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Biografien

Dies ist eindeutig das Jahr der großen Biografien. Beginnen wir mit dem spektakulärsten Buch: Bernard-Henri Levys Sartre-Biografie. Gefeiert haben es alle. Richard Herzinger (Zeit) hat sich von Levys Begeisterung mitreißen lassen. Ludger Heidbrink fragt sich in der NZZ nach der Lektüre, ob die Epoche Sartres nicht gerade erst begonnen habe. Jürg Altwegg konstatiert in der FAZ als Folge des Buchs eine Sartre-Renaissance in Frankreich. In der FR bewundert Thomas Macho, wie Levy Sartres Widersprüchlichkeit sowohl "vielgestaltig" als auch "individuell" innerhalb ideen- und literaturgeschichtlicher, sozialer und politischer Prozesse darstellt. Einmütig bewundert (FAZ vielleicht ausgenommen) wird Levys zupackende, temporeiche und "hervorragend lesbare" (FR) Rhetorik. Erstaunlich dann aber, dass sich außer Wolf Lepenies in der SZ niemand mit den Thesen Levys auseinandersetzen mochte! Lepenies zeichnet zwei Beweggründe für die plötzliche Sartre-Begeisterung Levys nach: Da ist einmal der immer noch vakante Platz des kühnen jungen Mannes, der aus der Philosophie eine Lebenskunst gemacht hat, die auch die Straße erreichte - insofern sei das Buch "Autorenrettung und verborgene Autobiografie". Und dann vergleiche Levy, der einst als einer der nouveaux philosophes mit den ungeheuren Irrtümern des maoistischen Sartre aufgeräumt hatte, Sartre mit Heidegger: Bei beiden lasse sich der Philosoph nicht vom politisch denkenden und handelnden Menschen trennen. "Kann man zugleich der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts und ein Nazi sein?" fragt Levy am Beispiel Heidegger und meint: Ja! Lepenies, so scheint es, kann mit dieser Auffassung leben.

Mit Lob bedacht wurde auch Stefan Rebenichs Biografie über Theodor Mommsen. Die Rezensenten begrüßen, dass Rebenich die "unschönen Flecken in Mommsens Charakter nicht übermalt" (NZZ) hat und seinen Verdiensten dennoch gerecht wird. Nur die taz hätte sich eine "pointiertere These" gewünscht. Auch zwei politische Biografien wurden mit großer Zustimmung aufgenommen: Peter Merseburger übertrifft mit seiner Willy-Brandt-Biografie "all seine Vorgänger bei weitem", lobt die Zeit. Dem würden sich wohl die anderen Zeitungen (SZ, FAZ und FR haben das Buch groß besprochen) anschließen. Auch Norbert F. Pötzls Honecker-Biografie wurde als "erstes authentisches und gut erzähltes" (SZ) und "überaus faires" (Zeit) Buch gelobt. Hervorgehoben seien noch Ernst von Waldenfels' Biografie des Seemanns Richard Krebs, der als Doppelagent für Komintern und Gestapo spionierte, sowie zwei Firmenbiografien: Über "Krupp im 20. Jahrhundert" und "Die BASF".

Kulturgeschichte

Hier ist vor allem ein Buch über "Wunder und die Ordnung der Natur" von Lorraine Daston und Katherine Park zu nennen. Als es noch Wunder gab, haben sich die Menschen offenbar interessantere Fragen gestellt als heute: Können Basilisken mit Blicken töten können? Gibt es wirklich Völker, die jeden Seemann in seiner Landessprache ansprechen können, um ihn dann gut gewürzt zu verspeisen, oder Einhörner, die nur von Jungfrauen zu fangen sind? "Glänzend" findet die FR dieses Buch über Wunder und ihre Bedeutungsgeschichte. Die NZZ freut sich, dass bei aller komplexen Wissenschaftlichkeit durch die Fülle der Abbildungen auch eine Art Bilderbuch herausgekommen ist, das Lust zum Blättern macht. Und die Zeit interessiert besonders, wie Wunder "die Gunst der europäischen Hochkultur" verloren und zur Domäne der Ungebildeten wurden.

Eine Art Wunder schildert auch Fergus Fleming in seiner Geschichte von "Barrow's Boys". John Barrow war Zweiter Sekretär der Englischen Admiralität und rüstete, um die Langweile der britischen Seeleute nach dem Triumph bei Trafalgar zu vertreiben, unzählige Expeditionen aus, die alle im Desaster endeten. Die FAZ findet das interessant und spannend erzählt, die SZ war erst etwas betrübt, dass wirklich alle Expeditionen Barrows scheiterten, erlag dann aber dem "schwarzen Humor" Flemings. Gelobt wurden auch Kurt Mösers "Geschichte des Autos", Günter Erbes "enthusiastische" (NZZ) Schilderung der "Dandys" und Hansjörg Küsters "intellektuell vergnügliche" (SZ) Kultur- und Naturgeschichte der Ostsee.

Kunst und Musik

Lieben Sie Berlioz? Die Zeit macht auf einen Band aufmerksam, der die brillanten Musikkritiken des französischen Komponisten versammelt. Erst bei Shaw und Hanslick wurde Musikkritik wieder so witzig und scharfsinnig, schwärmt Volker Hagedorn, der an dieser Ausgabe nur eines zu bemängeln hat: Sie ist zu kurz. Hervorragend amüsiert hat sich auch Martin Mosebach, der für die SZ Wolfgang Kemps "Vertraulichen Bericht über den Verkauf einer Kommode und andere Kunstgeschichten" gelesen hat: Kemp beschreibe mit "überwältigend guter Laune" den Kunstbetrieb der Gegenwart. Hingewiesen sei noch auf die neue Gerhard-Richter-Biografie von Dietmar Elgar, Andreas Beyers vielgelobten Band "Das Porträt in der Malerei" und Andreas Praters "veritable Geschichte der Aktmalerei" (SZ) "Im Spiegel der Venus", von der die FAZ rühmt, sie sei "mit den Augen des Liebenden" geschrieben (was nur recht und billig ist).

Religion

Vorsicht, hier hat jemand selbst gedacht! Rene Girard konnte für seine kritische Apologie des Christentums "Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz" sowohl Lob als auch Kritik einfangen - meist in derselben Rezension. Für Girard steht der kollektive Mord am Anfang aller menschlichen Kultur: der Sündenbock zahlt mit seinem Tod für das "mimetische Begehren" der Menschen und stellt so- wenn auch unfreiwillig - den Frieden wieder her. Das Christentum war für Girard immerhin so fortschrittlich, nicht mehr dem Opfer Jesus Christus die Schuld an seinem Tod zuzuschreiben. Uwe Justus Wenzel bemängelt in der NZZ, dass Girard etwas zu "sehr auf eigene Faust" denkt und ohne die einschlägige Literatur auszukommen glaubt. Doch entziehen konnte er sich der "provozierenden Stärke" des Buchs nicht. Kurt Flasch bewundert in der SZ die "Originalität" und "muntere Empörung", mit der Girard gegen Ethnologen, Theologen, Philosophen, Soziologen anschreibe. Girards Tendenz zur Vereinfachung, wenn auch gelegentlich hochmütig, trage immerhin zur Eleganz seines Stils bei. Thomas Assheuer, der als "entspannter Zeitgeist" ohnehin alle Religion für "Fiktion" hält, begeistert in der Zeit die Strenge, mit der Girard die gegensätzlichen Gewaltbegriffe im antiken Mythos und der Bibel analysiert.


Wir haben die Oktober- und Novemberbeilagen der Zeitungen komplett ausgewertet. Alle Rezensionsnotizen - aufgelistet nach Zeitungen und Themen - finden Sie hier.