Bücher der Saison

Politische Bücher im Frühjahr 2019

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2019.
Literatur / Politische Bücher / Sachbücher

Zeitgeschichte

CoverEs gibt geradezu so etwas wie ein Genre der Saison, man könnte es "Archäologie der Gegenwart" nennen. Mehrere Autoren legen Bücher vor, die aus den letzten fünfzig bis siebzig Jahren Zeitgeschichte Material für einen Diagnose der Gegenwart sammeln.Ian Kershaws "Achterbahn - Europa 1950 bis heute" () ist viel gelobt worden, unter anderem von Historikerkollege Ulrich Herbert in der SZ. Laut Kershaw sind der angeblich abschätzige Umgang des Westens mit Russland in den 1990er Jahren, der "digitale Turbokapitalismus" sowie der Irakkrieg in Folge von 9/11 für alle Probleme Europas in der Gegenwart verantwortlich. Ob der britische Historiker so auch den Brexit erklären kann? Jedenfalls spielt auch der in dem Buch eine Rolle.

CoverCoverEine weitere Ableitung der Gegenwart aus zeithistorischen und kulturellen Obsessionen ist Frank Biess' "Republik der Angst - Eine andere Geschichte der Bundesrepublik" Der in San Diego lehrende Historiker weist darin nach, dass man eine deutsche Geschichte seit 1945 als eine Abfolge von Angstzyklen lesen könne. Auch dies anregend, konstatieren die meisten der zahlreichen Rezensenten. Aber eine etwas größere methodische Eingrenzung des Angstbegriffs hätte geholfen, meint etwa der Soziologe Tilman Allert in der SZ. Frank Böschs "Zeitenwende 1979 - Als die Welt von heute begann" () ist wirklich überall besprochen worden. Die Eindrücke sind überwiegend positiv - wir haben das Buch bereits im Bücherbrief von Februar vorgestellt. Zu nennen ist außerdem Harald Jähners "Wolfszeit - Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955" die allerdings keine direkte Linie in die Gegenwart zieht, sondern das Jahrzehnt von Schwarzmarkt bis Wiederaufbau vergegenwärtigt. Jähner, einst Feuilletonchef der Berliner Zeitung, hat für dieses laut Rezensenten unterhaltsame und lehrreiche Buch den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhalten.

Cover: Was genau war früher besser?88 Jahre ist Michel Serres und darum doppelt qualifiziert dieser retrospektiven Diagnostik etwas entgegenzusetzen, erstens weil er weit genug zurückblicken kann, zweitens weil er mit seinem notorischen Optimismus einen Gegenakzent zum allgemeinen Gejammer liefern kann. "Was genau war früher besser?" fragt er. Die Antwort liegt auf der Hand. Heute ist nicht alles gut, resümiert die beschwingte Rezensentin Maja Beckers den rasanten Ideenflug des Philosophen, aber es ist besser. Denn früher war es nicht besser, was nicht heißt, dass es künftig nicht schlimmer werden könnte. Darum habe Serres dieses anekdotenreiche Buch geschrieben, mit Witz und "mit französischer colère". Es erinnert sie ein bisschen an Steven Pinkers Aufklärungsoptimismus. Nur dass Serres wesentlich persönlicher schreibe. Alle Kritiker sind seltsamer Weise begeistert: So mitreißend ist das Büchlein, dass sie vergessen, wie sehr auch die Medien, in denen sie schreiben, für die grassierende Misslaunigkeit verantwortlich sind.


Postkolonialismus

CoverPostkolonialismus und Identitätsdebatten - Man kommt nicht drumrum. Um das Buch "Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche" () der britischen Journalistin Reni Eddo-Lodge ist eine bizarre kleine Debatte entbrannt. Einige Stimmen kritisieren, dass "Race" mit "Hautfarbe" und nicht mit "Rasse", oder wem das im Deutschen zu krude klingt, wenigstens mit dem glamouröseren "Race" übersetzt worden sei. Eddo-Lodge, die wochenlang auch durch deutsche Talkshows tourte, um Weißen zu erklären, warum sie nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spricht, antwortete in einem Interview in der taz: "Wenn die Verleger*innen mir .. sagen, dass 'race' im Deutschen direkt mit den Nazis assoziiert wird, dann vertraue ich ihnen natürlich." Ihr selbst schien also nicht bewusst zu sein, was in dem Begriff mitschwingt. Im Englischen sei der Begriff soziologisch grundiert - wobei man sich dann fragt, warum man einen biologischen Begriff benutzt. Für Eddo-Lodge ist "White Privilege" die Abwesenheit von Diskriminierung, das Konzept der Farbenblindheit eine Lüge, die strukturellen Rassismus kaschiere und Ausgrenzung allgegenwärtig, schreibt Rene Aguigah bei Dlf Kultur. Man bewegt sich hier in der Schwierigkeit, das Unsagbare ausdrücken zu müssen. "Wenn abschätzige Blicke, soziale Benachteiligung oder Gewalterfahrung in einem Leben systematisch nicht vorkommen, ist vermutlich White Privilege am Werk", so Aguigah. Für Weiße sei die Lektüre ungemütlich, verspricht auch Antonia Baum in der FAZ, denn das Buch "markiert einen über die Hautfarbe".

CoverCoverMit viel Interesse wurde auch Felwine Sarrs "Afrotopia" aufgenommen, vor allem wohl, weil Sarr zusammen mit Bénédicte Savoy der von Emmanuel Macron gegründeten Kommission zur Rückgabe von Kolonialkunst aus französischen Museen vorsteht. Aber sein Diskurs kommt bei den Kritikern nicht gut an. Selbst der Afrikawissenschaftler Andreas Eckert ist in der FAZ nicht überzeugt. Die Beschwörung einer "afrikanischen" Kultur, die die Differenzen innerhalb des Kontinents minimiert, erinnert ihn an den guten alten Panafrikanismus. Sehr scharf kritisierte Andreas Fanizadeh das Buch in der taz: Dass Sarr alle Widersprüche und Gegensätze in den vorkolonialen Gesellschaften unter den Tisch fallen lasse, macht den Kritiker fassungslos: Fehden unter den afrikanischen Völkern? Eine Mitschuld der Herrscherkasten an der Versklavung ihrer Mitmenschen? Das alles gibt es bei Sarr nicht, so der Kritiker. Genannt sei außerdem noch das von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebene Buch "Eure Heimat ist unser Albtraum" das in Selbsterfahrungsberichten den "Rassismus" gegen Deutsche türkischer Herkunft und andere mit Migrationshintergrund in Deutschland beklagt. Die Kritiker waren betroffen bis zwiespältig.


Feminismus

CoverUnd damit zu den feministischen Neuerscheinungen. Anders als der klassische Feminismus, der für universelle Werte eintrat, halten sich die Feministinnen der vierten Generation an Identitäten fest. Sophie Passmann erwartet sich in "Alte weiße Männer - Ein Schlichtungsversuch" ernstlich Aufschluss über das Geschlechterverhältnis, indem sie mehr oder weniger alten weißen Männern die Frage stellt, ob sie alte weiße Männer seien. Sie hat sich genau die richtigen Kandidaten von Ulf Poschardt bis Kai Diekmann ausgesucht und verteilt dann laut Judith Basad in der NZZ Zensuren: An Machos räche sie sich, den anderen verzeihe sie ihr Mannsein. Überhaupt zeigt sich bei dieser modischen Produktion der Verlage manchmal ein Gap: Die Kritikerinnen kritisieren solche Bücher, aber das heißt nicht, dass die Verlage deren Flut stoppen. Vielleicht kommen sie bei Influencern an. Dlf-Rezensentin Änne Seidel fand das Buch immerhin charmant. Sie habe Humor, Ironie und Denkanstöße bekommen.

Cover: Feminismus RevisitedCoverAuch bei der Autorin Erica Fischer, die sich in "Feminismus Revisited" () mit neuen Feministinnen auseinandersetzt, ist der Bruch vom Universalismus in die Identitätspolitik programmatisch. In ihrem Vorwort schreibt sie: "Sexismus kann nicht mehr ohne das Mitdenken von Rassismus, Islamhass und Homo- und Transfeindlichkeit diskutiert werden." Das Buch fand in der Kritik interessierte Resonanz, ebenso wie Kate Mannes Versuch, in "Down Girl - Die Logik der Misogynie" den Begriff "Misogynie" für ein der Geschichte zugrundeliegendes Prinzip zu definieren. Dieses Buch ist für die deutschen Kritikerinnen allerdings viel zu sehr auf die amerikanische Debatte zentriert. Svenja Flaßpöhler, selbst Feministin, erkannte in der Zeit auf totale Banalität und Geschichtslosigkeit. Kann es sein, dass die feministische Debatte schon größere intellektuelle Höhen erreicht hat?

Literatur / Politische Bücher / Sachbücher