Magazinrundschau - Archiv

Esprit

4 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 28.06.2022 - Esprit

Wer in Russland schreibt, dass der Zweite Weltkrieg im Jahr 1939 angefangen hat, riskiert Gefängnis. Allenfalls einige Blogger wagen das noch, schreibt Nicolas Werth, ein Historiker des stalinistischen Terrors (Mitautor des berühmten "Schwarzbuchs des Kommunismus") in Esprit, auf Englisch in Eurozine nachzulesen. Inzwischen wird die historische "Wahrheit" nach schlimmster Orwell-Manier in Verfassungsartikeln festgeschrieben. Darüber hinaus erließ das Regime "eine ganze Reihe von Erinnerungsgesetzen. Das bekannteste ist Artikel 354.1 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation, der die 'Leugnung oder Rehabilitierung des Nationalsozialismus' unter Strafe stellt. Auf den ersten Blick ähneln seine Klauseln den in anderen demokratischen Ländern verabschiedeten Gedenkgesetzen, doch in Wirklichkeit ist sein Anwendungsbereich viel weiter gefasst, da er auch die 'Verbreitung falscher Informationen über die Aktivitäten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs', die 'Verbreitung respektloser Informationen über die militärischen Ruhmestaten Russlands' und die 'Verunglimpfung von Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges' unter Strafe stellt." Stalinistische Verbrechen werden nicht unbedingt geleugnet, so Werth, aber entpersonalisiert, etwa durch Gesetze, die Akten unzugänglich machen. Und die Organisation Memorial, deren monumentale Arbeit Werth in seinem Artikel würdigt, ist verboten.

Magazinrundschau vom 15.06.2010 - Esprit

Die Verflüssigung der Information durch die Digitalisierung macht es noch schwieriger zu sagen, was ein Buch eigentlich ist, erklärt der Buchwissenschaftler und Herausgeber eines dreibändigen Dictionnaire encyclopedique du livre, Pascal Fouche (mit accent aigu) in einem Gespräch mit der linkskatholischen Zeitschrift Esprit. Aber schon vor dem digitalen Zeitalter war die Definition nicht ganz einfach - und sie kam in Frankreich erstaunlicher Weise um 1970 vom Finanzamt: "Das Buch ist ein auf Papier gedruckter Gegenstand, der dazu dient, Ideen zu verbreiten. Diese steuerliche Definition dient vor allem zur Festlegung des verringerten Mehrwertsteuersatzes (in Frankreich 5,5 Prozent). Darum ist eine Werbebroschüre von weniger als 48 Seiten kein Buch, ein Telefonverzeichnis ist kein Buch - und so weiter. Aber der Buchdruck ist in dieser Definition konstitutiv für das Buch. Darum profitieren die digitalen Dateien, die als 'Ebooks' verkauft werden, nicht vom verringerten Mehrwertsteuersatz." (In Deutschland gilt Ähnliches - das Esprit-Interview lässt sich auf Französisch bei Eurozine lesen.)
Stichwörter: Buchdruck, Digitalisierung, Ebooks

Magazinrundschau vom 17.10.2006 - Esprit

Marie Mendras schreibt für Esprit einen sehr kenntnisreichen, auf den 13. Oktober datierten Online-Kommentar über den Mord an Anna Politkowskaja. Sie warnt unter anderem davor, die sich jetzt verbreitende offizielle Version über die Täter zu glauben - demnach sei der Mord von streitenden tschetschenischen Fraktionen zu verantworten. "Diese Version hätte den doppelten Vorteil, dass man einerseits den Feind Nummer 1 auslöscht und den Mord andererseits den Tschetschenen gleich welcher Fraktion in die Schuhe schieben kann. (...) Es wäre unerträglich, wenn diese sich abzeichnende offizielle These vom russischen Publikum, das dem Fernsehen ausgeliefert ist, und den europäischen Regierungen, die es sich nicht mit Putin verderben wollen, geschluckt würde. Nein, Anna Politkowskaja ist kein Opfer einer Abrechnung unter Tschetschenen. Misstrauen wir angeblichen Schuldigen, die jetzt aus dem Hut gezaubert werden könnten. Der Mord an Anna Poltikowskaja ist eine politische Tat."

Auch das Editorial der Zeitschrift ist freigeschaltet, das sich in diesem Monat noch einmal mit den Unruhen in den Banlieues vor einem Jahr befasst.

Magazinrundschau vom 01.08.2006 - Esprit

Die sehr verdienstvolle linkskatholische Monatszeitschrift Esprit präsentiert sich seit einigen Wochen mit neuer Internetadresse. Einige Artikel werden sogar freigestellt. In der neuesten Nummer (Inhalt), deren Dossier vom Terrorismus und seiner Bekämpfung handelt, schreibt Olivier Mongin auch einen langen Nachruf auf Serge July, der seine Zeitung Liberation auf Geheiß des neuen Besitzers Edouard de Rothschild verlassen musste. Mongin würdigt unter anderem die auf July zurückgehende Ästhetisierung des Journalismus, die Liberation zu einer sehr neuartigen Zeitung machte: "Die Hinwendung zur neuen Ausdrucksweisen wie der Fotografie, das Interesse für die Mode, die Zusammenarbeit mit Künstlern oder 'Kreativen' sind von der journalistischen Utopie, die July immer wieder ins Spiel brachte, nicht zu trennen: die Utopie von der 'totalen Zeitung'. Die 'totale Zeitung' ist der Traum eines täglichen Magazins, das alle zeitgenössischen Formen von Bild und Text integriert und damit provoziert. Die totale Zeitung ist eine ästhetische, intellektuelle und politische Relaisstation, eine organische Synthese, ein Gipfel an journalistischer Vielfalt. Aber diese Utopie ist an der Realität zerbrochen."
Stichwörter: Ästhetisierung, Rothschild