Büchermensch, ist Prälat und Monsignore. Er leitet als Bibliothekar die im ganzen Abendland berühmte Stiftsbibliothek von St. Gallen, während seine Haushälterin das katechismusfromme Fräulein Stark, des Lesens und Schreibens nicht sattelfest kundig, mit eisernem Szepter die Aufsicht über den Buben führt. Während der Ausübung seines Amtes als Pantoffelministrant, vor den Füßen der Besucherinnen kniend, merkt der vorlaute Junge, dass er über eine Nase verfügt, einen Riecher, der immer mehr von ihm Besitz ergreift und seine Phantasie, seinen Eros in Gang setzt. Nicht unbemerkt von Fräulein Stark ...

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.08.2001

Für eine Schlüsselerzählung hält Hans-Herbert Räkel diese "abgründige Novelle" nicht, auch wenn Ähnlichkeiten nicht zufällig sind und der ehemalige Stiftsbibliothekar von St. Gallen, Johannes Duft, sich im Onkel des Erzählers wiedererkannt und sogleich lautstark Protest angemeldet hat. Doch wertet der Rezensent die Erzählung über den 12 jährigen Protagonisten, der einen Sommer bei seinem Onkel in der Klosterbibliothek verbringt und dort so etwas wie die "Vorschule der Erotik" absolviert, als eine weitere Probe des schweizerischen Autors für seine Erzählweise der "scheinheiligen Erfindung". Denn, so der Rezensent, Hürlimann geht es darum, die "skandalöse Wurzel in der privaten und öffentlichen Wirklichkeit" zu zeigen, die im "kollektiven Bewußtsein" liegt. Die Novelle decke die "Geheimnisse des Geschlechts", die der jugendliche Protagonist während dieses Sommers erfahre, in seiner doppelten Bedeutung auf, und weise auf antisemitische Tendenzen in der Schweizer Geschichte hin, die gern verschwiegen würden. Räkel preist dann auch die Stellen des Buches als die "schönsten" und berührendsten, die sich mit der jüdischen Familie der Mutter der Hauptfigur und deren "schmerzlicher helvetischer Integration" beschäftigen.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.08.2001

Das alte Lied vom Erwachsenwerden, aber amüsant. Und skandalös, weil der Autor tüchtig Schlüssel verteilt, zu Orten und Figuren, so dass man leicht Fiktion und Realität miteinander in Verbindung bringen kann, wie Evelyn Finger schreibt. Ja, es gibt sogar bereits einen "Anti-Hürlimann" zu diesem Werk. Aufgeregte Bemerkungen und Berichtigungen eines Betroffenen. Aber berechtigt? Und wie! meint Finger. Zu spitz sei die Feder des Autors, zu wenig schmeichelhaft die Porträts. Auf die poetische Technik Hürlimanns allerdings lässt die Rezensentin nichts kommen: Da wird die stilistische Üppigkeit des Barock verbunden mit dem Gefühlspathos der Romantik, die kühnen Perspektivwechsel der Moderne mit neusachlicher Lakonik, altmodische Zitatenseligkeit mit spöttischer Verfremdung. "Die Novelle als ein Lob der Frechheit", auch in dieser Hinsicht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 02.08.2001

Ursula März schreibt von einer "stilistisch und erzählerisch meisterhaft verfassten Novelle". Sie geht besonders auf den durch die Novelle hervorgerufenen kleinen Skandal ein, da der Autor reale Personen beim Namen nennt. Der Schlüsselcharakter Fräulein Stark, heißt auch im wirklichen Leben Fräulein Stark, was März angesichts der fiktiven Namen der anderen Personen etwas fragwürdig findet. Gerade weil der Autor ein "klassischer Erzähler" sei, welcher sich in "traditionellen Formen" bewege, wozu eben auch die Verwendung fiktiver Namen gehöre. Der Held der Geschichte, ein 12-jährige Junge, hat in der Geschichte die Aufgabe, den Besuchern der Bibliothek kniend Filzpantoffeln überzuziehen. Für März geht es dabei nicht um pubertären Voyeurismus und den Beginn erotischer Reifung, sondern der Junge wolle sich "ver- und zurückkriechen" und in eine Art embryonales Stadium begeben. Es handele sich um eine "symbolische Regression". Mit Spuren und Zeichen, die darauf hindeuten sei der Text "geradezu übersät". Ursula März lobt die Novelle als ein "Musterbeispiel ödipaler und damit unfreier Erzählhaltung und Erzählermentalität". Aber sie bemängelt, dass der Autor in seinem Stoff wie in einem "uteralen Kosmos" steckt und ihn das beschränke und seine literarische Souveränität behindere.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 26.07.2001

Thomas Hürlimann lässt die Zeit stillstehen. Zumindest für einen Sommer, den er als Junge bei seinem Onkel in einer Stiftsbibliothek in der katholischen Innerschweiz verbracht hat, berichtet Roman Bucheli. Den kontemplativen Aufenthalt nutzt der Junge zur Selbsterfahrung, auch zur sexuellen, denn als Pantoffelministrant hat er Gelegenheit, manchmal einen Blick unter die Röcke der Klosterbesucherinnen zu werfen. Für den Rezensenten hat die Novelle - angelegt eigentlich als rite de passage - etwas von einer "barock-deftigen" Burleske. Die Geschichte des Ich-Erzählers kommt Bucheli bekannt und neu zugleich vor, geht es doch um eine Entwicklung, die jeder Mensch vollziehen muss: Die missliche Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, die allzu oft verdeutlicht, dass das Erwachsenenleben weniger verheißungsvoll ist als angenommen. Schade findet der Rezensent, dass sich Hürlimanns Onkel in der Novelle derart entstellt fand, dass er eine zehnseitige Erklärung gegen die literarische Version verfasste und somit die für Bucheli zweifellos lesenswerte Lektüre zur Provinzposse degradierte.